Читать книгу Das Märchen im Drama - Hannah Fissenebert - Страница 11
3.) Befragung des identitätsstiftenden Potentials des Märchens
ОглавлениеDas Märchen ist der Inbegriff einer vermeintlichen Eindeutigkeit von individueller und kollektiver Identität, klaren Rollenbildern und einer geordneten, überschaubaren Welt. Es enthält daher vielfältige Möglichkeiten, seine Konstruktionen aufzubrechen. Die Erwartungshaltungen, die an das Märchen aufgrund seiner kulturellen Position herangetragen werden, können in einer spielerischen Reflexion zum Auslöser subversiver Märchenadaptationen werden. So trägt das Märchendrama zu einem gesellschaftlichen Diskurs bei, indem es die stereotypen Märchenkonstruktionen bemerkenswert oft als Ausdruck wiederkehrender (Wunsch-)Vorstellungen zeigt.
In der skizzierten Relevanz des Märchens für Fragen gesellschaftlicher Identität liegt zugleich die Gefahr, funktionalisiert zu werden. Eben diese ambivalente Inanspruchnahme bleibt so problematisch wie reizvoll. Denn gerade dadurch vermag das Drama, die gleichsam stereotype Vereinnahmung des Märchenstoffes zu entlarven. So zeichnet sich in vielen Märchenstücken für Erwachsene nun genau eine derartige Gegenbesetzung ab: Beispielsweise werden die charakteristischen Züge etablierter Geschlechterrollen separiert und neu ins Verhältnis gesetzt, um einerseits an der formalen Anordnung des Märchens festzuhalten, aber andererseits seiner vermeintlichen Intention unerwartete Facetten hinzuzufügen. Aus der Bestätigung von Klischees wird nun eine kritische Kommentierung, die jenseits bloßer Distanzierung oder Affirmation liegt. Die märchenhafte Disambiguierung spielt hier gerade ihrer eigenen Dekonstruktion in die Hände.
Grundsätzlich wird im Märchendrama auf ein kulturelles Erbe zurückgegriffen, dessen Einfluss sich bis in die Gegenwart in der anhaltenden Faszination für Märchen und Märchenbearbeitungen dokumentiert.1 Gerade in der letzten Dekade kam es zu einer auffälligen Hinwendung der Künste zum Märchen – besonders in Kinofilmen und Serien.2 Sechs der fünfundzwanzig Märchentexte, die hier besprochen werden, sind nach 2000 entstanden; dies mag teils auch darauf zurückzuführen sein, dass 2012 das zweihundertjährige Jubiläum der Kinder- und Hausmärchen von 1812 stattfand. Auch in der Dramatik zeigt sich wieder ein verstärktes Interesse an Märchenstoffen, was die Relevanz, die Märchen auch für aktuelle Diskurse annehmen können, verdeutlicht. Mit dieser Studie möchte ich das Potential des Märchens im Drama untersuchen und durch die Analyse der deutschsprachigen Werke eine sich daran anschließende wissenschaftliche Diskussion fördern.