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DerHerr Der Unwandelbaren Ordnung

Auf der Zeremonialterrasse vor dem Unvollendeten Palast, etwa zur gleichen Zeit

»Fast wolkenlos«, schwärmte Hohepriester Musang näng Kadeng, »das verspricht wieder ein prachtvoller Sommertag zu werden.«

»Wie bedauerlich«, meinte Hüang näng Lüoging lakonisch, »daß es für so viele Kataueken wohl der letzte sein wird.« Wie oberflächlich war dieser dekadente Hohepriester eigentlich? Hüang hielt sich für einen Mann, der seine Gefühle so vollständig beherrschte wie seine Untergebenen. Aber er brauchte alle Kraft, um nach der Himmelserscheinung die Maske tugendhaften Gleichmuts zu wahren.

»Die Sonne strahlt so ungezähmt.« Musang schien die Bemerkung überhört zu haben. »Man vergißt beinahe, daß das hier im Norden nicht selbstverständlich ist. Nur einige wenige Wochen lang, so haben mir die einheimischen Priester berichtet, hat die Sonne hier jene Kraft, die unsere zentralen Eroberungen um Mantikor Leng das ganze Jahr über, von den zwei Regenzeiten abgesehen, erglühen läßt. Auch das Blau des Himmels ist ein anderes hier: man nennt es Azur und nicht Indigo.«

»Wie gewaltig das Reich der Tugend ist«, meinte Hüang, »daß es Eroberungen umfaßt, in denen selbst die Ordnung des Himmels eine andere ist.«

»Ich denke doch«, antwortete Hüangs Verbündeter und Rivale ölig, »daß diese Sternschnuppen über dem gesamten Reich der Tugend zu sehen sind.« Also doch! Musang näng Kadeng hatte ihn schon wieder mißverstanden; er war offensichtlich selbst in Gedanken, welche die Maske seines genußsüchtigen Gesichts verbarg. Aber er hatte recht. Mittlerweile sah man selbst bei Tag Sternschnuppen, die einen dünnen, weißen Rauchfaden hinter sich herzogen.

»Kinder des Schweifenden Sterns heißen sie auf den alten Elfenbeintafeln der Seidenen Bibliothek«, sagte nun Hüang mit einem Unterton, in dem etwas Genießerisches lag. Ohne Zweifel kamen die Sternschnuppen aus der gleichen Himmelsregion wie der neue Himmelskörper, der, weniger strahlend als die Sonne, aber glanzvoller als der Mond, im Ostnordosten stand.

Das Zeichen, das Hüang gebraucht hatte, übertraf all seine Erwartungen. Selbst er fragte sich im stillen, welches Zeichen der Himmel den Sterblichen da gab.

»Wie auch immer«, fügte er nun wieder forsch hinzu, »es ist an uns, die Bedeutung dessen festzulegen, was das gesamte Reich der Tugend sieht.«

»Ja, es ist höchste Zeit«, pflichtete Musang näng Kadeng zu. »Es wurde zunehmend mühselig, für den Herrn der Unwandelbaren Ordnung einen offiziellen Besuch nach dem anderen zu organisieren. Er hat längst jede Statthalterei und jeden Hochtempel nördlich des Qiu inspiziert.«

Der Herr der Unwandelbaren Ordnung hielt sich – ebenso wie sein Hofstaat und die meisten Herren der Geheimen Kammern – bereits seit nahezu drei Monden in den Eroberungen am oberen Qiu auf. Noch nie hatte ein Herr der Unwandelbaren Ordnung im Rahmen eines Feldzuges so viel Zeit fern der Hauptstadt verbracht. Aber er befand sich letztlich auf einem Feldzug – auch wenn alle bemüht waren, dies zu verhehlen.

Während Hüang näng Lüoging – ebenfalls abgeschnitten von der Seidenen Bibliothek – ein Zeichen nach dem anderen verwarf und auf eines hoffte, das den Angriff auf die Blauen Götter rechtfertigen konnte, mußte er den Herrscher in Reichweite seiner wartenden Truppen halten. Die Herren der Geheimen Kammer der Tugendhaften Ordnung hatten in den Nördlichen Königreichen Einweihungen, Hofbälle und Jagden organisieren und den zunehmend reisemüden Herrn der Unwandelbaren Ordnung bei Laune halten müssen. Auch zwei neue Konkubinen von erlesener Schönheit, Prinzessinnen aus Tamarindien und Tschang Po Tschar, hatten den verwöhnten jungen Mann kaum mehr davon ablenken können, daß er wie ein antechambrierender Höfling zu warten hatte, bis ihm der Himmel ein Zeichen der Tugend gab.

Aber Hüang näng Lüoging hatte geahnt, daß ein geeignetes Zeichen schnelles Handeln erfordern mochte. Es wäre unmöglich gewesen, die hundert Tage abzuwarten, die die Pferdesänfte des Göttergleichen und sein Riesen-Troß aus Sekretären, Dienern, Leibärzten, Sicherheitsbeamten, Leibwachen, Spitzeln und Konkubinen benötigten, um von Mantikor Leng den gesamten Qiu aufwärts bis zum Unvollendeten Palast zu reisen. Und selbst in der schnellsten Reisekutsche hätte der Herrscher dreißig Tage benötigt, nach denen er wohl mehr tot als lebendig angekommen wäre.

Und dann war der Schweifende Stern erschienen und binnen zwei Wochen zur vollen Größe erblüht. Hüangs Sterndeuter hatten nur einige Stunden gebraucht, um anhand alter astronomischer Kupferplatten und Seidengemälde vorhersagen zu können, daß der Himmelskörper deutlicher, ja unübersehbar werden würde. Der Hohepriester selbst hatte einige weitere Stunden benötigt, um gemeinsam mit der Geheimen Kammer des Himmlischen Willens zu erklären, daß dies das Zeichen des Himmels sei, jenen Feldzug zu beginnen, dessen Planung jeder bei Hofe leugnete. Selbst da hatte es noch vier Tage und Nächte gebraucht, den Herrn der Unwandelbaren Ordnung aus seinem nördlichsten Jagdschloß hin zum Unvollendeten Palast zu geleiten.

Dabei war die eigentliche Kriegserklärung bereits vor vier Monden erfolgt, am Mantikorentag, jenem einzigartigen Feiertag, der im katauekischen Kalender ein neues Jahr mit dreizehn Monden zu jeweils 28 Tagen einleitete. Als Herr der Unwandelbaren Ordnung mußte der Nachfolger des Kriegsherrn der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste, jährlich den Vertrag mit den Blauen Göttern erneuern. Und dies war heuer zum ersten Mal nicht erfolgt.

Wie erwartet hatten die Fangs nicht reagiert. So, wie sie in den letzten zwei Jahrhunderten nicht reagiert hatten, wenn die jährlichen Karawanen immer weniger Rote Steine zum Opfer gebracht hatten; wie sie in den letzten Jahrzehnten nicht reagiert hatten, wenn die Karawanen immer häufiger ganz ausgeblieben waren, weil die Roten Steine, ohnehin immer seltener gefunden, in den Geheimen Kammern der Geomantie, der Nautik, der Astrologie, der Alchimie, der Architektur, der Lebensdeutung und der Ingenieurskunst verwahrt wurden.

Damit hatten sie, was Hüang betraf, ihr Todesurteil unterschrieben. Vor fünf Jahren war sein ehrgeiziger Plan geboren worden, den Blauen Göttern die Macht zu entreißen. Drei Jahre hatte er damit verbracht, die Seidenschriften und Kupferplatten der ihm unterstehenden Seidenen Bibliothek zu durchforsten, dann war er sich sicher gewesen.

Hüang erinnerte sich an den entscheidenden Disput in der Geheimen Kammer des Himmlischen Willens. »Aber, o hochehrwürdiger Hüang«, war der erste Einwand der anderen Hohepriester gewesen, »die Blauen Götter haben einst die Nördlichen Königreiche zerschlagen, weil diese den Tribut der Roten Steine verweigerten.«

»Dies, hochehrwürdige Herren der Geheimen Kammer«, hatte Hüang geantwortet, »ist unwahr. Selbst in den ältesten Schriften jener Zeit heißt es nur, daß die Nördlichen Königreiche vom Zorn des Himmels zerschlagen worden seien. Erst später wurden sie von den Blauen Göttern heimgesucht.«

»Aber, hochehrwürdiger Hüang«, hatte sodann Musang näng Kadeng eingewandt, »es heißt, daß die Blauen Götter unverwundbar seien.«

»Dies, hochehrwürdiger Musang«, war Hüangs wohl vorbereitete Antwort gewesen, »ist ebenfalls unwahr. Das altkatauekische Wort in den Seidenschriften ist ›unbesiegbar‹. Die Dokumente berichten lediglich, daß es damals selbst dem Kriegsherrn der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste, unmöglich war, sie zu besiegen.«

»Aber, hochehrwürdiger Hüang«, hatte nun Hohepriester Tengfu das Wort ergriffen, »wie sollte jemandem, der heute lebt, gelingen, was dem nicht gelang, der die beiden Ströme zum Qiu, dem Einen Strom, vereinte, der die gewaltige Pagode von Gingang Gao erbaute und der die Sterne neu erschuf?«

»Es kann keinen Zweifel geben«, hatte Hüang eingeräumt, »daß niemand die riesenhaften Bauwerke im Herzen Mantikor Lengs zu erklären vermag – oder die Nekropole mit der Unsterblichen Heerschar darin. Aber ebensowenig Zweifel kann es geben, daß die Blauen Götter, die heute den Tribut der Roten Steine mit derben Flüchen entgegennehmen und sich dann wieder hinter die Mauern des Unvollendeten Palastes zurückziehen, wenig gemeinsam haben mit jenen überirdisch starken Kriegern, die sich allein ganzen Heerscharen stellen konnten und deren Waffen Feinde bereits am Horizont erschlugen.«

Darauf hatte Hüang von den alten Sagen berichtet und wie wenig sie dem entsprachen, wie die Welt heute war. Keiner der Nautiker, die die Ozeane des Morgens und des Abends durchmessen hatten, hatte jemals die Hydra oder den Vogel Roch erblickt, von denen ihre mangalischen Vorfahren während Sturmfahrten und in düsteren Hafenkaschemmen erzählt hatten. Kein Geomant, der die Weltenmauer erkundet hatte, hatte je auch nur eine Spur der Verlorenen Städte Shaitang und Xang Na Tang gefunden, obwohl die Magier der Eisernen Türme einst durch alle Eroberungen gewandert sein sollten, um den Sterblichen die Lehre von der himmlischen Ordnung und der Heiligkeit der Acht zu predigen. Selbst die Bauern fürchteten sich heute noch vor den Wung Lings und opferten ihnen zweimal jährlich von den ersten Feldfrüchten, obwohl noch nie jemand einen Reisgeist gesehen hatte. Und natürlich hatte noch kein lebender Kataueke jemals eine Mantikore gesehen, deren Statuen in Gingang Gao zu Hunderten standen ...

»Freilich«, war Hüang sich damals mit feinem Lächeln selbst ins Wort gefallen, »denn wir wissen ja, daß der Kriegsherr der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste, sie alle eigenhändig erschlagen hat ...«

Dieser Feldzug war, wenn man es streng betrachtete, der Bastardsohn zweier verfeindeter Intrigen. Die Hohepriester hatten dem jungen Herrn der Unwandelbaren Ordnung zu vermitteln versucht, daß er ein Reich des Friedens geerbt hatte und daß die Vorstellungen der Herren der Kammer des Krieges entsprechend untergeordnete Bedeutung hatten. Kriegsherr Kengsau hua Gilang hatte es verstanden, in dem Herrscher den Wunsch zu wecken und zu nähren, sich einen Ehrennamen zu verdienen, der im Krieg geschmiedet worden war: in einem einzigartigen Krieg.

Sowohl den Kriegsherren wie den Hohepriestern war klar, daß ein Krieg fast unvermeidbar war, um die Statthalter und Präfekten in Zaum und Zügel zu halten. Zu groß war das Reich, zu fern lagen die Hauptstädte, um den Provinzherren den Marschtritt nicht mit der Peitsche vorzugeben.

Eifersüchtig hüteten einzelne Eroberungen ihre Geheimnisse wie Purpur, Seide und Porzellan, über die nur der gebieten konnte, den sie fürchteten und ehrten.

Alle zwei Läng standen die Klausen der Botenläufer, die jede Nachricht keuchend in der Stafette weitergaben. Und dennoch brauchten Nachrichten bis zum Labyrinth mehr als zwei Tage und bis zur Grenze von Karadschurgjia beinahe sieben. Das bedeutete zwei Wochen des Wartens, ehe die Qengtan in der Stadt der Mantikoren wußten, ob ein Befehl eingetroffen war, und zumindest weitere fünf Wochen, ehe ein Inspektor aus Mantikor Leng überprüfen konnte, ob der Statthalter und seine Beamten tatsächlich den Anweisungen folgten.

Das hieß auch, daß plündernde Turgas, die das Labyrinth umgangen hatten, oder mordende Karadschurgjiter am Oberlauf des Qiu bereits seit einer Woche durch brennende Dörfer ritten, wenn die Innere Kammer des Krieges das erste Mal davon Kunde erhielt. Und was alles geschehen konnte, während ein Entsatzheer über zwei Monde lang heraneilte, das wollte kein Qengtan wirklich wissen.

Nur ein einzigartiger Krieg würde den Feinden des Reiches der Tugend – sowohl den Barbaren und Kopfjägern an seinen Grenzen als auch den regionalen Bonzen, die von ihren eigenen Reichen träumten – unmißverständlich klarmachen, daß Serkan Katau noch immer kraftvoll war wie vor acht mal acht mal acht Jahren: eine Reich gewordene Urgewalt, geführt von den obersten Dienern des Himmels, verteidigt von den besten und zahlreichsten Kriegern der Welt.

»Der Herr der Unwandelbaren Ordnung erscheint!« Die Zeremonialterrasse bildete nun die freie Fläche, hinter welcher der Herrscher wie auf einer Bühne Hof hielt. Das Palastzelt stand an einem kleinen, künstlichen See. Der Weg vom Palastzelt zum Thron war mit neu geknüpften Seidenteppichen ausgelegt, denn der Göttergleiche durfte in der Öffentlichkeit nichts betreten, worauf schon ein anderer vor ihm den Fuß gesetzt hatte.

Für die Dauer des Aufenthalts des Höchsten Kriegsherrn der Geheimen Kammer im Feld war das Hofzeremoniell außer Kraft gesetzt durch jenes, das von seinem ersten Vorfahren überliefert war. Herren der Geheimen Kammern durften sprechen, ohne ihr Leben verwirkt zu haben, weil der Göttergleiche sein Lanzenszepter nicht auf sie gerichtet hatte. Niederere Herren der Kammern und höchste Offiziere durften die letzten vier mal acht Götterfuß vor dem Thron auf den Knien zurücklegen und nicht auf dem Bauch, wie es in der Stadt der Mantikoren Brauch war.

Nun erschien der glockenförmige Thronhimmel aus weißer Seide, groß wie eine Trauerweide, an gebogenen Stangen getragen von acht Herren der Kammer der Tugendhaften Ordnung. Der Höchste Kriegsherr der Geheimen Kammer hatte auf die drei Mäntel verzichtet; nur zwei Diener trugen die Schleppe des roten Kriegsmantels, der an das vergossene Blut der sieben Brüder des Mantikorentöters erinnerte. Falls es sieben Brüder gewesen waren, dachte Hüang näng Lüoging.

Das weiße Brokatkleid des Herrschers wurde von einem ebenfalls weißen Bund gehalten, dessen lange Bänder weitere zwei Träger erforderten. Der mächtige Kopfputz aus weißem Filigran ließ den Göttergleichen überlegen groß erscheinen und zugleich wie einen angriffslustigen Zwerg mit riesigem Kopf. Natürlich war sein Antlitz kunstvoll enthaart und bemalt wie immer: die rote Farbe des kraftvoll tobenden Kriegers, die edel geschwungenen Brauen des Herrschers, der gemalte Gabelbart des Edelmannes.

In den Händen hielt er das Lanzenszepter und den Fächer in den drei Reichsfarben. Das Szepter war lediglich ein ellenlanges Geflecht aus feinem Golddraht. Mehr hätte der feingliedrige junge Herrscher auch kaum tragen können. Das traditionelle Szepter, das aus der Stoßlanze des Kriegsherrn der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste, hervorgegangen war, wurde weiter hinten im Zug von einem Herrn der Kammer der Tugendhaften Ordnung getragen; behängt mit den nachgebildeten Köpfen und Kronen all der besiegten Könige, verlangte es einen äußerst kräftigen Träger.

Dem Göttergleichen folgten die Eunuchenprinzen mit den eroberten Herrschaftssymbolen, und dahinter kam der traditionelle Zug der Leibdiener und Leibgarden.

»Rot, weiß, blau«, philosophierte Hüang, noch immer unter dem Eindruck des größten Zeichens, das sich ein Priester erhoffen konnte. »Blut des Leibes, Tugend des Geistes und die Ewigkeit des Himmels. Hochehrwürdiger Musang, verdeutliche dir das: Der Himmel selbst hat uns gezeigt, daß unter dem Rot unserer Krieger seine Farbe ... vergeht.«

Himmlisches Feuer

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