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Die Nacht vor der Schlacht

Vor dem Unvollendeten Palast, Nacht des 21. Tages im Vierten Mond im Jahr 472 der Blauen Götter

Die Sommernacht war wie die letzten drei von einem Zauber, der einem einfachen Krieger das Herz schwergemacht hätte. Aber Kang war kein gewöhnlicher Krieger, und was in ihm bereit war zu fühlen, sagte ihm, daß der Himmel ihrem Unternehmen lachte. Der Schweifende Stern war fast so groß wie eine Faust, doch sein Licht besaß nicht den Bann des silberhellen Vollmondes. Die Sternschnuppen waren mit jeder Nacht häufiger geworden. Wenn man eine achtel Stunde lang zum Himmel blickte, konnte man drei oder vier zählen. Sie alle kamen aus derselben Richtung, von Nordosten, etwas mehr gegen Osten, aus der unüberblickbaren Weltenmauer. Manche verglühten beim Zusehen, doch die meisten verschwanden am westlichen Horizont. Bisweilen wünschte sich Kang, einer der Hohepriester würde ihm erklären, was die Zeichen besagten. Vielleicht morgen, ehe die Schlacht begann ...

Die neue Heerschar lagerte zwei Läng – eine Viertelstunde Schnellschritt – vor dem Unvollendeten Palast in einer Ruine, einem der letzten dem Verfall ausgesetzten Zeugnisse der sagenhaften Nördlichen Königreiche. Kang versuchte sich zu erinnern, was die Sage von deren Zerstörung berichtete. War es nicht der Kriegsherr der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste, selbst gewesen, der diese Reiche zerschlagen hatte? Oder waren es die Blauen Götter gewesen, damals, als sie erstmals die Roten Steine begehrt hatten? Oder war die Vernichtung der Feinde ihr Geschenk an jenen ersten Höchsten Kriegsherrn der Geheimen Kammer gewesen, nach Abschluß jenes Paktes, den der Höchste Kriegsherr der Geheimen Kammer morgen kündigen würde? Kang fühlte Scham. Die Historie war nie seine Stärke gewesen. Aber ein Ziang, wies er sich selbst zurecht, hatte ohnehin nicht zu fragen, warum er kämpfte.

Aus dem Lager der turgischen Leichten Barbarenreiterei erklangen rhythmische Gesänge, in die sich schrille Rufe aus einem Dutzend Männerkehlen und das kreischende Lachen von Frauen mengten. Die Turgas hatten sich einen Wagenzug voll Wartender Mädchen in ihr Lager geholt, das an die Ruine angrenzte.

In anderen Stellungen grölten Betrunkene, und dort, wo Stille herrschte, kreisten vermutlich die Traumpfeifen. Jeder normalen Heerschar standen vor einer Schlacht acht mal acht Fäßchen Reisbier zu. Aber die Wachtmeister hatten darüber gesprochen, welche Generäle an diesem Abend auch Reisbranntwein, Ginsengschnaps, Arrak oder Palmbrand ausgaben.

Kang hua Schiang schnaubte verächtlich. Sich den Geist zu vernebeln und das Blut zu verderben war die sicherste Art, morgen schwächlich zu sein. Keiner der Götterfresser hatte seit einem halben Jahr eine Frau angerührt. Die Lehre von den Acht Elementen verlangte, daß ein Ziang seine Säfte und Kräfte sammelte, ehe er in die Schlacht zog. Kang wußte, wie er sich fühlte, wenn er bei einer Frau gelegen hatte: erschöpft und zufrieden. Ein Krieger durfte nicht erschöpft sein und auch nicht zufrieden. Und ein Götterfresser hatte über der Gier der sterblichen Säfte und Kräfte zu stehen – wenn er sich daran machte, die überirdischen Säfte und Kräfte eines Blauen Gottes zu bezwingen ...

Ja, sie waren jetzt Götterfresser. Kang fühlte das leichte Spannen über seiner Brust und seinem Bauch. Die Ornamente waren verheilt, aber der Körper hatte sich noch nicht vollständig an die Fäden aus feinstem Silberdraht und blauer Seide gewöhnt.

»Du bist der vierte«, hatte der Herr der Dritten Kammer der Seidenstickerei gesagt. Als dritter Hauptmann nach General Tüfang hua Hidong war er all seinen Offizieren und Kriegern vorangegangen. Die Prozedur hatte selbst Kangs gestählte Vorstellungen von Schmerz zu neuen Grenzen getrieben; daran hatten auch die vielen Traumpfeifen kaum etwas geändert. Zwei Seidenstickerinnen, ein Fadenweber, ein Seidenmaler, ein Heilkundiger und eine Dienerin hatten insgesamt fast drei Wochen lang an seinem Körper gearbeitet. Stich für Stich, Faden für Faden, Linie für Linie war der Blaue Gott auf seinem Körper gewachsen. Zunächst war das Bild rostrot von Blut gewesen; erst nach vielen Heilbädern und Einreibungen mit Balsam und Salböl hatte es seine prachtvoll glänzende blaue Farbe gezeigt.

Nicht alle Krieger hatten die Initiation in die Heerschar der Götterfresser vollbracht. Bei einem Waffenmeister und zwei Kriegern hatten sich die kunstvollen Nähte derart entzündet, daß man die Fäden wieder hatte ziehen müssen. Keiner würde die Gelegenheit in diesem Leben wohl ein zweites Mal bekommen. Der Offizier hatte sich sein Säbelschwert ins Herz gestoßen. Und ein dritter Krieger war dem Wundfieber und Blutverlust erlegen.

Aber alle, die das Bild des Feindes jetzt auf ihrer Haut trugen, waren Götterfresser.

Kang hatte sich erhoben, einem Impuls folgend, der ihn dreißig Götterfuß in die Nacht hinausgeführt hatte, ehe er ihm bewußt wurde. Er war auf das Lager der Turga zugegangen.

Unvermittelt lastete die Fremdheit dieser Nacht auf seinem Gemüt – die Fremdheit seines Lebens. Er blickte zurück auf die Krieger der Dritten Faust, die er ausgebildet hatte. Sie saßen um die Feuer, voller Würde. Wenige sprachen, niemand lachte. Dann und wann stimmte jemand die neue Hymne der Götterfresser an, und die Krieger sangen voll pflichterfüllter Stärke mit.

Seine Wachtmeister und Waffenmeister saßen dazwischen, auch sie von der Würde ihres Ranges von den einfachen Kriegern abgehoben. Kang hätte nicht gewußt, was er mit ihnen hätte reden sollen. Sie hatten ihre Ausbildung und Befehle, sie alle wußten, worum es morgen ging und was zu tun war in acht mal acht undenkbaren Fällen. Seine Unteroffiziere waren Fremde.

Die anderen sieben Hauptleute? Fremde – ebenfalls. Was hätte er mit ihnen zu bereden? Da war nicht einmal die heimliche Rivalität, die im Labyrinth dann und wann ein Wortgefecht voll Witz und Härte hatte entflammen lassen.

Und General Tüfang hua Hidong, der nun in seinem Zelt saß? Kang hätte sich wie ein Knabe mit einer vollen Windel vor seinem Vater gefühlt, wenn er ohne Befehl vor seinen Vorgesetzten getreten wäre.

Wieder hallte der schrille Refrain eines turgischen Stammesliedes herüber. Eine seltsame Klaue griff schmerzhaft nach Kangs Herzen. Er kannte diese Melodien und den Rhythmus, in den die Rufe dazwischengellten. Wie oft hatte er sie von den Mauern des Labyrinths aus gehört – von der südlichen Seite, wo die Söldner ihre Lager hatten, und von der Nordseite, wo in der Weite des turgischen Busches eine weitere, unbezwungene Sippe sich bereit machte, an den verhaßten Mauern zu sterben oder sie zu überwinden.

Kang versuchte den Gedanken nicht wahr werden zu lassen, aber er hatte längst verloren: Seine Feinde, die Feinde des Höchsten Kriegsherrn der Geheimen Kammer, waren ihm weniger fremd als die Männer, die er morgen in die Schlacht führen würde ...

Himmlisches Feuer

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