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3. „Das geloben wir“

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Wenn sich Hanne in Berlin ausgekannt hätte, wäre sie der Mauer schon am zweiten Tag begegnet. So aber eilte sie vom Bahnhof Friedrichstraße zur Humboldt-Universität, ohne sich darum zu kümmern, wie das Brandenburger Tor hinter der Mauer aussah. Ihr war nicht bewusst, dass sie weniger als zwei Kilometer unter den „Linden“ hätte entlang gehen müssen, um zu sehen und zu fühlen, wie es ist, eingemauert zu sein. Da sie das Studium eben erst begann, sollte sie noch viele Gelegenheiten bekommen, von der Mauer gestoppt zu werden. Sie würde noch oft genug fühlen, wie sie mit dem Kopf dagegen stieß.

Doch erstmal ging es um ein hehres sozialistischen Gefühl: die Immatrikulation. Die Neulinge wurden gemeinsam auf die DDR eingeschworen. Alle zusammen sprachen den Text nach, der ihnen im Audimax der Humboldt-Universität vorgesprochen wurde. Ein Satz aus diesem Gelöbnis beunruhigte Hanne, so dass ihr darüber ein Teil der erhabenen Zeremonie entging. Im Chor sagten alle nach, sie würden nach dem Studium dorthin gehen, wo der sozialistische Staat sie brauche. Schwurfinger nach unten in Richtung Fußboden zu halten, damit das Versprechen geerdet und ungültig würde, galt vermutlich nicht. Hanne tat das zwar, glaubte aber nicht so recht an die Wirkung. Doch wenn sie sich vorstellte, wie ein Funktionär von ihr als Diplomgermanistin verlangte, in der sozialistischen Landwirtschaft Schweine zu hüten, weil das der Revolution und dem Sieg des Kommunismus dienen würde, war ihr mulmig zu Mute.

Hanne war nicht prinzipiell gegen den Kommunismus. Die Losung, dass in einer glücklichen Zukunft jeder nach seinen Bedürfnissen leben könne, erschien ihr menschenfreundlich. Mit 16 Jahren hatte sie sich in ihrer tiefroten Phase befunden und war den FDJ-Funktionären beinahe auf den Leim gegangen.

So schrieb sie in der 10. Klasse ohne jede Aufforderung einen Brief an die monatlich erscheinende „Junge Generation“, weil es ihr nicht gefiel, dass viele anders redeten, als sie handelten. Rote Parolen aufzusagen, um gute Zensuren zu bekommen, hielt sie schlicht und einfach für unehrlich. Und beschwerte sich darüber. Den Propagandisten kam der Brief des Mädchens aus der Provinz gerade recht. Die Zeitschrift der Freien Deutschen Jugend druckte ihn umgehend ab und lud Hanne ein, mit dem Flugzeug nach Berlin zu kommen, ins Haus des Zentralrates der FDJ an der Prachtstraße Unter den Linden. So war sie also doch vor dem Mauerbau schon einmal ein paar Stunden in Berlin gewesen, auch damals ganz allein. Zum ersten Mal in ihrem Leben bestieg Hanne in Erfurt ein Flugzeug. Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde sie wirklich als Erwachsene behandelt. Die Funktionäre in den Blauhemden schmeichelten ihr. Sie bewunderten ihren Durchblick genau wie ihr Talent zu schreiben. Ernsthaft schlugen sie ihr vor, ein Praktikum bei der „Jungen Generation“ zu beginnen und damit eine politische Karriere beim Jugendverband zu starten. Das Abitur sei in ihrem Falle pure Zeitverschwendung. Hanne schwebte in einem blau und rot gefärbten siebten Himmel. Nach ihrer Rückkehr lernte sie ganz schnell die Kehrseite der Medaille kennen. Sie hatte ihre Mitschüler beleidigt. Die ganze Schule fühlte sich an den Pranger gestellt. Ähnlich verwundert wie bei der Berliner Lobpreisung, aber zunehmend verletzt, musste sie erkennen, dass sich alle dagegen wehrten, verleumdet worden zu sein. Sie selbst handele doppelzüngig, wurde ihr vorgeworfen. Sie selbst rede rot und trage westlich-dekadentes Blau.

Hanne hatte einen Jeansrock aus dem Westen bekommen, als Jeans in den Augen der Sozialisten noch Teufelswerk darstellten. Zu Nietenhosen gab der Vater seine Zustimmung nicht, aber einen Rock durfte sie tragen. Doch bissige Bemerkungen verleideten der „roten Hanne“ den Jeansrock. Auch die Verteidigung, Jeans seien die Bekleidung der amerikanischen Arbeiterklasse, half wenig. Sie hatte sich gegen ihre Mitschüler gestellt, und es brauchte einige Zeit, bis dieser Fehltritt vergessen wurde. Dabei war sie nach ihrem eigenen Gefühl doch nur um mehr Ehrlichkeit bemüht gewesen. Das hatte ihr eine Lebenserfahrung eingetragen.

Willis Tochter galt in der DDR als Arbeiterkind. Zwar war der Vater Berufsschullehrer für Bäcker, aber er hatte erst nach dem Krieg in einem Schnellstudium diesen Beruf erlernt. Zuvor war er ein Bäckergeselle gewesen, der wegen des langen Arms der Wehrmacht seine Meisterprüfung nicht hatte machen können. Drei Tage vor der Prüfung wurde er eingezogen. Und so wurde Hanne zum Arbeiterkind. Das war ein Status, der im SED-Land Vorteile brachte. Zum Beispiel 60 Mark mehr Stipendium monatlich.

Der Großvater mütterlicherseits war tatsächlich Arbeiter gewesen. Er hatte als Dreher geschuftet und dennoch jede Woche zu wenig Geld für die Familie nach Hause gebracht. Freitags konnte er oft nicht zum Frisör gehen, weil die Pfennige für den Haarschnitt fehlten und er erst am Sonnabend wieder Lohn erhielt. Bücher gab es in der Wohnung unter dem Dach nicht. So konnten keine nicht verbrennen, als das Haus gegen Ende des Krieges im großen Bombenangriff auf Nordhausen in Schutt und Asche fiel. Die Wohnung der Großeltern, in der Hanne die ersten zwei Jahre ihres Lebens verbrachte, war ein schlicht ausgebauter Dachboden ohne Wasseranschluss. In der selten benutzten guten Stube fingen die Fenster direkt am Fußboden an. Es handelte sich aber nicht um eine Glasfront mit Aussicht auf die Stadt, sondern die beiden Fenster endeten da, wo sich normalerweise Fensterbänke befanden. Hanne wusste später nie, ob sie sich wirklich erinnern konnte oder die Erzählungen des Großvaters ihr Bild geprägt hatten. Jedenfalls sah sie sich zum Fenster krabbeln.

Da es keine Bücher aus der Vorkriegszeit im Grimmschen Haushalt gab, las Hanne fast jedes Kinderbuch, das in der DDR gedruckt wurde. In den Sessel gekauert, dessen Holzlehnen sie mit ihren Knien zu sprengen drohte, fing sie sofort an zu lesen und hörte erst bei der letzten Seite auf, während die Mutter jammerte, dass sie an der frischen Luft spielen solle. Dabei war die Luft in den kalten Monaten Braunkohle geschwängert und kratzte im Hals.

Die Nachbarn besaßen elf Bände Karl May, die sie mit anderen Besitzern dieser kostbaren Vorkriegsware tauschten. Willi verzog zwar die Mundwinkel abfällig, weil der berühmte Autor aus Radebeul nie einen Fuß in die Länder gesetzt hat, die er beschrieb, aber wenn die Tochter es nicht sah, informierte er sich lieber selbst, was sie da so las.

Besonders schnell überflog sie die Seiten mit Old Shatterhands und Kara Ben Nemsis Abenteuern, wenn die Nachbarn abends das Buch zurück verlangten. Die geborgten Bände lasen sie nach Feierabend selbst. So blieben Hanne nur die Nachmittagsstunden unter den kritischen Blicken der Mutter, die als Hausfrau für die Tochter sorgte. „Nur-Hausfrau“ hieß das in der DDR, und es war ein wenig geachteter Job. Als der Staat sein Ende erlebte, war nur jede zehnte Frau nicht berufstätig.

In der ersten Zeit an der Uni bestand Hannes Problem darin, dass sie viel zu oft nur Bahnhof verstand. Deswegen kam sie sich ziemlich provinziell vor. Sie hatte kaum Westbeziehungen, vor allem keine intellektuellen. Die geizige Schwester des Vaters in Bayern verwaltete das wenige Westgeld aus einem Erbe, um das sich Willi letztlich und allzeit geprellt fühlte.

Bei Studienbeginn war Hanne stolz auf ihre „NATO-Pelle“, für die das Wetter allerdings in den Augusttagen zu sonnig war, denn es handelte sich um einen Regenmantel aus Nylon, der als kleines Päckchen in eine Tasche gestopft werden konnte. In Braun, Grün oder Blau, mit eng geknotetem Gürtel liefen die Leute im brennbaren Material herum. Viele hatten die Mäntel noch höchstpersönlich in Westberlin gekauft, denn die Mauer war ja erst wenige Tage alt.

Jeans, Nylonmäntel und andere Klamotten durften in Paketen geschickt werden, auch wenn die sozialistische Propaganda diese dekadenten Sachen schmähte. Bücher und Drucksachen indes durften weder auf dem Postweg reisen, noch mitgebracht werden von Besuchern. Selbst jemand, der einen westdeutschen Onkel mit Buchladen besaß, konnte keine Westpäckchen mit Büchern empfangen. Die Post wurde von den Hütern des sozialistischen Gesetzes kontrolliert. Viel zu viele Sendungen wurden geöffnet und verbotene Dinge gnadenlos entfernt. Man durfte sich glücklich schätzen, wenn der Rest die Weiterreise antrat. In der DDR hielten sich hartnäckig Gerüchte, die wichtigsten Persönlichkeiten des Landes würden ihr Alltagsleben mit den konfiszierten Westartikeln verschönern.

Während der ersten Studienwochen wusste Hanne oft nicht, wovon die anderen redeten. Sie fühlte sich nicht richtig zugehörig, weil sie von Heinrich Böll, Uwe Johnson, Ingeborg Bachmann, ja selbst von Franz Kafka noch nichts gehört, geschweige denn gelesen hatte. Nicht dass es sich um Pflichtlektüre gehandelt hätte, aber ein östlicher Germanistikstudent kannte sich eben mit Westliteratur aus, wenn auch inoffiziell. „Wovon reden die bloß?“ dachte sie mehr als einmal und kam sich klein und dumm vor.

Ein gewissenhafter, wenn auch spitzfindiger Student hatte schon vor ihrer Zeit ausgerechnet, wie viele Jahre für die Leseliste des Germanistischen Instituts benötigt würden. Er setzte einen Durchschnitt von 30 Seiten pro Stunde an und erkannte noch ohne Taschenrechner, selbst wenn man rund um die Uhr läse, reichte ein durchschnittliches Menschenleben nicht aus, die aufgeführte Pflichtliteratur zu bewältigen.

Darüber lachten die Neulinge, als sie sich nach der feierlichen Immatrikulation im Germanistischen Institut trafen. Die Raumnummer fanden sie am Schwarzen Brett. Sie waren die einzige Gruppe von Diplomgermanisten im ersten Studienjahr. Im 3. Studienjahr existierte eine weitere Gruppe. Alle anderen waren simple Lehrerstudenten. 19 Leute hatten es auf die begehrten Studienplätze geschafft und saßen nun zum ersten Treffen der Seminargruppe um die hufeisenförmig zusammen gestellten Tische.

Die Seminargruppe wurde eine Art Heimathafen, den Hanne und ihre Kommilitonen fünf Jahre lang jeden Studientag ansteuerten. Ein eigenes Klassenzimmer im Institut gab es zwar nicht, aber man kümmerte sich umeinander. Das ging so weit, dass man sich entschuldigte, wenn man fehlte, und gegebenenfalls ein Attest vorwies. Dann schrieb einer für den anderen mit. Man ging als sozialistischer Student nicht in den Gefilden der Wissenschaft verloren, sondern lernte im Kollektiv.

Am ersten Tag machte sich zunächst Verlegenheit an den Tischen breit, die sich mit Tintenflecken und Schnitzkunst wenig von einer Schulbank unterschieden. Alle trugen brav das Blauhemd der Freien Deutschen Jugend. Auch die Parteigruppe der DDR-Kommunisten, der SED, war – wie sich bald herausstellte - in ihren Reihen eine schlagkräftige Truppe. Gut zwei Drittel der Neuen machte sie aus.

Der rotbärtige Wolfgang verhinderte mit lauter Stimme, dass sich die Schweigeminuten zu Stunden dehnten und die Erforschung der Mensa womöglich bis zum nächsten Tag hätte aufgeschoben werden müssen. „Also stellen wir uns einfach mal gegenseitig vor“, sagte er und fuhr ohne Atempause fort: „Ich komme als Wolfgang Wurzel eigentlich später im Alphabet an die Reihe. Übrigens nennen mich meine Freunde Gustav. Warum, erzähle ich irgendwann mal. Ich komme aus Thüringen und bin stolzer Unteroffizier der Nationalen Volksarmee. Einige Leute hier kenne ich bereits von unserer ersten Parteiversammlung. Das war’s, glaube ich, und nun der – oder die – nächste.“

Reihum ging es daraufhin ohne Stocken..

Bemerkenswert stellte sich Winfried vor. Er komme von der Arbeiter- und Bauern-Fakultät und werde Schriftsteller. Als Lehre dafür scheine ihm das Germanistikstudium geeignet. Bei der SED-Versammlung sei auch er gewesen, und Unteroffizier sei auch er.

Dieser Rang war offensichtlich eine Voraussetzung für Männer, um die Karriereleiter bei den Germanisten zu erklimmen.

Außer Hanne kam nur noch ein Mädchen direkt von der Erweiterten Oberschule mit frisch geschriebenem Abiturzeugnis. Die anderen hatten einen Beruf erlernt oder in Betrieben Hand in Hand mit der Arbeiterklasse ein praktisches Jahr hinter sich gebracht, kannten sich also aus in der sozialistischen Produktion. Einige hatten wie Winfried die Arbeiter- und Bauern-Fakultät absolviert, eine sozialistische Erfindung in der Nachkriegszeit, um benachteiligten Arbeitern und Bauern das Abitur und damit die Hochschulreife zu ermöglichen. Die meisten jungen Männer der Seminargruppe hatten drei Jahre bei der Nationalen Volksarmee gedient, obgleich die Wehrpflicht nur eineinhalb Jahre dauerte. Offiziell hieß es, man verpflichte sich freiwillig zu drei Jahren Ehrendienst. Wer das nicht wollte, musste die Frage beantworten, warum er den Sozialismus nicht drei Jahre lang mit der Waffe in der Hand vor seinen Feinden beschützen wolle. So war das mit den freiwilligen Entscheidungen in der DDR!

Als die Gruppe wenige Tage später wieder an den Tischen saß, war eine Assistentin des Instituts zugegen. Hanne hatte in den ersten Vorlesungen die hohe Wissenschaft nur teilweise verstanden, aber durchaus die Bedeutung des Augenblicks empfunden, und sie hatte gelernt, dass es unterhalb des hohen Reigens der Professoren emsige Mitarbeiter gab, die entweder als Assistenten zuarbeiteten oder als Aspiranten am eigenen Beitrag zur Wissenschaft, der Doktorarbeit, feilten. Jetzt ging es in der Sitzung der Seminargruppe um eine äußerst wichtige Angelegenheit. Die Assistentin trug sie vor. Während die SED-Mitglieder sie vertraut als Sabine duzten, hatte Hanne nicht einmal ihren Nachnamen verstanden. Sie fühlte sich fehl am Platze und sehnte sich nach der vertrauten Umgebung am Goetheweg bei Grimms.

Ihre Gedanken hatten wenig mit den Feinden des Sozialismus zu tun, von denen Sabine sprach und die es zu bekämpfen galt. Der Mauerbau reichte noch nicht aus. Vorgeschlagen wurde eine Entsagung.

„Und so“ erklärte Sabine, „verpflichten wir uns, keine Radiosender aus dem Westen zu hören. Wir stehen zu unserem sozialistischen Staat. Er lässt euch studieren, gibt euch Stipendium, sorgt für uns. Er tut alles, um uns vor den Feinden des Sozialismus zu schützen, zum Beispiel tut er das mit dem Antifaschistischen Schutzwall. Wir gehen den Imperialisten nicht auf den Leim. Sie wollen uns durch dekadente Musik in ihren Hitparaden locken. Sie geben sich den Anstrich, als informierten sie umfassend in ihren Nachrichtensendungen. Wir verweigern uns dieser Hetze. Wir geben unserem Staat schriftlich, dass wir die Hetzsendungen nicht einschalten. Wir hören keine Hetzsendungen!“

Bei den letzten Sätzen ließ die leise Sabine etwas wie Temperament erkennen. Kämpferisch rief sie: „Wir versprechen: wir hören keine Westsender!“

Die angehende Intelligenz der DDR schwieg. Einige nickten. Mit ernstem Blick und bekennender Mimik. Sabine kramte einen Zettel aus ihrer Aktentasche. Die Verpflichtungserklärung war vorbereitet. Sie enthielt den Aufruf und die Namensliste.

Die Assistentin besann sich - irgendwie noch - auf demokratisches Prozedere, während sie das Papier dem neben ihr sitzenden Wolfgang reichte, und sprach ins Abseits: „Gibt es Fragen?“

Greifbar lag der Einwand in der Luft, dass man sich doch selbst und umfassend informieren müsse. Als Student sei man in der Lage, zwischen falsch und richtig zu unterscheiden. Jedenfalls sollte man es lernen.

Keiner sagte etwas. So hört sich betretenes Schweigen an. Angesichts des Zettels sah jeder vor sich auf den Tisch. Wenn der Aufruf vor ihm landete, unterschrieb er ohne Zögern. Alle unterschrieben.

Alle verkaufen ihre Seele, dachte Hanne bekümmert. Schon wieder hätte sie die Schwurhand nach unten halten müssen, um die Verpflichtung aufzuheben, noch während sie unterschrieb. Hanne war sich sicher, dass niemand dieses Versprechen gegenüber der den sozialistischen Staat regierenden SED ernst nahm. Schon vor der Unterschrift hatte keiner den RIAS oder andere Hetzsender in üblicher Lautstärke eingestellt, sondern stets ein bisschen leiser.

Nachdem alle ihren Namen geschrieben hatten, sagte Hans, der Däne, mit seinem skandinavischen Akzent ein weiches „Ja, aber“. Er fragte, wie das mit ihm denn sei, wenn er nach Hause fahre, was ja nicht oft vorkomme. „Wenn ich als Kommunist mit meinen Landsleuten diskutieren will, muss ich doch wissen, welche Meinungen unter ihnen verbreitet werden und was die einzelnen Parteien an Parolen und Lügen loslassen.“ Na ja, und eigentlich wäre es doch auch sonst nicht unklug- er wiederholte das Wort unklug, weil er stolz darauf war, dass er es gefunden hatte: Es wäre doch nicht unklug, die Argumente des Klassenfeindes zu kennen. „Dann lässt sich besser dagegen halten. Ist es nicht besser, den Klassenfeind mit den eigenen Waffen zu schlagen?“

Einige zunächst zustimmende Kopfbewegungen gingen beim Blick in die Runde in ein bedenkliches Wiegen des Kopfes über.

„Hm! Hm!“ sagte Winfried, der künftige Schriftsteller. „Ich denke, wir erhalten von den Sendern unseres Arbeiter- und Bauern-Staates genug Munition für derartige Auseinandersetzungen.“

Sabine musste nichts mehr hinzufügen. Sie nahm den Zettel an sich und hatte ihren gesellschaftlichen Auftrag erfüllt, alle Unterschriften beizubringen.

Als Hanne in der S-Bahn saß, schämte sie sich. Ihr wurde beinahe übel, und sie hatte eines der Aha-Erlebnisse, wie sie nicht oft im Leben vorkommen.

„Ich bin nicht besser als ein Nazi, obwohl ich mich bisher immer haushoch überlegen fühlte“, dachte sie. „Ich bin nicht besser als die Mitläufer unter Hitler. Auch mit mir wären Morde in den Konzentrationslagern und im Krieg möglich. Weil ich feige bin. Weil ich kusche und meine Meinung nicht vertrete. Ich gebe klein bei. Ich bin ein Feigling. Ich muss mich schämen.“

Sie hatte nicht das Gefühl, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, sondern diese Unterschrift wurde ihr Schlüsselerlebnis als Mitläuferin. Wenngleich es sich nur um eine Unterschrift handelte, die niemanden verriet und niemandem schadete, ein Wort auf einem Papier, wurde ihr plötzlich klar, wie angepasst sie war, wie sie sich längst hatte verbiegen lassen. Jemand, der nicht Nein sagt, obwohl er Nein denkt, ist ein Opportunist. Diesmal ging es nicht um Leben und Tod. Aber Hanne glaubte in diesem Moment nicht, dass sie mutiger handeln würde, wenn der Anlass von größerer Bedeutung wäre, wenn es wirklich um Leben und Tod ginge.

Sie kannte ihre DDR gut genug, um zu wissen, was sich abgespielt hätte, wäre sie mutiger gewesen. Ihr Nein hätte eine Diskussion in der Seminargruppe ausgelöst. Alle hätten sie zu überreden versucht. Wäre sie bei ihrer Meinung geblieben, dass sich jeder selbst informieren müsse, hätte sich die Gruppe des Jugendverbandes, dem sie angehörte, ihretwegen getroffen. Wieder hätten alle ihre Zustimmung und Unterschrift gefordert. Die Diskussion wäre wortgleich verlaufen. Das Beharren auf dem Widerspruch hätte sie dann vor die FDJ-Leitung des Institutes gebracht und schließlich vor die Institutsleitung. Das wussten sie alle als erfahrene DDR-Bürger. Hätte sie noch immer nicht klein beigegeben, wäre sie des Studienplatzes für unwürdig befunden worden. Man hätte ihr empfohlen, sich in der sozialistischen Produktion zu bewähren.

Hanne wollte studieren. Die poplige Unterschrift war es nicht wert, auf das Studium zu verzichten. Viele verstanden das und verhielten sich so.

Aber ihr war heute bewusst geworden, wie feige sie war. Sie war ein Mitläufer, mit dem Diktaturen beliebig umspringen konnten.

Sie schämte sich.

Ständiger Wohnsitz: Hauptstadt der DDR

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