Читать книгу Das Märchen im Drama - Hannah Fissenebert - Страница 14
Charakteristika des Märchens
ОглавлениеMithilfe einer Konstellation zentraler Charakteristika wird im Märchen ein Wiedererkennungseffekt hergestellt, der sich aus einem changierenden Zusammenspiel von Motiven, Handlungsstrukturen und Darstellungsmustern ergibt.1 Dieses produziert Ähnlichkeiten durchaus divergent erscheinender Texte, die aufgrund ihrer Märchenhaftigkeit dennoch miteinander verwandt erscheinen. Im Märchen wird die Welt – anders als etwa in der Novelle – durch dessen Form entscheidend bestimmt und gewandelt.2
Zu den typischen Charakteristika des Märchens zählen die Formelhaftigkeit der Sprache, die Selbstverständlichkeit aufgehobener Natur- und Kausalgesetze, ein teilweise suspendierender Umgang mit Raum und Zeit, symbolreiche, archaische Handlungsschauplätze und Requisiten, eine von Farben und Zahlen geprägte Sinngebung und strukturierte Handlung, welche zudem eindimensional und linear erscheint, ein glücklicher Ausgang der Geschichte, sein übernatürliches Personal, die konventionalisierte Konzentrierung auf eine stereotype Heldenfigur sowie dualistisch angelegte, typisierte Figuren.3 Im Märchen wird meist eine klar strukturierte gesellschaftliche Ordnung vorausgesetzt, wobei die Figuren oft eindeutig moralisch kodiert sind und ein Scheitern der Protagonisten außerhalb des narrativen Interesses liegt.
Infolge des prägenden Einflusses der Kinder- und Hausmärchen (1812) auf die Wahrnehmung typisch märchenhafter Erzählungen werden Märchen häufig als Geschichten definiert, welche die Grimms gesammelt und bearbeitet haben.4 So gilt Grimms Sammlung allgemein als Maßstab zur Beurteilung ähnlicher Texte, im Zuge dessen ist sogar von der ‚Gattung Grimm’ die Rede.5 Die Unterscheidung von ‚Volksmärchen’ und ‚Kunstmärchen’, die anhand der Bestimmung einer Autorin oder eines Autors vorgenommen wird, zeigt sich hier als problematisch: Auch die sogenannten ‚Volksmärchen’ sind deutlich auf einzelne Autoren wie die Brüder Grimm oder Charles Perrault zurückzuführen. Daher wurde der Begriff des ‚Buchmärchens’6 etabliert, mit dem schriftlich fixierte, zumeist literarisierte Erzählungen gemeint sind, die den an das ‚Volksmärchen’ gestellten Erwartungen entsprechen.7 Der Fokus dieser Arbeit liegt auf eben diesen Buchmärchen; im Folgenden wird abkürzend von Märchen die Rede sein.8
Um die Zurückhaltung der Dramatikerinnen und Dramatiker gegenüber Märchen präziser nachvollziehen zu können, lohnt sich auch ein Blick auf spezifische Aspekte der historischen Entwicklung von Märchenfunktionen, die das Verständnis der Gattung mitprägen. Wie bereits angedeutet, dominiert seit der Romantik die Auffassung, bei Märchen handle es sich in erster Linie um Literatur für Kinder. Die Betitelung der Kinder- und Hausmärchen der Grimms hat diese Einschätzung als Kinderliteratur gefördert, doch handelte es sich bei Märchen anfänglich um Erzählungen für Erwachsene.9 Zunächst wurden Kinder während der Rezeption zwar geduldet, sie gehörten aber nicht zur intendierten Zuhörerschaft. Achtzig von zweihundert Märchen handeln von dem Zeitraum der Adoleszenz und sind dem Problem des Erwachsenwerdens gewidmet.10
Die Märchendramen des hier verhandelten Korpus zählen als Erwachsenenliteratur und basieren auf Märchen, die vor allem durch die Märchensammlungen von Charles Perrault und den Brüdern Grimm bekannt geworden sind.11 Obgleich die Vorlagen in sehr unterschiedlicher Weise den oben genannten Kriterien entsprechen oder diese in bestimmter Hinsicht abwandeln, werden sie aufgrund ihrer Charakteristika doch ohne Zweifel der Gattung des Märchens zugeordnet und als solche rezipiert. Diese Klassifizierung wird demnach nicht nur heuristisch unternommen, sondern ist von der Gattung selbst gerechtfertigt.