Читать книгу Das Märchen im Drama - Hannah Fissenebert - Страница 17
Zu dieser Arbeit. Eine Übersicht
ОглавлениеAus den Überlegungen zum Genre des Märchendramas für Erwachsene ergibt sich folgende Aufteilung der Arbeit: Im ersten Kapitel über die Tendenzen und Charakteristika von Märchendramen werde ich mich mit den Ursprüngen des europäischen Märchendramas auseinandersetzen. Anhand der märchenhaften Fiabe teatrali von Carlo Gozzi lässt sich die Verwandtschaft von Commedia dell’arte und Märchen nachweisen. Beiden ist nicht nur die Nähe zu archetypischen Themen und ähnlich reduzierten Erzählstrukturen, sondern auch eine Neigung zum ‚Volkstümlichen’ und zu drastischen Darstellungen gemein. Auffälligerweise gerät das Märchen in Verbindung mit Elementen der Commedia dell’arte oft zur Satire und stiftet eine Tradition, welche sich bis in die Gegenwart fortsetzt: Auch Märchendramen wie Der Kater oder Wie man das Spiel spielt (1964) von Tankred Dorst oder Das blaue Licht / Dienen (2017) von Rebekka Kricheldorf zeigen ausgeprägte satirische Züge. Zudem lässt sich eine traditionsgeschichtliche Beeinflussung der Märchensatiren Ludwig Tiecks durch Gozzis Märchendramen nachweisen; auf Tiecks Märchenadaptationen werde ich daher ausführlich im Anschluss eingehen. Besonders an Tiecks Stücken, die den Anfang deutschsprachiger Märchendramatik markieren, lassen sich generische Eigenarten des gesamten Korpus herausarbeiten.
Im zweiten Kapitel werde ich die Disposition zur Satire im deutschsprachigen Märchendrama vorstellen. Mehr als zwei Drittel der Stücke aus diesem Korpus weisen satirische Züge auf. Aufbauend auf den Erkenntnissen aus dem ersten Kapitel über die Spezifika der Märchendramatik werde ich in viele der Theatertexte einführen. Durch die Frage, was der Gegenstand der jeweiligen Satire ist, lassen sich bereits in vielen Fällen wesentliche Züge der Dramen erfassen.
Bemerkenswert ist, dass sich Ironie, Kritik und Spott nicht gegen die Märchenvorlage selbst, sondern vor allem gegen ästhetische und politische Strömungen richten. Daher werde ich untersuchen, inwiefern sich das Märchen in besonderer Weise als satirisches Medium anbietet. Dabei steht im Vordergrund der Auseinandersetzung, was genau die Nähe zum Satirischen im Märchendrama über seine generischen Eigenarten aussagt. So ist eine zentrale Frage, ob gerade dem Spiel mit etablierten Klischees die Möglichkeit innewohnt, diese mithilfe des Märchens – unter anderem mit dessen scheinbar starren Geschlechterrollen – als Projektionsflächen darzustellen.
Der distanzierte Gestus, der durch den ironisch-satirischen Zugriff bereits in vielen Märchendramen gegeben ist, wird oftmals durch ein offensiv intertextuelles Verfahren verstärkt. Daher werde ich im dritten Kapitel die intertextuellen Strategien der Märchendramen analysieren. Während jedes Märchendrama, das sich auf ein bekanntes Märchen bezieht, offensichtlich intertextuelle Bezüge aufweist, liegt bei drei Märchenstücken ein besonderer Fall vor. Sowohl Tankred Dorsts Der Kater oder Wie man das Spiel spielt (1964) als auch Martin Mosebachs Rotkäppchen und der Wolf (1988) beziehen sich auf bereits bestehende Märchendramen von Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater (1797/1812) und Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens1 (1800/12). Elfriede Jelinek wiederum adaptatiert mit ihren Prinzessinnendramen (2000) die Märchenstücke von Robert Walser. Neben der Analyse der intertextuellen Bezüge zu den Märchenvorlagen im Allgemeinen werden diese Dramen gesondert vorgestellt.
Anknüpfend an die Beobachtung, dass Märchendramen oftmals intertextuelle Elemente aufweisen, werde ich im vierten Kapitel auf ein weiteres Distanzierungsverfahren im Märchendrama eingehen. Oft wird das Märchen im Drama als Synonym theatraler Künstlichkeit eingesetzt. Die Märchenillusion dient dabei als Spiegelung der Theaterillusion und kann auf diese Weise als Reflexion von dramatischen Illusionsmitteln genutzt werden. Gleichermaßen gilt das Märchenhafte jedoch als Symbol des Natürlichen und Mythischen, das als Ideal dem Gewöhnlichen und Menschlichen entgegengesetzt wird. Die divergente Inszenierung des Märchens als Form lässt sich besonders anschaulich an den selbstreferentiellen Bezügen nachvollziehen, wie ich zeigen werde.
Um weitere Tendenzen des Märchendramas zu erfassen, bedarf es ebenso eines Blickes auf die gesellschaftskulturelle Bedeutung des Märchens. Ein Bruch mit der Erwartungshaltung gegenüber dem Märchen spielt oft mit dessen Status als ‚Volkskultur’. Märchen gelten spätestens seit der Romantik als Ausdruck eines Wunsches nach gesellschaftlicher Ordnung und kollektiver Identitätsstiftung – ein Spannungsfeld, das dem Märchendrama als Reibungsfläche dienen kann. So scheinen Darstellungen, die von Subversion und Ambivalenz bestimmt sind, bewährte Strategien des Märchendramas zu sein, um mit dieser Codierung des Märchens umzugehen. Zu beobachten ist dabei häufig eine Destruktion des Versuchs, narrative Sinnstiftung anhand des Märchens zu betreiben. Auf diese Facetten des Märchendramas gehe ich im fünften Kapitel ein.
Abschließend werde ich die Erkenntnisse aus der Auseinandersetzung mit den deutschsprachigen Märchendramen in einer vergleichenden Analyse der französischen Märchenadaptation Ondine gegenüberstellen, um nicht zuletzt einen Ausblick auf mögliche Studien im internationalen Theaterraum zu eröffnen. Durch die Verhandlung der deutsch-französischen Beziehung um 1938 ist Giraudoux mit seiner politisierten Ondine-Bearbeitung von besonderem Interesse für diese Arbeit und zugleich geeignet, um die zuvor herausgearbeiteten Ergebnisse zu überprüfen.
Ziel der vorliegenden Studie ist es, das Märchendrama als künstlerisch eigenständiges und bislang marginalisiertes Genre an seinen Schnittstellen zum Drama als Medium und zum Märchen als Gattung zu betrachten. Diese Absichten verbinden sich in dem grundlegenden Anliegen, durch die Analyse der Märchenstücke vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart vielschichtige Einblicke in deren generische Eigenarten zu geben. Hierzu werden vor allem die satirischen, intertextuellen und selbstreferentiellen Anspielungen befragt. So kann die vorliegende Untersuchung erstens einer fruchtbaren Reflexion der problematisierten Normalitätsvorstellungen im Märchendrama dienen. Zweitens wird die Dramatisierung der Schematisierungen und Stereotype des Märchens im Theatertext als Verhältnis von Gesellschaft und Individuum produktiv ausgewertet. Im Konnex der Märchen- und Dramenillusionen führt die Analyse drittens immer wieder zu der grundsätzlichen Frage nach der generativen Kraft der Imagination zurück. Im Genre des Märchendramas treten all diese Facetten für jedes ‚Lebensalter’ deutlich zutage – und es wäre, mit Nietzsche gesprochen, in der Tat ‚kurzsichtig’, ohne Märchen und Spiel durch’s Leben gehen zu wollen.