Читать книгу Ständiger Wohnsitz: Hauptstadt der DDR - Hannelore Kleinschmid - Страница 10

9. „IM Gustav“?

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Monate mehr und weniger eifrigen Studierens gingen ins Land, bevor sich Wolfgang in den Vorlesungen häufiger neben Hanne setzte und nach dem Ende eines Seminars fragte, ob er sie begleiten dürfe. Nach einiger Zeit stellte die Seminargruppe fest, dass die beiden ein Paar waren. Hanne fühlte sich geschmeichelt und hielt es eine Zeit lang für Liebe. Wolfgang war ein vier Jahre älterer stattlicher Mann, der schnell in einer Gruppe das Sagen hatte. Auch weil er stundenlang Witze erzählen konnte. In der Sprachwissenschaft stürmte er allen voran und hatte Spaß am Mittel- und Althochdeutschen, das den anderen nur ein Stöhnen entlockte, denn es verlangte geduldige Paukerei.

Er bewohnte ein möbliertes Zimmer, in dem die beiden Tee tranken. Manchmal war es auch Rotwein aus Wassergläsern oder Bier aus der Flasche. Gemeinsam lernen konnten sie nicht, denn Wolfgang war für gewöhnlich mit dem Stoff schon fertig, wenn Hanne darum kämpfte, endlich anzufangen. So redeten sie. Und küssten sich. Und es geschah noch mehr. Hanne lernte in der Praxis, was ein Coitus interruptus ist.

In der ersten Hälfte der 1960er Jahre herrschte eine weitgehend ungeschützte Zeit. Nur das Kondom war sicher. Einigermaßen sicher, aber ungeliebt und von robusterer Machart als im 3. Jahrtausend. Die jungen Frauen, ob verheiratet oder nicht, warteten jeden Monat voller Bangen einige Tage lang auf ihre Tage und hofften inbrünstig, nicht schwanger zu sein. Auch Hanne wartete auf die unangenehmen monatlichen Bauchschmerzen und rannte in jeder Vorlesungspause zur Toilette. Um nachzuschauen.

Zur Verhütung wurde empfohlen, jeden Morgen beim Aufstehen die Körpertemperatur zu messen. Vor dem Eisprung steigt sie gewöhnlich an und zeigt so die fruchtbare Zeit, die zu meiden war. Nach Knaus und Ogino. Eine erwiesenermaßen unsichere Methode.

Ein einziger Wissenschaftler, Professor Siegfried Schnabl, veröffentlichte in der DDR der sechziger Jahre Aufklärungsbücher. Eines davon hatte die Mutter Hanne während der Schulzeit geschenkt. Biologisch einwandfrei und rein wissenschaftlich wurde die menschliche Paarung dargestellt. Immerhin begann Schnabl nicht mit den Bienen. Wer sich durch den spröden Text ohne praktische Erfahrungen mühte, konnte sich rein gar nichts vorstellen. Jedenfalls erging es Hanne so.

Die DDR war offiziell eine pornofreie Zone, in der der Erste Mann, Walter Ulbricht, die „Zehn Gebote der sozialistischen Moral“ durchzusetzen versuchte. Erwachsene Männer, seltener auch Arbeitskolleginnen, zeigten einander ganz im Geheimen abgegriffene Privatfotos, auf denen sich Frau Müller oder Herr Meier in eindeutigen Posen präsentierten. Hanne wurde erst im Berufsleben derart ins Vertrauen gezogen und besah verwundert die komischen Gestalten.

In der Zeit mit Wolfgang dachte sie ganz naiv, für den Mann sei die Liebe nur dann schön, wenn es schnell gehe.

So hatte sie nicht viel davon. Und wunderte sich, was denn am Sex so Besonderes sei.

Weltgewandt wurde man als normaler DDR-Bürger nicht. Wolfgang und Hanne flogen im Sommer mit der Interflug nach Bulgarien ans Schwarze Meer. Als FDJ-ler hatten sie sich um eine Reise beworben, die der Jugendverband vergab. Sie zahlten dafür das Stipendium von etwa drei Monaten und landeten in einem Zeltlager. Sechs junge Frauen beziehungsweise sechs junge Männer teilten sich ein Zelt, in dem man sogar stehen konnte. In einer großen Baracke waren Waschbecken, Duschen und Toiletten untergebracht. Aber mit den Toiletten war das so eine Sache! Als Hanne es beim ersten Mal eilig hatte, fand sie keine. Sie schaute in alle Kabinen, sah die zwei Fußtritte, auf die man sich stellten konnte, und meinte, es handele sich um Duschen. In ihrer großen Bedrängnis benutzte sie eine solche Dusche und schämte sich. Langsam fiel dann der Groschen, sie begriff, dass es sich um eine südländische Toilette handelte.

Beim zweiten Erlebnis als Mädchen aus der Provinz brannte ihr der Mund wie Feuer: Die Jugendlichen wurden im Zeltlager zu Putz- und Aufräumarbeiten herangezogen. So musste die Berliner Gruppe ein großes Zelt in Ordnung bringen, in dem offensichtlich festlich getafelt worden war. Beim Wegräumen kostete Hanne, wenn keiner hinsah, voller Begierde unberührte Speisen. So biss sie kräftig in die kleinen grünen Dinger, denn sie kannte Peperoni nicht. Ohne darauf zu achten, ob schon jemand aus dem Glast getrunken hatte, griff sie sich danach schnell einen Becher Milch, um den Brand zu löschen.

Zum ersten und einzigen Mal im Leben als Erwachsene aß sie sich unbekümmert reichlich rund, denn Wolfgang betonte immer wieder, dürre Gestelle gefielen ihm nicht. Während des Urlaubs am Meer hing er allerdings vornehmlich mit neu gewonnenen Kumpels herum, als sei seine Freundin nicht mit von der Partie. Hanne war enttäuscht. Sie entfernten sich voneinander.

Als ihr nach Semesterbeginn Klatsch zugetragen wurde, Wolfgang betrüge sie und bekomme mit einer anderen ein Kind, bereitete ihr das kein Liebesleid. Sie war gekränkt, weil er zu feige zu sein schien, mit ihr offen zu reden. Wieder solo begann sie den unendlichen Kampf gegen die Pfunde, indem sie ihren Kaffee von nun an schwarz trank, um die Kalorien von Zucker und Milch zu sparen. Ausreichend war das freilich nicht.

Jahre später, wenn sie Wolfgang gelegentlich traf, bedauerte Ex-Freund jedes Mal, sie verlassen zu haben. Doch das war für sie Schnee von gestern und eine Streicheleinheit fürs Selbstbewusstsein.

Um das sozialistische Gemeinschaftsgefühl zu stärken, fanden von Zeit zu Zeit Feten der Seminargruppe statt, die im Laufe des Abends meist mehr feucht als fröhlich abliefen. Bei solchen Anlässen lebte Wolfgang seine Vorliebe für Bier und Rotwein aus. Er setzte sich zu Hanne und zwei Kommilitoninnen an den Tisch und jammerte mit schwerer Zunge: „Ich bin ein Schwein. Ich bin wirklich ein Schwein. Bevor wir Nordisten auf Studienreise nach Schweden gefahren sind, kamen die von der „Firma“ zu mir und haben mich mit meinem Vater erpresst, der im Westen lebt. Ich hätte nicht mitfahren dürfen, wäre ich nicht bereit gewesen, über unsere Fahrt zu berichten. Ich bin ein Schwein.“ Betroffen sahen sich die Studentinnen an und sagten nichts. Hanne erinnerte sich stets an dieses Geständnis, wenn sie in späteren Jahren mit Wolfgang sprach. Sie sah in ihm den Stasi-Spitzel und war vorsichtig in ihren Äußerungen.

Als DDR-Bürger ahnte man, dass in jeder Gruppe jemand für den Verein „Horch und Guck“ tätig war. Also überdachte man seine Wortwahl. Nachdem die Stasi-Akten geöffnet wurden, stellte sich heraus, dass in vielen Fällen die Verdächtigen tatsächlich die Zuträger gewesen waren. Aber es gab darüber hinaus noch andere, die inoffiziell mitgearbeitet hatten als IM.

Anfang der 90er Jahre, nach der Wende, als Wolfgang eines Tages Hanne anrief, um ein Treffen zu verabreden, holte sie tief Luft und sagte: „Weißt du, ich habe nie vergessen, wie du bei der Seminarfete bekannt hast, du seiest ein Schwein, weil du für die Stasi berichtet habest. Warst du IM, Gustav?“ Er benutzte gern den Spitznamen aus der Jugendzeit.

„Nein“ antwortete Wolfgang, „denn es war mein Glück, unwissentlich, dass ich damals nicht dicht hielt. Irgendjemand muss der Stasi berichtet haben, wie ich im Suff quatschte. Und damit war ich die Mielke-Genossen los. Ich mich hatte „dekonspiriert“. Da habe ich wirklich Glück gehabt.“

Hanne zog es vor, ihm zu glauben.

Ständiger Wohnsitz: Hauptstadt der DDR

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