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I. Diskussionen um die Rolle der deutschen Verwaltung in der Europäischen Integration

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Fremdbestimmtes Verwaltungsrecht und Abwehrhaltung

In den 1990er Jahren war die Europäisierungsdebatte im Verwaltungsrecht vor allem von einer weitgehend ablehnenden Haltung der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft gegenüber dem „Übergriff“ der Europäischen Gemeinschaften in das nationale Verwaltungsrecht (und damit auf die deutsche Verwaltungstätigkeit) geprägt.[243] Dies wird durch das berühmt gewordene Diktum von Jürgen Salzwedel von einer „besatzungsrechtsähnlichen Intervention [der Luxemburger Richter] in gewachsene Normstrukturen des nationalen Rechts“[244] veranschaulicht. Dieses ist natürlich besonders überzeichnet, aber dennoch für die damalige Wahrnehmung der Europäisierung durchaus charakteristisch. Die damalige Verwaltungsrechtswissenschaft ging i. d. R. von einem Gegensatz zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht aus und verstand das deutsche Recht als „Opfer der Europäisierung“.[245] Dies gab der Frustration der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft über einen Verlust der Deutungshoheit über in Deutschland anwendbares Verwaltungsrecht Ausdruck.

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Eins-zu-Eins-Umsetzung und Spillover-Effekte

Auf der politischen Ebene spielt sich bis heute Ähnliches in den Bereichen ab, in denen das politische Ziel eines umzusetzenden Unionsrechtsakts die für die Umsetzung politisch Verantwortlichen sowie die primär hiervon betroffenen Behörden, Unternehmen und Verbände und nicht zuletzt auch die auf eine bestimmte Rechtsmaterie spezialisierten und besonders „ausgewiesenen“ Anwälte, Richter und Hochschullehrer (mehrheitlich) nicht überzeugt. In diesen Fällen wird dann oft eine „1:1-Umsetzung“ des Unionsrechts gewählt, um den „Schaden“ für das überkommene Rechtssystem durch „systemsprengende“ unionsrechtlich gebotene Rechtsänderungen möglichst gering zu halten und „Spillover-Effekte“ zu vermeiden.[246] Diese „1:1-Umsetzung“ soll dann ganz bewusst die deutschen Umsetzungsgesetze als nicht verallgemeinerungs- oder gar analogiefähige Fremdkörper im Rechtssystem erscheinen lassen. Es wird allenfalls eine nur gerade noch unionsrechtskonforme Lösung angestrebt. Dies birgt das Risiko erheblicher Umsetzungsdefizite und Umsetzungsschwierigkeiten.[247] Die Leidensgeschichte des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes[248] wirkt insoweit leider nach wie vor nicht hinreichend abschreckend.

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„Vollzug des Unionsrechts“ als irreführender Schlüsselbegriff

Zu Missverständnissen trägt zudem bei, dass vom „indirekten Vollzug“ des Unionsrechts durch die mitgliedstaatlichen Verwaltungen gesprochen wird. Dies weckt falsche Assoziationen mit dem deutschen Exekutivföderalismusmodell der Art. 83 ff. GG. Tatsächlich sind mit der Situation der Art. 83 ff. GG vergleichbare Fälle, in denen das Unionsrecht nationalen Behörden konkrete Aufgaben zuweist, die sie auf Grundlage unionsrechtlicher Vorschriften (oder nationaler Umsetzungsgesetze) auch im Verhältnis zum Bürger zu erfüllen haben („echter Vollzug“), eher selten.[249] Im Regelfall haben nationale Behörden beim Vollzug nationalen Rechts unionsrechtliche Vorgaben (nur) zu beachten (sog. respektierender Vollzug).[250] Das Unionsrecht setzt hier den mitgliedstaatlichen Behörden Grenzen. Es regelt nicht, „ob“ bestimmte Verwaltungsaufgaben wahrgenommen werden, sondern „nur“ (mehr oder weniger weitgehend), wie sie zu erfüllen sind, wenn sie von den Mitgliedstaaten wahrgenommen werden. Diese Konstellation liegt selbst im Vergaberecht,[251] im Datenschutzrecht[252] oder im Recht der Umweltverträglichkeitsprüfung[253] vor. Bei geteilter Mittelverwaltung (vgl. Art. 62 ff. VO [EU/EURATOM] 2018/1048 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union[254]) oder auch beim EU-Beihilferecht (Art. 107 ff. AEUV) liegen zudem Formen des indirekten Vollzugs des Unionsrechts vor, die auf der Grenze zwischen „echtem“ und „respektierendem“ Vollzug liegen.[255]

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Unionsrecht als „Kodifikationsbrecher“

Machte das Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht somit bereits schon dadurch auf sich aufmerksam, dass seine querschnittsartigen Regelungen von immer mehr Behörden in immer mehr Zusammenhängen zu beachten (bzw. „respektierend zu vollziehen“) waren, so wurde ein weiterer „Europäisierungsdiskussionsschub“ im Verwaltungsrecht durch einzelne Entscheidungen des EuGH eingeleitet, die Auswirkungen im Anwendungsbereich der VwGO und des VwVfG hatten: Konkret ging es etwa um die Frage, inwieweit deutsche Behörden nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO verpflichtet sein können, die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen gegenüber Maßnahmen anzuordnen, die der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht dienten.[256] Vor allem aber ging es natürlich um die – durch die „Alcan-Saga“[257] zu „dem“ Europäisierungsthema[258] gewordene – Frage der „Verdrängung“ der Vertrauensschutztatbestände der § 48 Abs. 2 und 4 VwVfG im Fall beihilferechtswidrig gewährter Subventionen. In beiden Fällen wurde letztlich aus dem Umstand, dass hier ungeschriebenes (Rechtsprechungs-)Recht des EuGH den nationalen Kodifikationen vorgehen sollte, geschlossen, dass sich das Unionsrecht als „Kodifikationsbrecher“ erweise.[259] Dies ist nicht falsch, misst aber dem Umstand zu wenig Gewicht bei, dass es sich in den meisten Fällen dieser Art um eine Reaktion des EuGH auf unzureichende deutsche „Ausführungsgesetzgebung“ zu unionsrechtlichem Fachrecht handelte[260]: Es ging nicht um eine flächendeckende Umgestaltung des deutschen Rechts und darum, deutsche rechtsstaatliche Grundsätze auf dem Altar eines unionsrechtlichen effet utile zu opfern (z. B. durch Abschaffung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO[261] oder Nichtanwendung der deutschen Vertrauensschutzbestimmungen des § 48 VwVfG bei Fällen mit Unionsrechtsbezug[262]). Es ging vielmehr um Situationen, in denen der deutsche Gesetzgeber seiner aus Art. 4 Abs. 3 EUV folgenden Pflicht nicht nachgekommen ist, zum Zwecke der Durchsetzung fachrechtlicher unionsrechtlicher Vorgaben in bestimmten Bereichen Abweichungen von allgemeinen Grundsätzen durch fachrechtliche Sondervorschriften einzuführen (die der deutsche Gesetzgeber ganz selbstverständlich eingeführt hätte und verfassungskonform hätte einführen können, wenn dies zur effektiven Umsetzung deutschen Fachrechts notwendig gewesen wäre).[263]

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„Gemeinschafts- und Unionsverwaltungsrecht“ als irreführendes Konzept

Dies ist zunächst nicht gesehen worden, sondern es wurden derartige Einwirkungen des Gemeinschafts- und Unionsrechts unter den Oberbegriff des „Gemeinschaftsverwaltungsrechts“[264] bzw. „Unionsverwaltungsrechts“[265] zusammengefasst.[266] Hierdurch entstand der Eindruck eines kodifizierbaren in sich abgeschlossenen „Regelungskomplexes“, dessen Regelungen aufeinander abgestimmt sind und einheitliche Grundsätze für das mitgliedstaatliche Verwaltungsrecht beim Vollzug des Unionsrechts aufstellen.[267] Tatsächlich ging es bei der hier in Bezug genommenen EuGH-Rechtsprechung jedoch um die Frage, wie die mitgliedstaatlichen Behörden dazu angehalten werden können, Unionsrecht auch dann entsprechend Art. 4 Abs. 3 EUV durchzusetzen, wenn das nationale Verwaltungsorganisations-, Verwaltungsverfahrens- oder Verwaltungsprozessrecht eine solche Durchsetzung nicht zu erlauben scheint. Zu Recht wird sie daher auch als Ausdruck eines „Durchsetzungsrechts“ bezeichnet, das letztlich nur aus Anlass von Einzelfällen entsteht und bei dem sich Verallgemeinerungen i. d. R. verbieten.[268] Es gibt daher keinen abgeschlossenen Kanon dieses Durchsetzungsrechts, so wie es auch keinen allgemeinen selbstzweckhaften „effet utile“ des Unionsrechts gibt. Es gibt nur Vorgaben, wie einzelne Unionspolitiken auch von den nationalen Behörden auf Grundlage des nationalen Rechts effektiv durchzusetzen sind. Inhalt und Reichweite dieses Durchsetzungsrechts hängen deshalb sowohl von der nationalen Rechtsordnung ab, die „europäisiert“ wird,[269] als auch vom fachrechtlichen Kontext, in dem eine „europäisierte“ Verwaltungsentscheidung angesiedelt ist. Die Auswirkungen des Durchsetzungsrechts lassen sich deshalb nicht immer vorhersehen,[270] allenfalls beispielhaft aufzählen,[271] und können auf Durchsetzungshindernisse reagieren, die sich aus der nationalen Verwaltungsorganisation, dem nationalen Verwaltungsverfahrensrecht, dem Fehlerfolgenrecht der nationalen Handlungsformenlehre sowie dem Verwaltungsprozess- und Staatshaftungsrecht ergeben. Das Durchsetzungsrecht findet seine Grenze in den bei der Durchsetzung des Unionsrechts von der Union und den Mitgliedstaaten zu beachtenden Unionsgrundrechten (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh). Diese stellen (heute) rechtsverbindlich sicher, dass sowohl das Recht der EU-Eigenverwaltung wie das EU-Durchsetzungsrecht denselben Wertentscheidungen Rechnung trägt.[272]

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Verwirklichung von Unionspolitiken durch deutsche Behörden

All dies lässt sich kaum sinnvoll verarbeiten, wenn eine „mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie“ als „Gegenpol einer voranschreitenden Europäisierung der nationalen Rechtssysteme“ begriffen wird.[273] In derartigen Beschreibungen setzt sich die Abwehrhaltung der 1990er Jahre[274] fort. Die Rolle der nationalen – und damit auch der deutschen – Behörden im europäischen Integrationsprozess ist vielmehr ähnlich wie die des nationalen Gesetzgebers und der nationalen Gerichte zu definieren: Sie sind nach Art. 4 Abs. 3 EUV zur Verwirklichung der im Unionsrecht konkretisierten Unionspolitiken (unter Beachtung der sich aus der GRCh ergebenden Grenzen) verpflichtet. Für die Rolle der deutschen Verwaltung in der Europäischen Integration und das Thema „Europäisierung des Verwaltungsrechts“ sind daher weniger die Veränderung des deutschen Verwaltungsrechts aufgrund unionsrechtlicher Impulse und das Hinzutreten neuer Rechtsquellen europäischen Ursprungs bedeutsam als vielmehr die Auswirkungen, die sich daraus ergeben, dass in immer mehr Bereichen immer sichtbarer die von bestimmten Behörden wahrzunehmenden Aufgaben und die Art und Weise ihrer Erfüllung unionsrechtlich (insbesondere durch unionsrechtliches Fachrecht) determiniert werden.[275] Dies bedeutet eine Indienstnahme der nationalen Verwaltung (aber auch des nationalen Verwaltungsrechts) durch die Union zu Erfüllung ihrer Zwecke. Dadurch schwinden die Möglichkeiten der nationalen Politik und Gesetzgebung, für „ihre“ Verwaltung selbst Verwaltungsagenden zu definieren und über die von den nationalen Verwaltungen einzusetzenden Zeit- und Personalressourcen zu bestimmen. Gerade dies erklärt die teilweise heftigen Abwehrreaktionen. Eine solche Abwehrhaltung nutzt aber zu wenig die Chancen der Mitgestaltung der Europäischen Integration durch die deutsche Politik und Verwaltung und die Chancen der Weiterentwicklung des deutschen Verwaltungsrechts zu einem wichtigen Bestandteil des „Europäischen Verwaltungsrechtsverbunds“.[276]

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