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a) Die Schutznormtheorie

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Noch immer ist umstritten, wie bestimmt werden kann, ob eine Norm nachbarschützend ist oder nicht. Herkömmlicherweise wird die Frage mit der sog. Schutznormtheorie beantwortet. Ihr zufolge ist durch Auslegung zu ermitteln, ob eine Norm ausschließlich den Interessen der Allgemeinheit oder gerade (auch) den Interessen des Einzelnen – hier: des Nachbarn – zu dienen bestimmt ist[773]. Den Hintergrund für die Schutznormtheorie hat das BVerwG wie folgt zusammengefasst:

„Nicht jede Norm des materiellen öffentlichen Baurechts hat eine solche [nachbarschützende] Zielrichtung. Vielmehr gibt es zahlreiche Normen des materiellen öffentlichen (Landes- und) Bundesbaurechts, die ausschließlich der Durchsetzung von Interessen der Allgemeinheit und gerade nicht dem Schutz individueller Interessen dienen […]. Deswegen bedarf es jeweils der Klärung, ob eine baurechtliche Vorschrift ausschließlich objektivrechtlichen Charakter hat oder ob sie (auch) dem Schutz individueller Interessen dient, ob sie also Rücksichtnahme auf Dritte gebietet. Das kann sich unmittelbar aus dem Wortlaut der Norm ergeben, etwa dann, wenn sie Abwehrrechte Betroffener ausdrücklich begründet. In der Regel allerdings wird insoweit – da der Normgeber nur in Ausnahmefällen derartige Abwehrrechte ausdrücklich statuiert hat – eine Auslegung der Norm nach Sinn und Zweck in Betracht kommen; gelegentlich mag sich auch aus der Entstehungsgeschichte der Wille des historischen Normgebers ermitteln lassen, die Interessen Dritter zu schützen“[774]. Dass auch Normen, die dem Allgemeininteresse dienen, faktisch dem Einzelnen zu Gute kommen können, soll – als bloßer Rechtsreflex – für ein subjektiv-öffentliches Recht gerade nicht ausreichen[775].

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Die Schutznormtheorie wird in verschiedener Hinsicht kritisiert[776]. Am einflussreichsten ist momentan die vom Europarecht inspirierte Kritik. Dieses kennt die strikte Gegenüberstellung von Allgemeininteressen und Individualinteressen insoweit nicht, sondern geht tendenziell von der „Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des [objektiven] Rechts“ aus[777]. Würde das deutsche Recht diesen Ansatz übernehmen, könnten damit zwar Auswüchse wie diejenigen, die schon vor längerer Zeit für die deutschen Bauaufsichtsbehörden beschrieben worden sind, vermieden werden: Die Verwaltung nimmt Untersuchungen zufolge rechtswidrige Abweichungen gerade in den Bereichen in Kauf, in denen sie sich der Unangreifbarkeit durch Nachbarn sicher sein kann[778]. Allerdings würde man mit Aufgabe der Schutznormtheorie auch auf die Ausgleichsleistung verzichten, die diese Theorie in ihrer modernen Form durch ihre Moderation zwischen den widerstreitenden Privatinteressen und dem Gemeinwohl erbringt[779]. Durchzusetzen scheint sich daher eine vermittelnde Ansicht, die zwar an der Schutznormtheorie festhält, sie aber um ein prokuratorisches Element ergänzt[780]. Mit der Erweiterung sollen diejenigen Fälle eingefangen werden, in denen der Einzelne als Anwalt allgemeiner Belange anerkannt ist (Sachwalterstellung). Für das Bauordnungsrecht ist diese Erweiterung im Gegensatz zum Umwelt- und Planungsrecht allerdings bislang nicht relevant.

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Noch nicht durchgesetzt hat sich dagegen eine an der Grundrechtsdogmatik orientierte Kritik. Ihr zufolge ist nicht einzusehen, warum angesichts des modernen Eingriffsbegriffs rechtswidrige faktische Eingriffe als (Grund-)Rechtsverletzungen (zumindest der allgemeinen Handlungsfreiheit) anerkannt werden, aber daraus keine Konsequenzen für das Baurecht erwachsen; ‚bloß‘ faktische Eingriffe blieben systemwidrig ausgeklammert[781]. Hier mag in der Tat ein gewisser Widerspruch zwischen Grundrechts- und Baurechtsdogmatik bestehen; allerdings löst die dargestellte Kritik den Widerspruch in die falsche Richtung auf: Kritikwürdig ist in erster Linie der uferlose Eingriffsbegriff, der keine klaren Konturen hat und mit dessen Hilfe grundrechtsrelevantes von -irrelevantem Staatshandeln nicht mehr deutlich abzugrenzen ist[782]. Mit anderen Worten: Der zu Recht kenntlich gemachte Widerspruch ist durch eine Verengung des Eingriffsbegriffs aufzulösen[783].

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Schließlich bleibt der Vorwurf bestehen, dass die durch die Schutznormtheorie induzierte Auslegung einer Norm auf der Suche nach Drittschutz nur schwer vorhersagbare Ergebnisse liefert[784]. Denn nur selten ergibt sich der Nachbarschutz ausdrücklich aus einer Norm[785]. Fehlt es an einer expliziten Regelung, ist zu prüfen, ob „sich aus individualisierenden Tatbestandsmerkmalen der Norm ein Personenkreis entnehmen lässt, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet“[786]. Möglicherweise wegen der anhaltenden Kritik der Literatur an der Schutznormtheorie hat das BVerwG zur Ermittlung von Nachbarschutz im Bauplanungsrecht auf die sog. Konfliktschlichtungsformel zurückgegriffen[787], die auf Schmidt-Preuß zurückgeht: „Notwendige, aber auch hinreichende Voraussetzung für das Vorliegen eines subjektiven öffentlichen Rechts im multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnis ist, daß eine Ordnungsnorm die kollidierenden Privatinteressen in ihrer Gegensätzlichkeit und Verflochtenheit wertet, begrenzt, untereinander gewichtet und derart in ein normatives Konfliktschlichtungsprogramm einordnet, daß die Verwirklichung der Interessen des einen Privaten notwendig auf Kosten des anderen geht“[788]. Diese – vermeintliche – Präzisierung wurde positiv rezipiert[789], jedoch darf bezweifelt werden, ob die Formel in der Praxis wirklich besser operationalisierbar ist als die herkömmliche Schutznormtheorie[790]. Insgesamt ist die Frage der Anerkennung von Drittschutz baurechtlicher Normen (dazu sogleich) ohnehin stark von der Judikatur vorgegeben.

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