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3. Die Beseitigungsanordnung
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Der gravierendste Eingriff der Bauaufsichtsbehörden ist die Beseitigungsanordnung – auch Abbruchsanordnung oder Abrissverfügung genannt[644]. Die entsprechenden spezialgesetzlichen Befugnisnormen räumen den Bauaufsichtsbehörden Ermessen ein, die teilweise oder vollständige Beseitigung einer Anlage anzuordnen, wenn diese im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert worden ist und nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können[645].
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Wie bei den bislang dargestellten Spezialbefugnissen, so stellt sich auch bei der Beseitigungsanordnung die Frage, ob tatbestandlich die bloß formelle Baurechtswidrigkeit ausreichen soll. Wegen der hohen Intensität des Eingriffs der Beseitigungsanordnung besteht weitgehend Einigkeit, dass die lediglich formelle Baurechtswidrigkeit für eine Beseitigungsanordnung nicht ausreichen kann; vielmehr müssen – so die herkömmliche Faustformel – sowohl die formelle als auch die materielle Baurechtswidrigkeit vorliegen. Die Anwendung dieser Faustformel muss allerdings in zweifacher Hinsicht eingeschränkt werden. Zum einen fordert die Deregulierung ihren Tribut (s.u.). Zum anderen bleibt die Frage nach der maßgeblichen Rechtslage offen, mithin das Problem des Bestandsschutzes:
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Die traditionelle Faustformel vom Doppelerfordernis der formellen und materiellen Baurechtswidrigkeit lässt sich (anhand der Rechtslage vor der Deregulierung) wie folgt erklären: Liegt eine bloß formelle Baurechtswidrigkeit vor, scheitert die Beseitigungsanordnung an dem Halbsatz sämtlicher landesgesetzlicher Beseitigungsermächtigungen, dass auf andere Weise rechtmäßige Zustände nicht herzustellen sein dürfen – eine einfachgesetzliche Festschreibung des Elements der Erforderlichkeit als Teil des Verhältnismäßigkeitsprinzips[646]. Ein milderes Mittel stellt dann nämlich immer die Erteilung der Baugenehmigung dar, in der auch Abweichungen, Ausnahmen oder Befreiungen zugelassen werden können[647]. Daran hat auch die Deregulierung nichts geändert.
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Früher konnte dagegen typischerweise auch die rein materielle Baurechtswidrigkeit nicht für eine Beseitigungsanordnung genügen, weil dann stets die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung griff. Der typische Fall für eine Beseitigungsanordnung war ein ,Schwarzbau‘, der aufgrund seiner materiellen Baurechtswidrigkeit auch nicht nachträglich genehmigt werden konnte. Das hat sich insofern geändert, als es heute für eine Beseitigungsanordnung nicht mehr auf einen ,Schwarzbau‘ ankommt. Soweit ein bauliches Vorhaben verfahrensfrei ist, kann und muss die Beseitigungsanordnung auf die rein materielle Baurechtswidrigkeit gestützt werden[648]. Ebenso verhält es sich im Genehmigungsfreistellungsverfahren (Kenntnisgabe-, Anzeigeverfahren). Zwar ist hier eine Verletzung formellen Baurechts denkbar, wenn mit dem Bau begonnen wird, ohne zuvor die Bauvorlagen einzureichen (dazu bereits oben Rn. 122). Eine detaillierte Prüfung der Baurechtmäßigkeit durch die Bauaufsichtsbehörden findet aber nicht statt (dazu oben Rn. 85 ff.); es wird keine dem Bauvorhaben Legalisierungswirkung verleihende Baugenehmigung erteilt. Die bloße Anzeigepflicht steht damit nach ihrer gesetzlichen Ausgestaltung und ihrem Zweck den verfahrensfreien Vorhaben näher. Daher ist in diesem Fall für eine Beseitigungsanordnung auf die materielle Baurechtswidrigkeit abzustellen[649].
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Änderungen ergeben sich aufgrund der Deregulierung schließlich für Bauvorhaben, für die zwar eine Baugenehmigung vorliegt, die aber gegen materielle Vorschriften verstoßen, die jenseits der Reichweite der Legalisierungswirkung der Baugenehmigung liegen[650]. Dies kann etwa beim stark reduzierten Prüfprogramm des vereinfachten Genehmigungsverfahrens der Fall sein[651]. Verstößt eine bauliche Anlage gegen materielles Baurecht, das in diesem Verfahren nicht zum Prüfprogramm gehört und dementsprechend nicht geprüft wurde, kann eine Beseitigungsanordnung allein wegen dieses materiellen Verstoßes erlassen werden[652]. Eine solche Anlage gleicht aus dem Blickwinkel der repressiven Bauaufsicht hinsichtlich dieser nicht zu prüfenden Vorschriften einem verfahrensfreien Vorhaben[653]. Allerdings besteht in einem solchen Fall die Möglichkeit, bereits auf präventiver Seite die Baugenehmigung wegen fehlenden Sachbescheidungsinteresses zu versagen[654].
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Insgesamt zeigen diese Konstellationen, dass im Zuge der Deregulierung des Baugenehmigungsverfahrens die Faustformel von der formellen und materiellen Illegalität präzisiert werden muss. Als tatbestandliche Voraussetzung ist für die Beseitigungsanordnung vielmehr erforderlich, dass gegen materielle baurechtliche Vorschriften verstoßen wird und dieser Verstoß nicht von der Legalisierungswirkung einer Baugenehmigung umfasst ist[655].
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Ausnahmsweise soll aber selbst bei der Beseitigungsanordnung die bloß formelle Baurechtswidrigkeit genügen, nämlich dann, wenn die Beseitigung nicht mit einem Substanzverlust für den Eigentümer verbunden ist[656]. Wichtigstes Beispiel ist die Beseitigung einer Werbeanlage[657]. Die Beseitigungsanordnung stellt in diesen Fällen ein funktionales Äquivalent zur Nutzungsuntersagung dar[658]. Im Regelfall scheitert ein solches Vorgehen dagegen an der Erforderlichkeitsklausel.
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Ein besonderes Problem stellt bei der Beseitigungsanordnung die Frage der für die Behördenentscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage dar. Diese ist dem materiellen Recht durch Auslegung zu entnehmen[659]. Dem Wortlaut nach stellen sämtliche Befugnisnormen einerseits darauf ab, ob die Anlage im Zeitpunkt ihrer Errichtung im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften stand. Andererseits ist der Erforderlichkeitsklausel („wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können“) zu entnehmen, dass für die Behörde der Zeitpunkt ihrer Entscheidung maßgeblich ist. Zum Tragen kommt diese zeitliche Differenz, wenn sich die Sach- und Rechtslage zwischen der Errichtung der Anlage und der anstehenden Behördenentscheidung geändert hat. Insoweit ist zwischen verschiedenen Situationen zu differenzieren, wobei der Einfachheit halber von einem formell und materiell baurechtswidrigen (bzw. in der Konstellation 1: baurechtmäßigen) Bau ausgegangen werden soll:[660]
– | Konstellation 1: Wurde der Bau formell und materiell baurechtmäßig errichtet und ändert sich die Rechtslage anschließend nachteilig, so dass zu dem späteren Zeitpunkt keine Baugenehmigung mehr hätte erteilt werden können, genießt der Bauherr aufgrund seiner vorhandenen Baugenehmigung Bestandsschutz[661]. In dieser Konstellation fehlt es im Übrigen bereits an der Tatbestandsvoraussetzung des Widerspruchs zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften im Zeitpunkt der Errichtung der Anlage. |
– | Als Konstellation 2 soll angenommen werden, dass die bauliche Anlage zwar zum Zeitpunkt der Errichtung formell und materiell rechtswidrig war, sich die Rechtslage jedoch nach Errichtung zugunsten des Bauherrn geändert hat. Hier kommt nun für die Behörde die Erforderlichkeitsklausel zum Tragen. Zwar liegen die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Beseitigungsverfügung vor (wenn man die Erforderlichkeitsklausel als Teil der Rechtsfolge sieht), jedoch kann die Behörde schlicht durch Erteilung einer Baugenehmigung rechtmäßige Zustände schaffen. |
– | Umstritten ist diejenige Fallgruppe, in der das Bauwerk zwar formell und materiell rechtswidrig errichtet worden war, dann aber durch eine Änderung der Rechtslage für eine bestimmte Zeit materiell baurechtmäßig wurde – so dass es genehmigt hätte werden können –, bevor es dann durch eine nochmalige Änderung der Rechtslage wiederum baurechtswidrig geworden ist (Konstellation 3). Hier stellt sich die Frage, ob sich die vorübergehend günstige Rechtslage für den Bauherrn dergestalt auswirkt, dass keine Beseitigungsanordnung mehr ergehen kann. |
Teilweise wird ein derartiger sog. ‚passiver‘[662] Bestandsschutz im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 GG bejaht.[663] Vor diesem Hintergrund wird teilweise auch die Faustformel von der formellen und materiellen Baurechtswidrigkeit dahingehend verstanden, „dass die Anlage nicht durch eine Baugenehmigung gedeckt wird und seit ihrer Fertigstellung fortdauernd gegen materielles Baurecht verstößt“[664]. Einschränkend wird aber gefordert, der baurechtmäßige Zustand solle – hier orientiert man sich an der Frist von § 75 S. 2 VwGO – mindestens drei Monate betragen[665]. Diese traditionelle Ansicht erfährt in jüngster Zeit starke Kritik: Wegen der Normgeprägtheit des Eigentumsgrundrechts könne sich ein Bestandsschutz nur aus einfachem Recht ergeben[666]. Da im vorliegenden Fall aber gerade kein einfachrechtlicher Bestandsschutz normiert sei, lägen für eine Beseitigungsverfügung alle Voraussetzungen vor[667]. Die letzte Schlussfolgerung erscheint indes etwas voreilig (siehe Rn. 137).
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Eine Änderung der Sach- und Rechtslage kommt auch zwischen der letzten Behördenentscheidung und der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung in Betracht. Eine weitere wichtige Fallgruppe betrifft daher Konstellationen, in denen eine Anlage baurechtswidrig errichtet worden ist und die Bauaufsichtsbehörde eine Beseitigungsanordnung erlässt, bevor sich danach die Rechtslage zugunsten des Bauherrn ändert. Hier stellt sich das Problem der maßgeblichen Sach- und Rechtslage für das Gericht. Während in Anfechtungssituationen grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung abzustellen ist[668], wird in dieser Fallgestaltung eine Ausnahme anerkannt. Es sei „sinnwidrig […], müsste der Bauherr bauliche Anlagen abreißen, deren Wiedererrichtung sogleich nach dem Abriss ihm gestattet werden müsste“[669]. Abzustellen ist daher auf die letzte mündliche Verhandlung vor Gericht[670].
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Der Vergleich zwischen Konstellation 3 (zwischenzeitliche materielle Baurechtmäßigkeit) und der gerade eben geschilderten Konstellation (Änderung Sach- und Rechtslage nach letzter Behördenentscheidung) macht deutlich, dass jeweils mit unterschiedlichen Topoi argumentiert wird. Während bei der zwischenzeitlichen materiellen Baurechtmäßigkeit alles an der Frage zu hängen scheint, ob direkt aus Art. 14 GG ein passiver Bestandsschutz hergeleitet werden kann (was zu verneinen ist), werden für die Frage der maßgeblichen Sach- und Rechtslage Vertrauensschutzerwägungen herangezogen[671]. Das wirft die Frage auf, ob nicht auch der passive Bestandsschutz (Konstellation 3) mit Vertrauensschutzerwägungen gelöst werden sollte. Als Mindestvoraussetzung für ein schutzwürdiges Vertrauen könnte man sich wiederum an der Drei-Monats-Frist des § 75 S. 2 VwGO orientieren. Damit wäre im Ergebnis eine angemessene Lösung gefunden, ohne den unhaltbaren Weg über das normgeprägte Eigentumsgrundrecht gehen zu müssen[672]. Zugleich wären mit dieser Lösung Wertungswidersprüche zwischen den beiden Konstellationen vermieden.