Читать книгу Das ›Dritte Reich‹ 1933–1945 - Группа авторов - Страница 11
Gedanklicher Hintergrund der Nationalsozialisten: Alt-Europa und Deutsches Reich im 19. Jahrhundert
ОглавлениеBislang wurde der NS-Staat als Produkt des Ersten Weltkrieges vorgestellt, ausgerichtet auf ein an eine Wiederaufnahme des Krieges geknüpftes Rasse- und Raumprogramm. Ergänzend hinzuzufügen ist, dass dieses trotz aller Wucht der gedanklichen Impulse des Ersten Weltkrieges nicht hinreichend war, um die im Kern zivile Denktradition Deutschlands und Europas aus den Angeln zu heben. Die Nationalsozialisten bedienten sich vielmehr weiterer Impulse, die ihrem Denken Durchschlagskraft gaben, und schöpften diese aus Rückgriffen auf politische Entwicklungen und geistige Strömungen des 19. Jahrhunderts. Hier setzen nun große Schwierigkeiten für die Präsentation des politischen Denkens im „Dritten Reich“ ein. Die Vielfältigkeit des historischen Geschehens im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und fundamentale Geschichtsklitterungen der Nationalsozialisten erschweren ein Erfassen der maßgeblichen Traditionen ungemein. Diese Einleitung will daher vornehmlich einen historischen Rückblick liefern, der – bei Querverweisen zur NS-Zeit – Grundlagen und Offenheit schafft für ein Kennenlernen der Gedankenwelten 1933–1945. Präsentiert wird hiermit so viel Unmenschliches, was letztlich unfassbar ist, dass trotz aller Anstrengungen ein intellektuelles Verstehen nicht selten unmöglich bleiben wird, von einem moralischen ganz zu schweigen. Speziell für den historischen Rückblick ergibt sich die Gefahr, dass bei Konzentration auf das Werden der NS-Weltanschauung geschichtliche Fehlentwicklungen im Mittelpunkt stehen und ein außerordentlich düsteres Bild ergeben. Demgegenüber ist zu betonen, dass Deutschlands Geschichte keineswegs zielgerichtet den NS-Staat mit Auschwitz ansteuerte. So gab es in der Weimarer Zeit trotz bisweilen anders lautender Thesen Chancen für ein Überleben der Republik. Sogar um die Jahreswende 1932/33 gab es noch Hoffnungen, dass Deutschland und der Welt eine Hitlerdiktatur erspart bleiben würde.12
Auch ein Blick zurück auf das Deutsche Reich Bismarckscher Prägung im 19. Jahrhundert lässt nicht erahnen, dass Deutschland Jahrzehnte später in die Katastrophe „Drittes Reich“ gesteuert und erst 1949 oder nach an derer Rechnung gar erst 1989/91, mit Gründung oder Ausweitung der Bundesrepublik Deutschland, endgültig in die Reihe friedfertiger und demokratischer Staaten eintreten würde. Die Geschichte zeigt Deutschland vielmehr als geachtetes Mitglied eines fünf Großmächte umfassenden europäischen Staatensystems, dessen vergleichsweise großer Nutzen für seine Menschen unübersehbar war. Diese Staatenordnung war im Kern lange Zeit auf Solidarität und Frieden ausgerichtet, einen Krieg nur für den extremen Notfall einkalkulierend, wobei von einer Eroberungswut oder gar von Weltherrschaftsambitionen einzelner keine Rede sein konnte. Europa, mit einem eher rückschrittlichen Osten und einem stärker fortschrittlichen Westen bildete zudem eine heute vielfach verkannte politische, wirtschaftliche und kulturelle Einheit, geprägt von konstitutionellen Monarchien mit Trends zur Parlamentarisierung und Demokratisierung. Trotz gewisser militär- und obrigkeitsstaatlicher Traditionen fiel Deutschland keineswegs aus dem Rahmen, war vielmehr ein relativ moderner Rechtsstaat, mit einem alles andere als einflusslosen Reichstag, gestützt auf Parteien mit breiter Basis und auf eine blühende Presse und Publizistik. Seine soziale Ordnung ließ viele Wünsche offen, war aber für die Zeit eher vorbildlich. Ein teilweise durchaus nicht mehr bescheidener Wohlstand des Volkes nahm dank der Tüchtigkeit der Menschen in heimischer Produktion bei florierendem Welthandel zu.
Viele Kenner des 19. Jahrhunderts mögen diese Kennzeichnung als entschieden zu positiv kritisieren.13 Doch scheint der Traum der Nationalsozialisten, die fast alle im Kaiserreich herangewachsen und politisch sozialisiert waren, von ihrer angeblich heilen, in Wahrheit Unheil bringenden Welt nicht zuletzt von einer verdeckten und verfremdeten Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ vor dem Ersten Weltkrieg ausgegangen zu sein. Zudem dürften sich auch allzu viele Deutsche den Nationalsozialisten ausgeliefert haben, um einen Ersatz für besagte gute alte Zeit zu bekommen.