Читать книгу Ethische Zielkonflikte in der Sozialen Arbeit - Gunzelin Schmid Noerr - Страница 22
2.1 Professionsethische Leitlinien
ОглавлениеDie sozialarbeiterische Professionsethik fragt nach den Zielen, um derentwillen die Soziale Arbeit stattfindet, welche Funktion diese Profession hat, haben kann und haben soll. Die professionsethischen Selbstverpflichtungen der Fachkräfte stellen gleichsam Leitplanken dar, die verhindern sollen, in der Überschreitung der Intimität der Klienten nicht über das fachlich unabdingbare Maß hinauszugehen und das Wohlergehen der Klienten sowie das Allgemeinwohl als oberste Kriterien des eigenen Handelns anzusehen. Solche Leitlinien sind relativ allgemein (und müssen das auch sein, um auf alle möglichen Fälle anwendbar zu sein), aber wirksam werden sie erst dann, wenn sie in den jeweiligen fachlichen Kontexten konkretisiert werden. Nur so kann ihr innerer Zusammenhang mit den Grundstrukturen des sozialarbeiterischen Handelns deutlich werden.
Professionsspezifische Ethiken sind besonders dort formuliert worden, wo die vom professionellen Handeln Betroffenen in besonderem Maße diesem ausgeliefert sind. Diese Ethiken sollen das für die Tätigkeit notwendige Vertrauensverhältnis stützen, indem sie die das professionelle Handeln legitimierenden Werte und die es leitenden Normen beschreiben und analysieren. Um welche Grundsätze handelt es sich?
Die älteste formulierte Professionsethik ist bekanntlich die medizinische. Ihr Ursprung wird dem Arzt Hippokrates zugeschrieben, der im 5. Jahrhundert v. Chr. auf der griechischen Insel Kos lebte. Im sogenannten Hippokratischen Eid wurden Grundregeln des ärztlichen Handelns, Gebote und Verbote formuliert, die die Patientinnen vor Missbrauch der ärztlichen Kunstausübung schützen sollten, aber auch Verpflichtungen gegenüber den Kolleginnen und angrenzenden Berufen sowie gesellschaftlichen Erwartungen enthielten. Die heute bekannte Formulierung des Eides ist aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. überliefert und gehört einer vergangenen Kultur an. Heute gibt es entsprechend veränderte Formulierungen. (Das »Genfer Gelöbnis«: Wer heute approbiert ist, ist durch Zwangsmitgliedschaft in der Ärztekammer auf die Berufsordnung verpflichtet.) Der nach wie vor gültige medizinethische Grundgedanke besagt, dass die ärztlich Tätigen die körperlichen, psychischen und sozialen Grenzen der Patientin/des Patienten nicht mehr als unbedingt notwendig, ausschließlich zu deren Wohl und mit deren Einverständnis sowie insbesondere nicht mit insgeheim eigennützigen Absichten überschreiten dürfen. Sie sollen die Betroffenen in deren besonderer Situation der Bedürftigkeit achten.
Diese Forderungen lassen sich durchaus auch auf die Soziale Arbeit übertragen, auch wenn es dort in erster Linie nicht um körperliche Krankheiten, sondern um psychosoziale Problemlagen der Klienten geht. Dorothea Kuhrau-Neumärker (2005, 27 ff.) hat die Kernpostulate des Hippokratischen Gelöbnisses für die Soziale Arbeit umformuliert. Sie führt fünf Prinzipien auf:
1. nützen und schützen (sich in Konfliktlagen um eine am Klientenwohl orientierte Entscheidung bemühen),
2. nicht schaden (auch ungewollte Nebenfolgen des Helfens hinreichend bedenken),
3. nichts ausplaudern (das Schweigegebot beachten, wenn auch in Abwägung zum Schutzgebot für Leib und Leben Dritter),
4. den anderen als Person achten (die Menschenwürde von Klientinnen auch dann achten, wenn bei diesen wesentliche Anteile ihrer personalen Selbstbestimmung beeinträchtigt sind),
5. integer sein (die eigenen Grenzen einzuhalten und sich der Grundwerte der eigenen Profession bewusst sein).
Blickt man auf andere Zusammenstellungen solcher ethischen Grundsätze in der Sozialen Arbeit, aber auch in angrenzenden Professionen, dann stößt man auf Ähnliches. In der Medizinethik besonders prominent geworden ist der Ansatz der sogenannten Prinzipienethik von Tom L. Beauchamp und James F. Childress (2001, vgl. auch Rauprich 2005). Dort werden die folgenden »basic principles« aufgeführt:
1. Wohltun (diejenige Handlungsoption ist zu wählen, die den meisten Nutzen nach sich zieht),
2. Nichtschaden (Schaden für andere zu vermeiden gilt universell, unparteilich und ist sanktionierbar),
3. Respekt für Autonomie (das Verbot, Entscheidungen von Betroffenen zu übergehen, und das Gebot, ihre Entscheidungsmöglichkeit zu fördern),
4. Gerechtigkeit (die faire Verteilung von Nutzen und Lasten).
Dieser Normenkatalog wurde auch von anderen Verbänden sozialer Berufe übernommen, so zum Beispiel vom Berufsverband der Berufsbetreuer/innen (BdB 2009, 7).
In den »Berufsethischen Richtlinien« des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie werden folgende zentrale Grundsätze genannt (BDP/DGPs 2016, 9 f.):
1. Achtung vor den Rechten und der Würde des Menschen (Recht auf Privatsphäre, Vertraulichkeit, Selbstbestimmung),
2. Kompetenz (Verpflichtung zu Aus- und Fortbildung),
3. Verantwortung (gegenüber Klientel und Gesellschaft, Verpflichtung zu Nichtschaden),
4. Integrität (Ehrlichkeit, Fairness, Respekt, Rollenkonformität).
In der »Berufsethik« des Deutschen Berufsverbandes für Soziale Arbeit schließlich werden die folgenden Grundsätze (formuliert von Carmen Kaminsky) genannt (DBSH: 2014, 27):
1. Autonomie (Beachtung und Schutz der Selbstbestimmungsrechte der Klienten),
2. Wohlwollen (Betonung der Hilfe),
3. Nichtschaden (Schutz der Klientinnen vor Verschlechterung ihrer Lage),
4. Solidarität (eindeutige Parteinahme, Schutz der Sozialen Arbeit vor Interessen Dritter),
5. Gerechtigkeit (Berücksichtigung aller betroffenen Klienten bzw. Klientengruppen)
6. Effektivität (Vermeidung von Fehlinvestitionen und unnötigen Lasten).
Selbstverständlich erschöpft sich die kodifizierte Berufsethik der Sozialen Arbeit nicht in diesem Prinzipienkatalog, vielmehr wird viel zu ihrer Anwendung und Umsetzung Hilfreiches ausgeführt, das hier aber vernachlässigt werden kann.
Wie man sieht, ähneln sich die Zusammenstellungen weitgehend, sind ineinander überführbar oder ergänzen sich. Zahlreiche weitere Grundwerte-Kataloge, auch aus internationalen Erklärungen, ließen sich anführen. Für diese (und ähnliche) Prinzipien mittlerer Reichweite spricht, dass sie auf Anhieb umrisshaft allgemeinverständlich sind und von unterschiedlichen ethisch-theoretischen oder weltanschaulichen Standpunkten aus akzeptiert werden können. Als praxisnahe Verallgemeinerungen geläufiger ethischer Forderungen erlauben sie es den Fachkräften, sich selbst ein ethisches Urteil über konkrete Praxissituationen zu bilden, statt diese Reflexion an die Philosophen zu übertragen. Dagegen wird die typisch philosophische Frage einer systematischen Ableitung und tiefergehenden Erörterung der Prinzipien im Kontext der praktischen Orientierung eher als nachrangig angesehen und dementsprechend suspendiert.
Der entscheidende Mangel solcher Grundsatzkataloge besteht darin, dass diese relativ allgemein und nicht auf die jeweiligen fachlichen Kontexte bezogen sind. So wird der Respekt für Autonomie erst dadurch zu einem medizinethischen, dass man ihn als Grundsatz der informierten Einwilligung für risikoreiche Behandlungen spezifiziert. Das bedeutet, dass derartige Grundsätze an sich keineswegs für die Beantwortung der professionsethischen Fragen ausreichen. Sie stellen zunächst einmal nicht mehr als einen Leitfaden dar, anhand dessen Fälle analysiert werden können. Erst in der konkret-fachlichen Kasuistik zeigt sich, was es bedeutet, sich »wohlwollend«, »nichtschadend« usw. zu verhalten, wo der Nutzen und die Grenzen dieser Grundsätze liegen.
In den verschiedenen ethischen Richtlinien der Berufsverbände steht das Normativ-Ethische im Zentrum, d. h. die Verantwortung der Sozialen Arbeit gegenüber ihren verschiedenen Adressatinnen. Diese Verantwortung lässt sich mittels der Berufsfeldstruktur der Sozialen Arbeit gliedern (vgl. Schmid Noerr 2018, 96 ff.):
a. Verantwortung gegenüber der Klientel
Dieser zumeist im Vordergrund stehende Bereich umfasst den ethisch gebotenen Umgang mit Klienten hinsichtlich schwieriger Lebenslagen wie Erziehung, Betreuung, Begleitung, Beratung und beeinträchtigender psychosozialer Problemlagen wie Alter, Krankheit, Sterben, Migration, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, Behinderung. Letztlich geht es um Hilfe bei Gefährdungen eines gelingenden, menschenwürdigen Lebens.
b. Gesellschaftliche und institutionelle Verantwortung
Professionelle psychosoziale Leistungen erfolgen nicht nur zugunsten der unmittelbar Betroffenen, sondern auch im gesellschaftlichen Auftrag und im gesetzlichen Rahmen. Dieser Auftrag ergeht nicht unmittelbar an die einzelne Fachkraft, sondern an eine Einrichtung bzw. übergreifend an einen Träger mehrerer Einrichtungen, in deren Zuständigkeit die konkrete Durchführung der Sozialen Arbeit liegt. Die gesellschaftliche und institutionelle Verantwortung bezieht sich auf Strukturen, die ethischen Ansprüchen dadurch genügen, dass sie zu einem menschenwürdigen Leben in Gerechtigkeit, Solidarität und Inklusion beitragen. Damit erwächst zugleich die sozialethische Aufgabe, die normativen Grundlagen einer gerechten, solidarischen und inklusiven Gesellschaft zu stärken.
c. Verantwortung gegenüber Berufskolleginnen und -kollegen, institutionellen Trägern und Fachkräften anderer Berufe
Dies ist der Bereich der institutionellen Ethik oder Organisationsethik, die der Sozialethik zuzurechnen ist. Sie thematisiert zum Beispiel die Problematik der scheinbaren Verflüchtigung individueller Verantwortung in institutionellen und fachübergreifenden Kontexten oder auch die Geltung des Prinzips der Subsidiarität in der intra- und interinstitutionellen Zusammenarbeit.
d. Verantwortung gegenüber der eigenen Berufsrolle
Hier geht es u. a. um die professionsethische Verpflichtung der Erfüllung fachlicher Standards oder der Wahrung des öffentlichen Ansehens des eigenen Berufs.
Die Professionsethik der Sozialen Arbeit beschränkt sich nicht auf normative Ausführungen über die Verantwortung der Fachkräfte, sondern reflektiert fachliche Problemlagen in unterschiedlichen ethischen Perspektiven. Sie befasst sich auch mit deskriptiven und erklärenden Ausführungen sowie Empfehlungen zur Bewältigung von Lebenskrisen der Betroffenen. Im folgenden Abschnitt werden verschiedene ethische Zugangsweisen zu den Problemen der Moral beschrieben.