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2.4 Die Balance der Werte

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Eine Analyse ethischer Spannungsfelder findet sich ansatzweise schon in der Ethik des Aristoteles aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. Sie wurde im 20. Jahrhundert in der philosophischen Wertethik wieder aufgegriffen und erweitert. In dieser Tradition werden Tugenden bzw. Werte nicht als statische Größen angesehen, sondern sind je nach Situation graduell zu bestimmen, und zwar nach zwei Dimensionen:

• Zunächst gibt es ein Mehr oder Weniger an Intensität der Tugend, und jede Situation hat ihr angemessenes Maß. Ein Beispiel ist das Schenken. Sein Null-Wert ist das Nicht-Schenken. Der angemessene Wert eines Geschenks hängt vom Anlass und der Beziehung der Beteiligten und den Ressourcen des Schenkenden ab.

• Sodann ist jede Tugend in der Dimension des Maßes zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig situiert, die beide Untugenden darstellen. So ist nach Aristoteles Großzügigkeit das richtige Maß zwischen Verschwendung und Geiz.


Abb. 4: Bestimmung einer Tugend in den Dimensionen von Wert und Maß

In der neueren Wertethik des 20. Jahrhundert wurde dieser Ansatz weiterentwickelt und von der angewandten Psychologie und Kommunikationstheorie in Gestalt des »Wertequadrats« von Friedemann Schulz von Thun (2003, 38 ff.) wieder aufgegriffen. Demnach lässt sich jeder Wert nach drei Richtungen hin abgrenzen, nämlich gegenüber einer »Schwestertugend«, einer »Übertreibung« der Schwestertugend und einer »Übertreibung« seiner selbst. Nach Schulz-von Thun

»kann jeder Wert (jede Tugend, jedes Leitprinzip) nur dann zu einer konstruktiven Wirkung gelangen, wenn er sich in ausgehaltener Spannung zu einem positiven Gegenwert, einer ›Schwestertugend‹, befindet. […] Ohne diese ausgehaltene Spannung (Balance) verkommt ein Wert […] zu seiner entwertenden Übertreibung.« (Schulz von Thun 2003, 38 ff.)

Ein Beispiel aus der Sozialen Arbeit sind die ›Tugenden‹ Nähe und Distanz. Da sie beide an sich unverzichtbar sind, lassen sie sich jeweils als »Schwestertugenden« bezeichnen. Sie lassen sich jedoch nicht gleichzeitig realisieren. Erforderlich ist vielmehr eine situativ angemessene Abwägung zwischen ihnen, wobei sich diese insgesamt in einer Balance befinden. Um diese zu erreichen, sind die beiden weiteren Abgrenzungen notwendig. Gehen wir von der Tugend der Nähe mit ihrer Schwestertugend Distanz aus. Übertreibt man letztere, dann wird daraus ein formalistisches, expertokratisches Verhalten. Wird dagegen die Nähe übertrieben, dann wird sie zu Überversorgung, identifikatorischer Verschmelzung oder Gängelung. Nach Schulz von Thun kann man diese Struktur im folgenden »Wertequadrat« veranschaulichen ( Abb. 5).

Das Konzept besagt nicht, dass ein gleichbleibender Mittelwert als Zustand ›zwischen‹ zwei entgegengesetzten Schwestertugenden/-werten, vielleicht sogar als eine Art arithmetisches Mittel festgeschrieben werden soll. Es gibt durchaus Situationen, in denen extreme Nähe oder extreme Distanz angebracht sind. Aber auch bei der extremen Steigerung eines Wertes ist die Spannung zu seinem positiven Gegenwert beizubehalten. D. h., er lässt sich nur steigern, wenn zugleich die Spannung


Abb. 5: Wertequadrat (nach F. Schulz von Thun), ausgehend von »Nähe«

zum Gegenwert gesteigert wird, wenn also der positive Gegenwert virtuell mitwächst. Bei der Entscheidung über Wert und Maß ist die Abgrenzung gegenüber den möglichen Übertreibungen ausgesprochen hilfreich. Problematische Untugenden lassen sich fast immer als Deformationen von Tugenden verstehen. Sie können und sollen nicht ausgelöscht werden oder durch ihr Gegenteil überkompensiert werden, sondern unter Beibehaltung ihres positiven Kerns durch ihren positiven Gegenpol ergänzt werden. Beispielsweise lässt sich »Neid« als eine Übertreibung und subjektive Vergröberung des Verlangens nach Gerechtigkeit auffassen, »Gier« als Übertreibung des Besitzstrebens. Entsprechendes lässt sich für andere soziale Grundgefährdungen finden, die im christlichen Denken früher »Todsünden« genannt wurden: »Hochmut« als Übertreibung von Selbstachtung, »Wollust« als Übertreibung von Genussfähigkeit oder »Jähzorn« als Übertreibung von Empörung.

Das Wertequadrat ist in erster Linie – und so wird es auch in diesem Buch eingesetzt – ein Instrument zur Analyse von »Tugenden« und »Untugenden«. Es ist eine theoretische Grundlage, die sich praktisch ganz unterschiedlich umsetzen lässt. So lässt es sich zum Beispiel als Entwicklungsquadrat nutzen. Es dient im Rahmen der psychologischen Erwachsenenbildung dazu, sinnvolle Entwicklungsrichtungen anzugeben und sinnwidrige Entwicklungen der Überkompensation zu erkennen, wie sie besonders in Paar- und Gruppenkontexten oft vorkommen. Wer sich in der Auseinandersetzung mit anderen Wahrnehmungsweisen und Wertpräferenzen ein zum Gewohnten konträres Entwicklungsziel setzt, zum Beispiel die Neigung zu überwinden, Teampartner aggressiv zu entwerten, sollte anstreben, andere zu akzeptieren, dabei aber die Akzeptanz nicht mit der unterwürfigen Zustimmung zu allem und jedem verwechseln und sie zugleich in einer produktiven Balance mit der Fähigkeit zur Konfrontation halten. Die Entwicklung sollte in diesem Fall (in der Bildlichkeit des Schemas gesprochen) möglichst von unten rechts nach oben links (und nicht nach unten links) verlaufen ( Abb. 6).

Im Zusammenhang der praktischen Werte-Antinomien kann man das Werte- und Entwicklungsquadrat auch als Deeskalationsquadrat verwenden. In der Polarisierung entgegengesetzter Auffassungen neigt man nämlich leicht dazu, in der Abwehr der Gegenposition diese gewissermaßen zu karikieren und mit ihrer jeweiligen Übertreibung zu verwechseln. Derjenige, dem eine aggressive Entwertung vorgeworfen wird, verteidigt sich mit dem Gegenvorwurf, man verlange von ihm eine unterwürfige Zustimmung zu allem und jedem. Hier kann die Einsicht in das Wertequadrat helfen, Rechthaberei und unproduktive Polarisierungen zu überwinden.

Abb. 6: Entwicklungsquadrat bzw. Deeskalationsquadrat

Eine scheinbar entgegengesetzte Richtung nimmt eine Intervention, die die Übertreibungen provokativ einsetzt, um eine entsprechende Gegenreaktion des Klienten hervorzurufen. Man könnte dies als paradoxes Eskalationsquadrat bezeichnen. So spiegelt in der »Provokativen Therapie« des Rogers-Schülers Frank Farrelly die Therapeutin die verborgenen selbstschädigenden Muster des Patienten diesem in übertreibender Form wider, um damit dessen eigene emotional konstruktive Kräfte hervorzulocken. Farrelly (2005) entwickelte seinen Ansatz ursprünglich im psychiatrischen Rahmen. Inzwischen wird das Verfahren vor allem auch in der Beratung und im Coaching angewendet. Der Berater fungiert als »Advocatus diaboli«, der durch verbale Übertreibung eine humorvolle Distanz der Klientin zu sich selbst schafft. Er hilft ihr, sich nicht als Opfer zu sehen und ihre Selbstverantwortlichkeit zur Geltung zu bringen. Dies funktioniert allerdings nur auf der Basis einer non-verbalen Grundbotschaft der Wertschätzung. Durch diese unterscheidet sich die provokative Intervention der Übertreibung von Zynismus oder Sarkasmus.

Das Wertequadrat trägt dazu bei, zwischen Werten abzuwägen, indem diese deutlicher konturiert werden. Beispielsweise sind die Fürsorge für die Klienten und die Orientierung an ihrer Selbstbestimmung Grundwerte der Sozialen Arbeit. Offensichtlich entsteht nun in vielen Fällen ein Spannungsverhältnis zwischen diesen. Soll im konkreten Fall die Sorge für das Klientenwohl oder die Anerkennung des Klientenwillens Vorrang haben? Um das situativ richtige Maß zwischen diesen zu finden, ist es hilfreich, sie gegenüber ihren jeweiligen Übertreibungen abzugrenzen, durch die »Fürsorge des Wohlbefindens« zu Bevormundung und »Anerkennung der Selbständigkeit« zu Vernachlässigung werden ( Abb. 7).


Abb. 7: Abwägung zwischen Wohl und Wille in Abgrenzung zu Bevormundung und Vernachlässigung

Nach demselben Muster kann man sich schließlich, angesichts der immer mitspielenden Ungewissheiten bei der Bewertung von Ereignissen und Erlebnissen auch die Balance zwischen dem Mut zur Deutung und der Vorsicht gegenüber der Deutung des jeweiligen Falles klarmachen, wobei der Mut in Richtung Voreingenommenheit und die Vorsicht in Richtung Verzagtheit übertrieben werden können.

Ethische Zielkonflikte in der Sozialen Arbeit

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