Читать книгу Ständiger Wohnsitz: Hauptstadt der DDR - Hannelore Kleinschmid - Страница 9
8. „Ich brauche das“
ОглавлениеZu den Lebensweisheiten der Mutter gehörte die Ansicht, dass man in der Ehe zufriedener sei, wenn man zuvor mit mehr als einem Partner geschlafen habe. Man lebe dann weniger in dem Gefühl, etwas versäumt zu haben. Hanne war 18 Jahre alt, als sie nach Berlin kam, und hatte noch immer keinen festen Freund. Also war sie auf der Suche, ohne freilich genau zu wissen, wie man als Frau sucht.
Doch mehr Probleme bereiteten ihr im ersten Studienjahr die vielen nicht gelesenen Bücher. Waren die Bücher alt und wissenschaftlich, fiel ihr Kopf nach kurzer Zeit auf das Kopfkissen des Bettes, auf dem sie sich der Lektüre hinzugeben suchte. Täglich begegneten ihr Kommilitonen, die mindestens zehn Bücher Vorsprung hatten. So wurde es wichtig, von Zeit zu Zeit dem schlechten Gewissen zu entfliehen und sich so angenehmen Dingen wie der Völkerfreundschaft zu widmen.
Die DDR sah sich als Hort der fortschrittlichen Jugend aus aller Welt. Einen Höhepunkt ihrer jungen Geschichte stellten die Weltfestspiele 1951 in Berlin dar. Da war die Jugend der Welt in den sozialistischen Teil Deutschlands gekommen. Die SED sah das als Anerkennung ihres damals knapp zwei Jahre alten Staates an, der unter sowjetischer Regie gebildet worden war. Seither studierten in der DDR junge Menschen aus arabischen und afrikanischen Ländern, aus Zypern, Griechenland sowie den Teilen Westeuropas, in denen es kommunistische oder sozialistische Parteien gab. Sie konnten am Herder-Institut in Leipzig Deutsch lernen und Hochschulen oder Universitäten besuchen. Die DDR gewährte ihnen Stipendium und Unterkunft, zum Beispiel im Berliner Ausländerheim.
Die Ost- oder Sowjetzone, wie sie im Westen genannt wurde, lechzte nach internationaler Beachtung. Nachdem sie sich eingemauert hatte, verstärkte sie diese Anstrengungen.
Hanne war neugierig auf die Kommilitonen mit der fremden Heimat und dem exotischen Lebenshintergrund. Die Berichte der jungen Männer im Studentenheim klangen in ihren Ohren oftmals wie Märchen aus tausendundeiner Nacht, und manches glaubte sie dann doch nicht. Ging sie mit Saud aus dem Sudan oder Abdullah aus Algerien spazieren, deren Haut dunkel war, wusste sie nicht, ob sie stolz sein oder sich genieren sollte, wenn die Leute glotzten. Und das taten sie, so lange es die DDR gab.
Eines Nachmittags klopfte Saud höflich an die Zimmertür und fragte, ob er ein wenig plaudern dürfe, er fühle sich so allein. Doch er wollte mehr als reden, und es kam zu einem Ringkampf. Schließlich sprang er beleidigt auf und schimpfte: „Ich brauche das. Mein Vater hat gesagt, ich soll immer Schutz dabei haben. Also habe ich Schutz dabei.“ Jahre später wehrte Hanne in einem zweiten und noch heftigeren Ringkampf wiederum einen potentiellen Eindringling ab. Auf Sauds Nöte ging sie nicht ein. Die Beziehung kühlte ab. Er bot ihr nie wieder Cognac und Zigaretten an.
Wodka dagegen floss reichlich, nachdem Tamara aus Leningrad zur Zimmergenossin geworden war. Die Kunststudentin ließ sich freilich nie auf die berüchtigten „Hundert Gramm“ ein, aber andere sowjetische Studenten kamen von nun an ins Zimmer 203 und brachten das Nationalgetränk mit.
Tamara machte als Porzellangestalterin ein Praktikum in Meißen, in der berühmten Porzellanmanufaktur. Sie sprach nur wenige Brocken Deutsch und lernte kaum etwas hinzu, weil Hanne viel zu begierig war, sich auf Russisch zu unterhalten.
Die beiden jungen Frauen wurden Freundinnen. Sie sprachen über Gott, der in diesem Falle Sozialismus hieß, und die Welt, die für sie vor allem aus Deutschland und der Sowjetunion bestand. Und über vieles mehr. Obwohl die DDR ein armes Land war, verglichen mit der Bundesrepublik, leuchtete sie in Tamaras Augen golden. Sie wunderte sich jeden Tag von neuem, wieso die Verlierer des Weltkrieges besser lebten als die sowjetischen Sieger. Sie fand das ungerecht, ohne jedoch die DDR-Bürger dafür zu hassen.
Als die Russin nach einem Jahr abreiste, tat sie das mit neun bis obenhin gefüllten Koffern. Nach der Rückkehr wollte sie das Studium abschließen und ihren Boris heiraten.
Wenige Wochen später erreichte Hanne ein langer Brief. Tamara berichtete von der Hochzeit und davon, dass es gar nicht leicht gewesen sei, sich in eine Frau zu verwandeln. „Aber nun ist es mehrer und mehrer schön“, schrieb sie auf Deutsch. Danach kam nur noch eine einzige Postkarte, aus der hervorging, dass es nicht gestattet sei, in ihrem Beruf – sie war Porzellangestalterin - weiterhin mit einer DDR-Bürgerin Kontakt zu haben. Die DDR-Bürgerin glaubte der Freundin und bedauerte es, auch von ihr nie wieder zu hören. So sah die viel beschworene deutsch-sowjetische Freundschaft aus.