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Die Schrift an der Wand

Hochtempel von Tschöng-Hau Leng, vor dem Morgengrauen des 22. Tages im Vierten Mond im Jahr 472 der Blauen Götter

»O Hohepriesterin!« Das wiederholte Rühren des Gongs vor der Inneren Kammer war zu heftig, um noch als tugendhaft zu gelten. Lü näng Huango knüpfte hastig die Bänder ihres blauen Überkleides. Der Tugendhafte Weg des Himmlischen Willens verbot ihr zu antworten, ohne ihr Gesicht zu zeigen. Und um ihr Gesicht zu zeigen, mußte sie es erst anlegen.

Heute nicht! Sie würde ungeschminkt vor die Untergebenen treten, die so drängend nach ihr verlangten. Das sollte zeigen, welche Bedeutung sie dem Ruf beimaß.

»Sprich!« Ein Zug an der Klingelkordel signalisierte dem Pförtner, nach und nach die vier Vorhänge der Inneren Kammer zu öffnen. Mit der Rechten hielt sie den Fächer, den sie nun huldvoll vom Gesicht senkte.

»Hochehrwürdige Hohepriesterin Lü näng Huango!« Der Sekretär, der bereits kniend gewartet hatte, warf sich bäuchlings zu Boden. »Ich heische Vergebung! Ein Zeichen! Es hat ein Zeichen gegeben! Gestatte mir, dich zu führen!«

Während Lü dem Priester folgte, zupfte sie Ärmel und Kragen zurecht. An den folgenden Toren standen zunächst zwei, dann fünf weitere Priester, dahinter Diener und Leibwächter. Ja, das war dringend! Die Boten, die nach ihr begehrten, hatten stets den Höchstrangigen weitergesandt, wenn einer ihrer Leibdiener und Sekretäre sie in Empfang genommen hatte.

Als Lü die mächtige Halle der Himmlischen Mächte betrat, hatte sie bereits ein Gefolge von zwei Dutzend, von dem ein jeder die gleiche Hast zeigte. Der üppig schwere Duft der Brandöle, des Weihrauchs und der Opfergaben schlug ihr entgegen: die betäubende Würze von Myrrhe und Lavendel, die geile Schwere von Moschus und Safran, das heitere Stechen der Harze, der Hauch der Rose und darüber das unauslöschlich Ranzige vom Wal.

Die Halle der Himmlischen Mächte summte vom erregten Flüstern von etwa siebzig blau gewandeten Priestern, zu denen ständig neue hinzustießen. Für einen Augenblick fühlte sich Lü nackt mit ihrem weißen Gesicht, das sie hinter dem Fächer nur andeutungsweise verbergen konnte. Die Priester drängten sich am Kopfende, vor den Standbildern und Altären, aber schon bildete sich eine Gasse. Lü hätte auch ohne Führer keinen Zweifel gehabt, wo man ihrer bedurfte.

Kein Priester hätte gewagt, mit den Fingern zu deuten und seine Erregung zu verraten. Aber da waren Dutzende von heimlichen, scheelen Blicken – hinauf zur Stirnwand. Lü erahnte die Statue des ersten Blauen Gottes zu ihrer Linken mehr, als daß sie sie sah. Feierlich trat sie vor die drei weißen Hauptaltäre und stellte schließlich die von allen ersehnte Frage:

»Was wollt ihr mir zeigen?«

Drei Hände richteten sich auf die Wand zwischen den zwei Götterstatuen. Welch ein Bruch der Formen! Sie wandte sich langsam um. Kurz wog sie ab, ihr Erstaunen zu verbergen oder aber zu zeigen; schließlich beschränkte sie sich auf ein einziges fingerbreites Zucken des Fächers. Ihre nächsten Untergebenen, die zugleich ihre zukünftigen Feinde waren, sollten ahnen, daß sie überrascht war. Die Masse hinter ihr, die jungen Priester und jene, die die Treppen nie ersteigen würden, sollte hingegen ihre Unerschütterlichkeit bewundern – angesichts des Unvorstellbaren.

Die Glyphen, jede groß wie der Schild eines Kriegers, glänzten im Licht der hastig herbeigetragenen Lampions. Blut troff in fingerbreiten Bahnen über die Alabasterkacheln herab.

Wie von einem spontanen Impuls himmlischer Ehrfurcht überwältigt, warf Lü sich zu Boden. Sie fühlte den kalten Marmor unter ihrem Bauch. Das hatte sie lange nicht mehr machen müssen! Auf der ganzen Welt gab es seit ihrer Berufung zur Hohenpriesterin niemanden mehr, der drei Stufen über ihr stand.

Befriedigt hörte Lü das Geräusch von hundert feisten Leibern, die neben und hinter ihr seidenraschelnd auf den Boden klatschten. Sie verharrte und genoß das Gefühl, in dem sich Macht und ein wenig Ehrfurcht mengten – und fragte sich, wieso da überhaupt noch Ehrfurcht in ihr war. Doch ja, diese Halle, diese Standbilder, das Zeremoniell – all das war ihr insgeheim noch immer heilig. Auch wenn die Hohepriesterin, die sie zu sein hatte, es besser wußte ...

Lauzöng war das erste Schriftzeichen ganz rechts. Tugendwächterin! Sie war angesprochen. Sie alle – da waren die Bei-und Vorstriche für Mehrzahl und höfliche Herablassung. Eine Herablassung, die sie soeben anerkannt hatte. Lü kniete nun und zwang all ihre Untergebenen damit, weiterhin mit dem Gesicht auf dem Boden zu liegen.

O ihr meine Priester«, las sie salbungsvoll, Vorsilbe und Deklination feierlich zelebrierend. »Den Blauen Göttern entreißet ...« Sie machte eine Kunstpause. Natürlich wußte jeder, daß sie den Text längst gelesen haben mußte. Aber ihn auszusprechen hieß, ihn zu verkünden. »... die Macht über (mich) den Tugendhaften Weg des Himmlischen Willens.«Ja, die drei Glyphen, die das heiligste aller Wörter bildeten, trugen den Beistrich, der die erste Person bezeichnete: den Sprecher.

Das Bild war vollkommen. Es gab keinen Zweifel, wer hier sprach und was er befahl. Das Blut aus der Glyphe für Priester troff dem Blauen Gott zur Rechten auf die Schulter, das aus den letzten Wörtern »Himmlischer Wille« besudelte das weiße Brokatkleid des Götzen zur Linken. In der Mitte rann das Blut in breiten Bahnen herab, aber über dem Standbild des Herrn der Unwandelbaren Ordnung, der die zwei Mantikoren in Ketten hielt, wich es sanft zur Seite – als wäre es auf einen unsichtbaren Bogen aus Harz gestoßen.

»Öffnet alle Tore des Hochtempels«, befahl Lü und erhob sich. Sie freute sich darauf, wenn die ehrwürdigen Herren der Kammern und die Krieger das lasen und die niedere Kaste der Bauern Tschöng-Hau Lengs sich die Schriftzeichen buchstabieren ließ. Sie wünschte sich nur, sie selbst hätte diese Ehrfurcht teilen können. Wenn ihr Fong-Kuoy näng Tschüeng wenigstens nicht den genauen Text zugesandt hätte, als er seine mündlichen Anweisungen vom letzten Herbst ergänzt hatte ...

Himmlisches Feuer

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