Читать книгу Ständiger Wohnsitz: Hauptstadt der DDR - Hannelore Kleinschmid - Страница 7
6. Die geheime Adresse
ОглавлениеDie trübseligste Ausgabe des Novemberwetters herrschte in der Hauptstadt der DDR. Die Berliner zu beiden Seiten der Mauer konnten sich nicht an die martialische Trennwand gewöhnen. Die Atmosphäre blieb angespannt, auch wenn die Furcht im Osten, die NATO könne Westberlin mit Waffengewalt befreien, langsam nachgelassen hatte. Starke Worte war man auf beiden Seiten gewöhnt. Es herrschte kalter Krieg.
Die Menschen kümmern sich zuallererst um ihr alltägliches Leben, selbst in Zeiten, die die Welt verändern. Hanne und Carola beschäftigte die Schwangerschaft. Bis zur Erfindung der „Pille“ fürchteten Frauen ständig, schwanger zu werden. Ungewollt wie Carola.
Annemarie hatte ihrer Tochter erzählt, wie sie im Krieg und danach mehrfach abgetrieben habe. Sie empörte sich darüber, dass der Soldat Willi, ihr Ehemann, nicht in der Lage gewesen sei, bevor er auf kurzen Heimaturlaub zu ihr kam, Kondome zu besorgen. Jedes Mal habe er sie bedrängt, und sie geriet dann in andere Umstände. Mehr als einmal! Überhaupt keine Rücksicht habe er auf sie genommen, nur immer vom möglichen Kriegstod geredet. Hätten ihr die Eltern nicht gut zugeredet, hätte sie sich schon damals getrennt. „Hitler brauchte Nachwuchs“, meinte sie, „also blieb Abtreibung strafbar. Es war furchtbar, was mit uns Frauen geschah, es war das Allerletzte. Lebensgefährlich noch dazu. Ich bin wirklich zu einer alten Frau gegangen, deren Adresse mir meine Schwester besorgt hatte. Die Küche dort war unvorstellbar dreckig. Ich habe mich so sehr geekelt! Dann sollte ich den Schlüpfer runterziehen und mich auf den schmutzigen Küchentisch legen. Ich dachte, dass ich sowieso sterbe. Sie hat mit einer Stricknadel in mir herumgefuhrwerkt, irgendeine Flüssigkeit hineingespritzt und mich nach Hause geschickt. „Schnell! Schnell!“ hat sie gemeint und gedroht: „Wehe, du verrätst etwas!“ Dafür habe ich einen halben Monatslohn gezahlt und bin mit entsetzlichen Bauchschmerzen nach Hause gelaufen. Dein Vater war Soldat. Wir hatten keine eigene Wohnung. Dauernd gab es Bombenalarm. Und ich hatte schon dich kleines Kind. Das letzte Mal bin ich übrigens kurz nach Kriegsende zu der Alten gegangen. Willi studierte in Gotha und ernährte sich dort hauptsächlich von Rüben. Auch wir hatten nichts. Du warst mit dem Kindergarten am 1. Juni zur Feier des Internationalen Kindertages gewesen, und ihr hattet offenbar unreifes Obst gegessen. Jedenfalls lagst du neben mir im Ehebett, jammertest und musstest dich übergeben. Mir war ebenso schlecht. Ich hatte solche Bauchschmerzen, dass ich nach der Oma rief, die im Nebenhaus wohnte. Sie kam und machte alles weg, was aus mir herauskam, Sie spülte es ins Klo. Es sei ein kleiner Junge gewesen, sagte sie. Na ja, du weißt ja, dass ich später, als du dir ein Brüderchen oder Schwesterchen wünschtest, kein Kind mehr bekommen konnte. Das war wohl die Folge dieser fürchterlichen Abtreibungen. Ich empfand es als meine Strafe.“
Annemarie hatte Hanne leid getan damals, als sie von den nicht geborenen Geschwistern erzählte.
Anfang der 60-er Jahre hatten sich die Verhältnisse für Frauen in der DDR nicht grundlegend geändert: Abtreibung war noch immer verboten.
Aber von irgendwoher erhielt die Berlinerin Carola eine hilfreiche Adresse. Sie bat die Freundin, sie in der Seminargruppe mit einer Angina zu entschuldigen. Und dann fehlte sie eine Woche lang. Hinterher sagte sie nur, es sei ganz furchtbar gewesen.
„Wenigstens hat der Doktor einen günstigen Preis für Studenten“, fügte sie hinzu und drückte Hanne einen Zettel in die Hand, auf dem die Adresse von Dr. M. stand. „Für alle Fälle“, sagte sie, „man weiß ja nie“.
Nur wenige Tage später offenbarte Carola V. ein noch viel größeres und gefährlicheres Geheimnis.