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DerUnvollendete Palast

Im Bergland nördlich des Reiches der Tugend, im Dritten Mond im Jahr 472 der Blauen Götter

»Worauf, denkst du, warten die Krieger?« murrte der Festungsbauer Tüengtöng in der kehligen Sprache der Berglandbewohner der Nördlichen Königreiche.

»Du willst wohl wieder die Rute spüren?« spottete Dongkök. Sein Akzent verriet ihn als das, was man hier Südländer nannte, obwohl er lediglich aus dem Reich Hüane kam. »So was haben wir nicht zu fragen.«

»Ich will aber wissen, wie oft ich diese Pfähle noch hauen muß«, maulte Tüengtöng und deutete anklagend auf den vier Schritt langen Zedernstamm, dessen Spitze er bearbeitete. »Du bist erst seit einem halben Jahr da. Ich aber habe die ersten Pfähle schon im letzten Herbst eingerammt. Nach der Kleinen Regenzeit mußte ich sie ersetzen, und als die Bäume blühten, schon wieder.«

»Ihr Provinzler«, lachte Dongkök, »ihr hättet eben gleich Bambus nehmen sollen.« Er setzte erneut die Säge an dem fremdartigen Rohr an. Die Kamele brachten es in langen Karawanen aus dem Süden, und die Handwerker, die es bearbeiteten, waren von ebenso weit her angereist.

»Die Belagerung war nicht unsere Idee«, protestierte Tüengtöng. »Der ganze Krieg war nicht unsere Idee. Ihr seid zu uns gekommen mit euren Lauzöngs und Qengtans und Ziangs.« Die Kastennamen kamen ihm schwer über die Zunge. Obwohl die Nördlichen Königreiche seit Generationen Eroberung waren, machte die Bevölkerung nur den Priestern, Beamten und Aufsehern gegenüber vom Katauekischen Gebrauch – oder wenn sie, wie Tüengtöng, unerwartet mit Fremden zusammenarbeiten mußten.

»Und ich hab dir schon acht mal acht Mal gesagt«, seufzte Festungsbauer Dongkök und fing an zu sägen, »daß ich aus dem Reich Hüane stamme. Außerdem hab ich keine Ahnung, wo all die Bonzen herkommen. Mantikor Leng ist, wie mir mal ein alter Leibwächter sagte, von Hüane so weit weg, daß er als junger Mann losging, mit den ersten grauen Haaren dort ankam und als alter Mann zurückkehrte.«

»Und worauf warten wohl ... sie?« Tüengtöng blickte scheu in die Mitte des Belagerungsringes, wo der Unvollendete Palast stand. Er hatte wie alle Festungsbauern versucht, sich an den Anblick zu gewöhnen, und war gescheitert: der fremdartige Ringwall, verkleidet mit rötlichem Gestein und dennoch unregelmäßig wie gewachsener Fels, der Graben und die Altäre davor, das Tor der sechs Knäufe in dem Wall und die bizarren Türme des geheimnisumwitterten roten Bauwerks, die hinter dem Wall aufragten ... und auf dem Ringwall die mächtigen blauen Standbilder, von denen die Priester sagten, daß es keine Standbilder seien ...

»Ich glaube, du willst wirklich Schwierigkeiten bekommen«, zischte Dongkök. »Es sind schon Leute tot umgefallen, die nur hingesehn haben. Das hat mir ein Priester erzählt.«

Aus den umliegenden Wäldern des weitläufigen Tales schallten die Äxte und Sägen der Festungsbauern. Auch wenn das Länder überspannende Feld der Krieger wartete, war es nicht untätig. Die Stellungen wurden seit Monden ausgebaut. Korbflechter und Schaufelträger hatten Körbe aus Weidenruten gefertigt, mit Erde gefüllt und zu Barrikaden aufgetürmt. Steinbrecher und Ziegler hatten sie mit Felsbrocken, Backsteinen und Kies befestigt. Männer wie Tüengtöng und Dongkök waren dafür zuständig, darauf und davor Palisaden aus mörderisch zugespitzten Zedernstämmen und Bambusrohr zu errichten.

»Ich war hier«, beharrte Tüengtöng trotzig, aber dennoch zur Sicherheit nur halblaut, »als die Herren der Kammer der Geomantie die Meßlatten aufstellten. Da ist niemand tot umgefallen. Sie verboten uns nur, näher ranzugehen.«

Der innere Belagerungsring hatte einen Durchmesser von beinahe einem Läng. Alle fünfzig Götterfuß stand ein mächtiger Holzturm und bildete den vorderen Eckpunkt einer Stellung. Dahinter erstreckten sich eine Wegstunde weit andere Bauten: ein befestigtes Heerlager nach dem anderen, dazu die Zeltstädte der Festungsbauern und Troßleute, die Magazine, Stallungen, Garküchen und Feldlager für die Verwundeten, verbunden durch Reiterstraßen und Feldwege, getrennt durch Wassergräben und weitere Mauern.

»Ja, die Priester und die Herren der Kammer«, sinnierte Dongkök. »Ich hab einen Bonzen sagen hören, daß sie acht Tage brauchen, um den ganzen Verhau abzuschreiten.«

»Ja«, höhnte nun Tüengtöng, »in ihren Sänften!«

Aber es stimmte, daß die Befestigungsanlagen unüberblickbar waren.

»Die Festungsbaumeister«, versuchte nun Tüengtöng etwas Kluges zur Unterhaltung beizusteuern, »haben eigens Straßen in die benachbarten Täler angelegt, um Holz, Steine, Erde und Sand herbeischaffen zu können.«

»Ihr Provinzler«, lachte ihn Dongkök wieder aus. »Sie haben neue Straßen bis ins Reich Hüane und nach Turgatan gebaut. Was denkst du denn, wie all die Heerscharen hierhergekommen sind?«

»Ich hab noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehn, schon gar nicht bewaffnete.«

»Noch nie, so haben die Priester verkündet«, ereiferte sich Dongkök weiter, »noch nie hat der Herr der Unwandelbaren Ordnung ein solch gewaltiges Heer versammelt.«

»Dabei haben die Heerscharen noch lange nicht all ihre Stellungen bezogen. Als wir mit den Holzfällern auf die Hügel hinaufgezogen sind, haben wir noch mal so viele befestigte Lager in den benachbarten Tälern gesehn.« Tüengtöng fragte sich, ob man sie dem Feind noch nicht zeigen wollte oder ob die Einheiten einander einfach im Weg gestanden hätten.

»Außerdem heißt es, daß noch immer Heerscharen aus dem Süden, aus der Hauptstadt, von der Mangalischen Küste und vom Turga-Busch im Anmarsch sind. Das hat mir ein Krieger gesagt«, wußte Dongkök zu berichten.

»Warum sollte ein Krieger mit dir sprechen?« meinte Tüengtöng skeptisch. Der eingeborene Festungsbauer blickte wohl zum tausendsten Mal hinüber zu dem gewaltigen Tor der sechs Knäufe. Es wurde von sechs kupfernen Knäufen geziert, zwei in Kopfhöhe, zwei so hoch, daß Männer zu Pferd sie noch erreicht hätten, und zwei so weit oben, daß Menschen wohl einen halben Holzturm besteigen müßten. Aber dieses Tor war nicht für Menschen bestimmt.

»Ich kann mir einfach nicht vorstellen«, begann Tüengtöng schaudernd ein neues Gespräch, »daß es jemand gibt, der diese sechs Knäufe gleichzeitig drehen kann – egal, was die Priester und Krieger erzählen.«

»Jeder der drei ehernen Riegel dahinter«, wußte Dongkök zu berichten, »wiegt soviel wie ein Wasserbüffel. Das haben die Ingenieure errechnet, hat mir unser Festungsschmiedemeister erzählt.«

»Wie lange braucht ihr zwei da noch?« blaffte der Vorarbeiter herüber.

Tüengtöng nahm sich vor, nicht mehr so viel zu schwatzen. Er dankte dem Himmel, daß er nicht direkt im Abschnitt vor dem Tor arbeiten mußte, wo die Götterfresser auf ihren Einsatz warteten. Die Offiziere hatten keinen Zweifel daran gelassen, daß dort eine Stellung errichtet werden mußte, die einem geradezu unvorstellbaren Ansturm standzuhalten hatte. Die Vorarbeiter hatten die Handwerker dort besonders geschunden; obwohl die Befestigung seit Monden so gut wie vollendet war, wurde täglich daran gearbeitet. Jeden Morgen gingen die Inspektoren der Kammer des Krieges die Stellung ab. Und wenn sie mit ihrem Fächer auf einen Pfahl, einen Erdhaufen oder einen Knoten deuteten, dann wurde dieser ausgetauscht, selbst wenn das Holz noch grün, die Erde noch feucht oder der Knoten noch geschmeidig war.

Die Kriegsherren, so hatte es geheißen, wollten verhindern, daß auch nur ein einziger Feind entkäme ...

»Wie geht die Sage mit der alten Schmiede noch einmal?« flüsterte Tüengtöng. Er spürte Angst aufsteigen – und wenn er Angst verspürte, mußte er sprechen. ›Die alte Schmiede‹ ... so hieß die Ruine unweit des Ringwalls, deren verfallene Mauern als Fundament der Stellung dienten.

Dongkök warf ihm kurz einen verächtlichen Blick zu und schaute dann verstohlen zu dem Vorarbeiter. Aber er konnte der Versuchung nicht widerstehen. »Einst, als ... sie auf die Welt herabgestiegen waren«, raunte er zurück, »entführten sie drei Brüder aus dem Reich des Jadethrones, die die besten Schmiede ihrer Zeit waren.« Er rückte verschwörerisch näher. »Und sie zwangen sie, hier unvergleichliche Waffen für die ... für sie zu fertigen.«

Tüengtöng fühlte sich alles andere als beruhigt von dem Wissen, ausgerechnet an dieser Stelle zu arbeiten. Wieder blickte er scheu über die grasbedeckte Ebene zu dem Ringwall mit dem Graben ringsum. Nahe der Mauer, im Schatten einiger Schirmpinien, standen die Altäre. Generationen von Priestern und Bonzen hatten hier den Tribut der Roten Steine erbracht.

Heute gab es keine Roten Steine mehr. Jedenfalls kannte Tüengtöng niemanden, der je einen gefunden hätte. Aber seine Großmutter hatte ihm noch von dem Korbflechter Füengqo erzählt, der im Lehm des Flußbettes einen Roten Stein von der Größe eines Daumennagels entdeckt hatte und dann die Tochter des Dorfvorstehers geheiratet hatte.

Tüengtöng blickte hinüber zu den Lagern der Bogenschützen, der Schleuderer und der Maschinenbesatzung. Er fragte sich, ob diese Männer Angst hatten. Daß die Krieger mit den roten Masken keine Angst kannten, war klar. Gemeinhin hieß es, die Angehörigen der Kriegerkaste erschlügen alle ihre Kinder, die Angst zeigten. Aber die Hilfstruppen, wie die Ziangs sie abfällig nannten, schienen normale Männer zu sein: kräftiger natürlich als ein Reisbauer und viel erfahrener, hatten sie doch in Eroberungen im ganzen Reich der Tugend gedient. Aber hinter den rotlackierten Lederharnischen steckten Menschen – und Tüengtöng an ihrer Stelle hätte Angst gehabt. Ach was, Tüengtöng hatte Angst.

Ja, dachte er, das alles ist nicht mein Belang. Mein Belang ist es, Zedernstämme anzuspitzen: unten so, daß sie ins Erdreich oder in die mit Erde gefüllten Körbe gerammt werden können; oben so, daß sie dem Ansturm eines Ochsen standhalten können. Die Vorarbeiter sprachen immer von Ochsen. Aber sie alle wußten, wen sie wirklich meinten.

Himmlisches Feuer

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