Читать книгу Das ›Dritte Reich‹ 1933–1945 - Группа авторов - Страница 14
Orientierungsdefizite und strukturelle Probleme des Deutschen Reiches: großdeutsche, nationalistische und völkische Tendenzen
ОглавлениеIn das Schema der internationalen Politik fügte sich die spezifisch deutsche Krisensituation der Jahrhundertwende ein. Das erst 1870/71 als Nationalstaat gegründete Deutsche Reich besaß keine verfestigte Tradition, verfügte immerhin aber dank seines von Bismarck geschaffenen territorialen Zuschnitts mit einer entsprechenden internationalen Positionierung, die im nachhinein als nahezu optimal erscheint, über eine erhebliche Grundstabilität. Kleindeutsch-preußisch orientierte Historiker definierten als starke meinungsbildende Zunft den Nationalstaat Bismarckscher Prägung als das Ziel, auf das die deutsche Geschichte schon immer hingesteuert sei. Tatsächlich stellte Deutschland einerseits aufgrund seiner territorialen Größe, seiner geostrategischen Lage in der Mitte Europas und seines effizient genutzten Kräftepotentials eine halbhegemoniale Macht auf dem europäischen Kontinent dar, und es gehörte andererseits weltpolitisch bei geringem kolonialen Besitz nicht zu den Großen, was es insgesamt zu einem weder bedrohlichen noch bedrohten Grundbestandteil des europäischen Mächtesystems machte. Bismarcks defensiver Sicherheitspolitik wurden unter Kaiser Wilhelm II. seit der Jahrhundertwende zwar provozierende weltpolitische Anwandlungen beigemischt, doch kippte die politische Richtung nicht in eine grundsätzliche chauvinistische Aggressivität um.
Dieser Grundkonstellation zum Trotz gab es auch hier erhebliche Risikofaktoren; die gefährliche Mittellage Deutschlands auf dem Kontinent, Trends zu einer Dauerfeindschaft mit Frankreich sowie gefährliche, Deutschland nicht kalt lassende Interessenüberschneidungen auf dem Balkan verursachten schon zu Zeiten Bismarck Alpträume. Immerwährende Sorgen bereitete, dass feindliche Koalitionen zur Revision der jungen Staatsgründung ansetzten könnten, und nicht zufällig war das Ende der Tätigkeit des Reichsgründers durch eine Doppelkrise mit Bedrohungen von Ost und West gekennzeichnet. Vollends trugen dann in Wilhelminischer Zeit Turbulenzen, nicht selten hausgemachte Produkte einer bisweilen schrillen Weltmachtpolitik, zu den geschilderten Dissonanzen der internationalen Politik am Ende des 19. Jahrhunderts bei.
Weitere strukturelle außenpolitische Probleme ergaben sich seit der Reichsgründung 1870/71 durch die Definition Deutschlands als Nationalstaat. Bismarcks kleindeutsche Staatskonstruktion war ein Kompromiss, der das Gros der deutschen Sprach- und Kulturnation zum Staatsvolk machte. Nicht einbezogen waren damit viele Deutsche, die damals in Ost- und Südosteuropa in vielen nationalen Gemengelagen beheimatet waren. Das war eine weise Bescheidung nationaler Ambitionen, weil diese die Akzeptanz Deutschlands durch die Nachbarmächte grundlegend förderte. Die Kehrseite dieser Konstruktion war, dass durchgängig, abgestützt auf das verbreitete Bewusstsein einer von Staatsgrenzen nicht halt machenden deutschen Kulturnation, konkurrierende Nationalvorstellungen in Deutschland virulent blieben. Herzenssache war vielfach ein großdeutsches Denken, zielend auf einen staatlichen Verbund Österreichs mit Deutschland. Vor Bismarcks Staatsgründung hatten unterschiedliche Kräfte wie Demokraten, Liberale oder Katholiken von einem solchen Großdeutschland geträumt. Im Kaiserreich wurde die Erinnerung an dieses Modell durch die engen Beziehungen Deutschlands und Österreichs im Zweibund wach gehalten. Schließlich huldigten auch in der Weimarer Zeit, bei geschlossener Ablehnungsfront gegenüber dem Versailler Vertrag, Demokraten wie Ebert der großdeutschen Tradition. Teils ergänzend, teils konkurrierend wurden Pläne für ein von Deutschland geführtes Mitteleuropa oder Abendland geschmiedet. Folglich verwundert es nicht, dass Hitler 1938 beim Anschlagen großdeutscher Töne anlässlich des „Anschlusses“ Österreichs rauschender Beifall gewiss war und ihn populärer denn je machte, auch wenn dieser „Anschluss“ bereits eine Etappe der Kriegseröffnung zur Schaffung eines großgermanischen Reiches und mithin eine Perversion traditionell großdeutschen Denkens darstellte.
Zur deutschen Außenpolitik gehörte zudem, dass deutsche Politiker und gesellschaftliche Kräfte auch direkt einen überhitzten Nationalismus ansteuerten und dafür Verantwortung trugen, wobei wiederum die Ausrichtung der staatlichen Ordnung auf das Nationalstaatsprinzip, die Lage und Größe Deutschlands und die Streuung der Kulturnation maßgeblich waren, zugleich aber auch das zeitgleiche Aufblühen völkisch-chauvinistischer Pan-Bewegungen in anderen europäischen Staaten mit dem Panslavismus an der Spitze. Im Mittelpunkt stand die Ausformung eines organisierten Nationalismus, den der präfaschistische Alldeutsche Verband zu lenken versuchte und dessen größte Einzelverbände, der Kyffhäuserbund der Landeskriegerverbände und der Flottenverein, millionenstark waren. Diese nationalen Massenorganisationen fischten im trüben Brei der Ängste und Orientierungslosigkeiten und propagierten eine nationale Sammlung des Volkes, eine nationale Rüstung und ein nationales Auftrumpfen. Im Weltkrieg grassierte dann förmlich ein nationaler Annexionismus in einer sogenannten Kriegszielbewegung, und ein vorübergehend realisiertes Raumprogramm im Osten sollte schließlich Pate stehen bei Hitlers Projekten. Vermehrt wurde dabei die deutsche Nation rassisch definiert, was auch zu einer Wiederbelebung eines nun bisweilen in neuer Weise ebenfalls rassisch ausgerichteten Antisemitismus führte, ohne dass die letztgenannte Entwicklung im europäischen Vergleich extrem gewesen wäre. Dennoch ist daran zu erinnern, dass das Gros der Menschen in der NS-Zeit im späten Kaiserreich politisch sozialisiert und damit eine Gewöhnung an ein nationalistisches Umfeld gegeben war.
Hinzu kam in den letzten Jahrzehnten des Kaiserreichs das Aufblühen einer vielschichtigen völkischen Bewegung mit einer literarischen Massenproduktion, die beispielsweise mit Titeln wie „Gedenke, dass du ein Deutscher bist“, oder „Deutschlands Wiedergeburt durch Blut und Eisen“ besonders exakt und komplett Versatzstücke für die spätere NS-Weltanschauung lieferte; bei dem jungen Hitler als Österreicher waren zudem Einflüsse des dortigen völkischen Lagers virulent. Zum Kern völkischer Gruppen mit deren florierendem Zeitschriftenwesen gehörten vermeintliche Religionspropheten, die gleichfalls auf dem Boden von Blut und Rasse standen und den Weg öffneten zu den Triumphen der „Deutschen Christen“ und der Germanengläubigen in der NS-Zeit. Hitler mochte die frühen Völkischen, die ihm in seinem Anspruch als Schöpfer der NS-Weltanschauung im Wege standen, mit Spott überhäufen, doch war eine symbiotische Beziehung unübersehbar, und völkische Helfer der zweiten, in der Weimarer Republik angesiedelten Generation gehörten zu den wichtigsten Helfern des völkischen „Führers“, so der Kreis um „Bauernführer“ Darré18, vor allem aber die „Ostexperten“ Himmler und Rosenberg mit deren Vernichtungs-, Vertreibungs- und Ansiedlungsstrategien sowie -praktiken.19
Ein letzter, doch gewiss nicht unwichtiger Aspekt des traditionellen politischen Denkens des 19. Jahrhunderts, den die Nationalsozialisten zur Konstruktion ihrer eigenen Ansatzpunkte ausschlachteten, war die Reichstradition. Schon durch die Benennung Deutschlands als Deutsches Reich war eine gewisse Verbindungslinie zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gezogen worden, die sich in Verbindung mit den die Geschichte Deutschlands lange begleitenden nationalistischen Verirrungen als Belastung erweisen sollte. Romantisierend und bei beharrlichen historischen Verdrehungen wurde das seit dem Hochmittelalter bestehende und 1806 untergegangene Heilige Römische Reich deutscher Nation im 19. Jahrhundert und darüber hinaus zugleich als ein deutscher Nationalstaat und ein Europa beherrschendes Imperium gesehen, frei von Mühsalen der Gegenwart, etwa dem ständigen Ringen um äußere Sicherheit. Die Erinnerung an das alte Reich war ein Träumen von mehr Glück und mehr Macht, und es versteht sich, dass sich vornan in die Reihe der Machthungrigen und -besessenen schließlich auch die Nationalsozialisten einreihten, die – wie stets Traditionen okkupierend und pervertierend – ihr germanisches Imperium in eine Reihe mit dem alten Reich und dem Bismarck-Reich stellten und somit „Drittes Reich“ nannten.20