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Der Gesang der Priester

Vor dem Unvollendeten Palast, im Morgengrauen des 22. Tages im Vierten Mond im Jahr 472 der Blauen Götter

»Die Götter sind tot!« triumphierte Hohepriester Musang näng Kadeng. »Jetzt herrschen wir. Und die Jahre gehören nicht mehr ihnen.«

»Es ist wenig weise«, antwortete Hüang näng Lüoging mit öliger Stimme, »den Sieg zu feiern, den erst deine Fingerspitzen berühren.« Er gestand sich ein, daß er übellaunig war, und ärgerte sich, daß allein die frühe Stunde seinem Leib dieses Gefühl diktierte. Er war ein disziplinierter Mann, sonst hätte er es zwischen all den vergnügungssüchtigen Priestern nicht zum Hohepriester gebracht. Aber die Stunde, um die die Krieger aufstanden, um einander zu erschlagen, war einfach knochenzermürbend. Das letzte Zupfen der Leibdiener an seinem blauen Ornat war ihm ebenfalls lästig, und das Lorbeerblatt, das er zu kauen hatte, machte seinen Kopf schwer.

»Was, ehrwürdiger Hüang näng Lüoging, sollten sie dem hier entgegensetzen?« Musangs Arm beschrieb eine großartige Geste in Richtung der Truppen, die sich bis zum Horizont erstreckten. Seine feiste Hand, so schien es, strich zärtlich über die Kreuzbogenschützen und Lanzenträger und liebkoste die Geschütze.

»Sie sind nicht mehr als vier mal acht an der Zahl. Wir haben eine Heerschar für jeden einzelnen von ihnen.« Besitz, das drückte die Geste letztendlich aus. »Wir haben die Götterfresser. Und wir wissen, daß sie nicht unverwundbar sind. Wir kennen die alten Elfenbeintafeln und die Schriftrollen aus der Zeit des Kriegsherrn der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste. Eisen schnitt ihre Haut, Pfeile durchbohrten sie. Wenn sie kamen, die Roten Steine zu holen, konnten wir sie verwunden.«

Er sagt tatsächlich wir, dachte Hüang näng Lüoging. Als hätte er je ein Säbelschwert geführt. Nein, keiner von ihnen wußte, was kämpfen bedeutete. Ihre Macht waren das Wort und das Wissen. Hüang näng Lüoging dachte an all die Schriftrollen, die er hatte umschreiben lassen. Unwillkürlich zog er die Augenbrauen hoch – was die Arbeit der Maskenbildnerin, die sie eben mit geölter Eibenasche nachzog, nicht einfacher machte.

»Der einzige Grund«, setzte Musang näng Kadeng salbungsvoll fort, »warum wir sie damals nicht erschlugen, war, daß sie uns stets überraschend angriffen. Niemals standen wir zusammen, um sie abzuwehren. Doch niemand – niemand und nichts – kann dem Länder überspannenden Feld der Krieger widerstehen.«

Hüang spitzte die Lippen, damit die Maskenbildnerin sie bemalen konnte. Wann waren die Elfenbeintafeln wohl entstanden? Nach den Zusammenstößen mit den Blauen Göttern? Hundert Jahre später, als man begann, die Furcht der Gläubigen zu mindern? Oder – so hätte er, Hüang näng Lüoging, es gemacht – vor den Kämpfen, als es galt, den Kriegern Mut zu machen für einen Kampf, in dem acht mal acht fallen mußten, damit einer siegte?

»Fertig?« Die Maskenbildnerin nickte unterwürfig. Hüang näng Lüogings Blick fiel auf den Schweifenden Stern am Himmel: das unmißverständliche und unübersehbare Zeichen, das er benötigt hatte. Heute, so hatten die Sterndeuter der Inneren Kammer der Astrologie errechnet, würde er größer und heller sein als an jedem anderen Tag. Hüang selbst hatte alte Seidenschriften entdeckt, in denen von solchen Schweifenden Sternen die Rede war, aber ihm blieb ein Rätsel, wie man einen Tag errechnen konnte, an dem sie erstrahlten. Nicht, daß es ihn interessiert hätte ...

Schließlich wandte er sich dem Unvollendeten Palast zu. Sein Blick fiel auf die Götterfresser. Er fühlte einen Schauder, als er die roten Rüstungen sah und den blauen Schimmer darüber, der aus achttausend langen blauen Schmuckfedern entstand.

»Wie, ehrwürdiger Fong-Kuoy«, wandte er sich an seinen Berater, der etwas abseits stand, »war noch einmal dein gelungener Weisspruch über die Götterfresser?«

»Ich sagte, höchstehrwürdiger Hüang«, verneigte sich der feiste Gesandte mit einem selbstzufriedenen Lächeln, »daß ich noch nie eine Gruppe von Menschen getroffen habe, die so grimmig entschlossen sind, eine Waffe zu sein.«

»Ja, hochehrwürdiger Musang«, lächelte nun auch Hüang, »vermutlich hast du recht. Wir haben acht mal acht mal acht mal acht Krieger, die sterben werden für jeden, der einen Gott erschlägt. Ein Heer von Ameisen kann einen Tiger töten – wenn es der Ameisenkönigin gleichgültig ist, wie viele Ameisen zerdrückt werden.«

Hüang kaute ein wenig und spuckte dann den heiligen Lorbeer in die Schale neben sich. »Der Himmlische Wille sei unser Wille«, deklamierte er – und wenn es der Tugendhafte Weg des Himmlischen Willens zugelassen hätte, dann hätte er breit gegrinst.

Mit einem letzten Blick überzeugte sich Hohepriester Tengfu, daß Hüang und die anderen sechs Hohepriester ihre Position eingenommen hatten. Als Ältester würde der hagere Siebenundsiebzigjährige die Zeremonie leiten. Hüang näng Lüoging hätte ihm diese Funktion abjagen können, hatte aber darauf verzichtet. Er bevorzugte die Rolle des Mannes, dessen Rat unverzichtbar und daher Befehl an den Vorgesetzten war. Tengfu würde nicht mehr lange leben, und wenn Hüang ihn in den letzten Monden ausgebootet hätte, so hätte er nur einen zusätzlichen Feind in der Geheimen Kammer des Himmlischen Willens gehabt.

Der Todesschrei eines Menschen erklang: ein turgischer Kriegsgefangener, Symbol für den Nordosten, die erste Himmelsrichtung. Für die Menschenopfer waren acht ausgewählte Priester der Inneren Kammer verantwortlich, die sich alle Hoffnung auf den Aufstieg in die Geheime Kammer machen konnten.

»Ooooy«, stimmte Hohepriester Tengfu den Gesang an; die sieben anderen höchsten Tugendwächter fielen ein. Was sie gleich singen würden, beruhte ohnehin auf seinen Kompilationen. Hohepriester Musang näng Kadeng hatte die endgültige liturgische Komposition der Zeremonie übernommen, die selbst in der Geschichte des Reiches der Tugend einzigartig bleiben würde. Hüang blühten deswegen einige schwierige Passagen: Musangs Ambition war, als größter Komponist von Liturgien in die Geschichte einzugehen.

Deswegen hatte der Hohepriester auch die lauten Instrumente hinzugefügt. Freilich: traditionsgemäß standen vornan der Zeremonialterrasse acht Priester mit den weithin sichtbar glänzenden Zimbeln des lautlosen Klanges. Nur die Lauzöngs, so hieß es, konnten den Klang dieser Instrumente hören und daraus den Tugendhaften Weg des Himmlischen Willens erkennen. Eine äußerst ergiebige Tradition, wie Hüang oft dachte, wobei sich ein süffisantes Lächeln auf seine Lippen stahl.

Doch heute stand die Unversammelbare Zahl von Kriegern und Festungsbauern bereit, die Blauen Götter vom Thron zu werfen – oder vielmehr vom Platz hinter dem Thron, den Hüang begehrte –, und sie alle sollten hören, was die acht Hohepriester gen Himmel riefen und was er ihnen antwortete.

Hüang freute sich auf die Passage im letzten Achtel. Er hatte sich die Textstelle reserviert, die die Antwort des Himmels für jene Sterblichen formulierte, die sie nicht direkt gehört hatten. Der Priester des Feuers würde die Drachenpfeile zünden und himmelwärts schicken. Und während sie die feurigen Blumen an den Himmel malten, die außer den Höflingen Mantikor Lengs und ihren Alchimisten noch kaum ein Mensch gesehen hatte, würde Hüang singen – und dem ganzen Reich der Tugend bis hinauf zum Herrn der Unwandelbaren Ordnung unmißverständlich klarmachen, wer die Worte des Himmels sprach.

»... tugendhaft bescheiden erflehen wir ...«, sang Tengfu. Seine Stimme wurde von den zwei Metallschirmen schaurig verstärkt, so daß sie lauter war als der Todesschrei des ersten Opfers, der zuvor verklungen war. Ein kühler Wind von den Bergen spielte mit den Schleierbändern seiner Haube. Ja, Bescheidenheit wußte der Alte zu beherrschen: Hüang hatte noch nie jemanden getroffen, der so wenig Macht zu begehren behauptete und so viel davon besaß. Gegen ihn zu kämpfen hatte Hüang viel gelehrt.

Vor der Terrasse kreischte das zweite Opfer auf, als der Priester den Ritualdolch in sein Herz stieß. Das mußte der Barbar aus der Nadelwüste gewesen sein – Symbol für den Osten.

Acht mal acht Gongs wurden beiderseits der Zeremonialterrasse gerührt, sanft zunächst, dann immer kraftvoller, bis ihr metallisches Dröhnen durch das Morgengrauen hallte wie das entfesselte Sehnen der gesamten Menschheit.

Das zweite Achtel. Während Hüang Arme und Gesicht wieder himmelwärts hob, sah er aus den Augenwinkeln die Ebene mit den abertausend Wachfeuern, die langsam niederbrannten.

Die Unversammelbare Zahl – sie hatten es beinahe vollbracht. Acht mal acht mal acht mal acht mal acht mal acht mal acht Menschen, bereit, das größte Menschenwerk zu vollbringen, von dem die Geschichte noch in Jahrhunderten künden würde. Zunächst war es gemeinsamer Ehrgeiz der Tugendwächter und Kriegsherren gewesen, die Zahl nur mit Ziangs zu versammeln. Zwei Millionen siebenundneunzigtausend und noch etwas mehr, behaupteten die Mathematiker der Kammer der Tugendhaften Ordnung. Nicht einmal Mantikor Leng, die größte Stadt der Welt, hatte so viele Einwohner – die Zahl galt eben als unversammelbar.

Nach der herrschenden Lehre, so wie Hüang es verstanden hatte, gab es nur noch eine Zahl, die größer war: die Himmlische Zahl, die endgültige Perfektion, die entstand, wenn man die Acht acht Mal mit sich selbst multiplizierte. Deswegen war es auch verboten, alle Einwohner des Reiches der Tugend zu einer Summe zu addieren; jede Eroberung mußte getrennt gezählt werden, weil die Summe sonst noch über der Himmlischen Zahl gelegen hätte.

»Seid nur gewiß, daß ihr das versteht«, hatte Hüang seinerzeit zu dem Mathematiker gesagt. Hüang liebte die Überlegenheit, die in großen Zahlen lag, aber er mußte sich nicht den Kopf darüber zerbrechen. Als sich abgezeichnet hatte, daß nicht einmal das Reich der Tugend imstande war, eine Unversammelbare Zahl von Kriegern aus den Eroberungen anzufordern und von den Grenzen abzuziehen, sie gemeinsam in Marsch zu setzen und mit Reis, Wasser, Stiefeln, Zelten, Wartenden Mädchen und Wundärzten zu versorgen, war es Hüang gewesen, der erklärt hatte, daß die Summe aller Krieger und ihrer Troßleute die Unversammelbare Zahl erreichen konnte.

Ja, es war eine gewaltige Leistung gewesen, das Heer zu versammeln, dem sie nun den endgültigen Befehl des Himmels übermittelten.

Wieder kreischte ein Mensch seinen letzten Schrei: ein Wilder aus dem fernen Rochland im Südosten. Die übermannslangen Schallhörner erklangen, die einen Bläser und einen Träger benötigten. Sie leiteten zum dritten Achtel über. Kurz ließ Hüang seine Augen über die Ebene rings um den Unvollendeten Palast schweifen. Zwei Millionen warteten da draußen, da unten, gehorsam, treu, ehrfürchtig – bereit zu töten, bereit zu sterben.

Die Herren der Geheimen Kammer der Architektur hatten die Zeremonialterrasse ein Läng von den Mauern entfernt angelegt: die nächste tugendhafte Zahl, die garantiert außer Reichweite aller vorstellbaren Katapulte und Drachenpfeile war. Hinter den Hohepriestern lag der Zeltpalast des Herrn der Unwandelbaren Ordnung: sie sprachen für ihn. Und sie sprachen zum Heer, das sich noch vom Feind abwandte. Da unten standen die schweren Geschütze und die Götterfresser mit den jeweils sieben Heerscharen, die sie unterstützten, und im Umkreis um den belagerten Ringberg über zweihundertfünfzig weitere Heerscharen!

Schlagartig stand der Himmel in Flammen. Etwas wie ein plötzlich erblühender Sonnenuntergang loderte über den Himmel, fast senkrecht, ein wenig gen Nordosten und weit über der Weltenmauer – und es bewegte sich sanft. Ein lautlos glühender Schwelbrand ergriff Besitz vom morgendlichen Himmel. Selbst der Schweifende Stern verblaßte inmitten der Flammen, die ihn umloderten.

»Weitersingen!« zischte Hüang. Der dritte Hohepriester war verstummt. Sein feistes Kinn hing herab, seine perfekt umrahmten Augen glotzten aus einem roten Gesicht, auf dessen Ölschminke sich das himmlische Rot spiegelte. Sie glotzten alle ...

»Ooooy«, stimmte Hüang den Gesang erneut an, und Hohepriester Tengfu fiel beinahe sofort ein. Hüangs Gedanken rasten. Für einen kurzen Augenblick hatte er sich an den Gedanken geklammert, die Feuerwerker hätten zu früh gezündet. Aber – Hüang fühlte, wie seine Kehle sich verkrampfte und seine Stimme schrill wurde – das war kein Drachenpfeil acht mal acht Götterfuß über ihnen. Das war hundertmal höher und größer. Das war ... wirklich am Himmel!

»Wir danken dir, ehrfürchtig erschauernd danken wir ...« Hüang sah die leichte Unruhe in der Haltung der anderen Hohepriester, als er den achten Teil vorweg nahm. Aber die Sicherheit, mit der er sang, riß sie mit; schnell fielen sie ein und sangen die sieben Begleitstimmen.

Ja, es war die richtige Entscheidung – und er hatte sie getroffen. Die Passagen vier bis sechs enthielten nur noch zusätzliches unterwürfiges Flehen – völlig unpassend jetzt, wo die Antwort des Himmlischen Willens so unübersehbar war. Und die verbliebenen fünf Menschenopfer? Nein, auch weitere Geschenke waren unangebracht. Hohepriester Tengfu würde vermutlich vorschlagen, sie nach der Zeremonie diskret zu erwürgen; aber Hüang überlegte, ob es nicht besser wäre, sie als heilige Zeugen im Hochtempel von Mantikor Leng leben zu lassen. Schade um das siebte Achtel mit Musangs direkter Frage und der besonders kunstvollen Fistelpassage – aber nur ein Idiot hätte eine Frage gestellt, auf die er bereits ein Ja erhalten hatte, das den halben Himmel in Feuer tauchte.

In diesem Moment fühlte Hüang die Windbö, die sein Gesicht traf – von oben. Der Hohepriester sang weiter, obwohl ihn der Wind zwei Verse lang die eigenen Worte nicht hören ließ. Und er sang sogar weiter, als das grausame Dröhnen vom Himmel herabstürzte wie bleierner Regen und selbst die Erde unter der Antwort des Himmels erzitterte.

Himmlisches Feuer

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