Читать книгу Das Märchen im Drama - Hannah Fissenebert - Страница 8
Einleitung1
ОглавлениеAls ob wir zu irgendeiner Zeit ohne Märchen und Spiele leben wollten – so impliziert es Friedrich Nietzsche in seinem Buch für freie Geister. Für ihn zählen auch das märchenhafte Spiel und das Spielerische des Märchens zum ‚Menschlichen, Allzumenschlichen’, sodass es einer „Selbstverkleinerung des Menschen“2, ja einer ‚Kurzsichtigkeit’ gleichkäme, sich dieser Dimension freiwillig zu berauben. Nietzsche behauptet folglich nicht, „ohne Märchen und Spiel“ gar nicht sein zu können, sondern stellt in Abrede, dass man dies überhaupt wollen könnte oder sollte. Und Nietzsche ruft auch nicht dazu auf, ein Kind zu bleiben, um für Spiele und Märchen noch zugänglich zu sein, sondern verteidigt die Bedeutung des Märchens für jedes, auch das reifere ‚Lebensalter’. Genau darin bestünde ‚Weitsicht’, so legt es der Autor nahe, dem Spiel des Märchens Raum zu geben, im gewöhnlichen Leben und auch in der wissenschaftlichen Betrachtung. Gerade im Märchendrama sind Märchen und Spiel miteinander verbunden. In potenzierter Weise werden hier Erkenntnisse durch das Märchen und als Spiel reflektiert. Inwiefern sich das Märchen im Drama im besonderen Maße zur Anschauung und zum Verständnis grundlegender Fragen anbietet, werde ich in der vorliegenden Arbeit betrachten.
Das Märchendrama stellt innerhalb der deutschsprachigen Dramatik eine eigene Traditionslinie dar. Während die zahlreichen Weihnachtsmärchen für Familien und Märchentheaterstücke für Kinder als fester Bestandteil des Theaterrepertoires gelten, wird dem Märchendrama für Erwachsene vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zuteil.3 Dies ist überraschend, sind doch Märchen originär für Erwachsene entstanden.4 Auch haben etablierte deutschsprachige Autorinnen und Autoren von der Romantik bis zur Gegenwart literarische Märchenadaptationen als Dramen verfasst und sich fortlaufend dem Märchen als Gattung zugewandt. In dieser Studie möchte ich die Texte von Dramatikerinnen und Dramatikern im Zeitraum 1797 bis 2017 vergleichend vorstellen und untersuchen, wie in ihnen die Spezifika der Märchengattung ihre Wirkung entfalten.
Die große Relevanz dieses Korpus für die Dramenliteratur zeigt sich in den vielfältigen intertextuellen, reflexiv-kritischen Perspektiven und zeitgenössischen Fragestellungen, die in den Adaptationen durch die generativen Eigenarten des Märchens entworfen werden. Durch die Transformation des Märchens kommt es im Drama zu profunden Auseinandersetzungen mit Rollenbildern, Stereotypen und märchenhaften Illusionen, die den bedeutenden literaturgeschichtlichen Stellenwert des Märchens zur Geltung bringen. Aus diesen märchentypischen Erzählstrategien ergibt sich eine außergewöhnliche dramaturgische Eignung für das Drama. Wie zu zeigen sein wird, weist das Märchendrama folgende Eigenschaften auf: 1.) Fokussierung der märchenhaften Simplifikation, 2.) Reflexion von Darstellungsmitteln, 3.) Befragung des identitätsstiftenden Potentials des Märchens.