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Kehrseite der „Guten alten Zeit“: Epochenwechsel und Ängste seit der Jahrhundertwende
ОглавлениеDas positive Bild des 19. Jahrhunderts von einem florierenden und sich modernisierenden Europa mit dem Deutschen Reich in der Mitte bedarf dessen ungeachtet kräftiger und für unseren Zusammenhang zentral wichtiger Ergänzungen. Die politische Kultur, bei besagtem Ost-West-Gefälle primär auf Aufklärung und Liberalismus bei wachsendem Bewusstsein für sozialstaatliche Verantwortung fußend, musste gravierende Mängel haben, sonst wäre 1914 der Weltkrieg erst gar nicht begonnen worden, und es wäre 1918 nach Kriegsende eine Rückkehr zu den Konturen der Politik des 19. Jahrhunderts selbstverständlich gewesen. Als bestimmend erwies sich, dass um die Jahrhundertwende ein Epochenwechsel und Modernisierungsschub anstand, der letztendlich zeitgenössisch nicht bewältigt wurde. Dieser sollte – wegen des Desasters der folgenden Weltkriege und Ideologisierungen – vielfach erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts „nachgeholt“ werden.14
Zu beobachten war, dass eine zunehmend überhitzte nationale und imperialistische Politik, die blind auf Machtinstrumente und deren Verstärkung vertraute, entschärft werden musste, wobei Wege zu einer Politik mit vertrauensbildenden Maßnahmen und multinationalen Vereinbarungen offen standen. Im Innern der Staaten waren die bevorstehenden Demokratisierungen heiß umstrittenen; zu beobachten waren massive Machtverschiebungen und Verteilungskämpfe mit Massenstreiks. Verkrustete Gesellschaften mit alten und neuen Bruchstellen waren schwer in kooperierende Basisgemeinschaften als Grundlage für Demokratien zu transformieren. Schließlich kündigten sich Modernisierungen wie der Expressionismus und andere avantgardistische Tendenzen und Utopien in der Kulturwelt an, die prompt ein konservatives Gegenlager mobilisierten. Insgesamt hatte längst ein pluralistisches Zeitalter mit Globalisierungen eingesetzt und prallte vielfach auf Lebenswelten mit altväterlichen Zuständen, die zementiert zu sein schienen. Eine konservative Rechte wurde kampferprobt in obstruktiven Abwehrmaßnahmen gegen Reformen. Demgegenüber hassten Utopisten verschiedenster Couleur alles Bürgerliche und begannen, möglichst einfache Weltbilder zu lieben, mit denen man der Realität entfloh. Zudem ging der politischen Mitte und Linken, was machbare Reformen betraf, jeglicher Optimismus verloren. Vor diesem Hintergrund alles entscheidend wurden schließlich Ängste vor einer ungewissen Zukunft, verbunden mit politischen und ideellen Erklärungsnöten in einer kompliziert erscheinenden Welt. Erst diese machten die Jahre um die Jahrhundertwende und vor dem Weltkrieg zur Krise.
Durch die Nöte des Ersten Weltkrieges und die Handicaps, unter denen die Weimarer Republik litt, konnten die verhängnisvollen Ängste nicht abgebaut werden, erhielten sogar schubartig zusätzliches Gewicht. Dies entpuppte sich als idealer Ansatzpunkt für zerstörerische Kräfte vom Schlage der Nationalsozialisten, die keine Chance ausließen, die Menschen auf Missstände, Nöte und Sorgen der Zeit in einer Weise anzusprechen, die Hass und Zorn gegen angeblich Schuldige lenkten. Unübersehbar hierbei war, dass vor allem der Propagandist Hitler beim Abspulen spezifischer Hasstiraden förmlich aufblühte und ganz offenkundig Kraft tankte, zum einen, weil er sich in rachsüchtige und habgierige Rage redete, zum anderen, weil ihn Zustimmung aus dem Publikum trug und er sich als Retter15 aufspielen konnte. Hitler selbst sprach von der Kriegseröffnung 1914 wie einem verlorenen Paradies; als dessen Symbol galt der sogenannte Geist des August, mit dem eine intakte Volksgemeinschaft siegesfroh in den Krieg gezogen sei. Dem sei 1918/19 der Sündenfall schlechthin gefolgt, mit Revolution, Versailler Vertrag und Schaffung einer angeblich verjudeten Weimarer Republik.