Читать книгу Ständiger Wohnsitz: Hauptstadt der DDR - Hannelore Kleinschmid - Страница 8

7. Ein ungewöhnlicher Käfer

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In einer Pause zwischen zwei Lehrveranstaltungen spazierten die beiden jungen Frauen Unter den Linden entlang, obwohl ein kalter Wind blies und es nieselte.

„Ich brauche jemanden, mit dem ich sprechen kann“ erklärte Carola. „Ich weiß, ich sollte es nicht tun. Ich sollte dich nicht da hineinziehen. Aber ich muss reden. Ich rege mich so furchtbar auf. Und du weißt sowieso schon so viel von mir.“

Dann berichtete sie, und das Vorhaben kam Hanne ganz unwirklich vor. Wie ein Märchen. Hoffentlich würde es ein glückliches Ende geben: Und wenn sie nicht gestorben sind…

„Ich haue ab“, sagte sie. „Ich gehe in den Westen zu meinem Freund.“ Hanne konnte nicht glauben, was sie da hörte: „Wie soll das gehen?“ „Er macht das schon“, versicherte Carola. „Er hat seinen Käfer umgebaut. Mit Freunden hat er das irgendwie gemacht. Unter dem Tank gibt es jetzt einen Hohlraum. Heute Abend kommt er, und wir machen eine Probefahrt. Kannst du dir vorstellen, wie nervös ich bin? Mir ist ganz schlecht davon. Immerzu überlege ich, was ich unbedingt mitnehmen muss. Das heißt, mitnehmen kann ich natürlich gar nichts, aber heute und in den nächsten Tagen könnte ich ihm ein paar Sachen mitgeben. Na ja, selbst das ist schwierig. Er wird kontrolliert und darf nicht auffallen.“

Endlich fand Hanne ihre Sprache wieder: „Sag mal, bist du dir sicher, dass er der Richtige ist? Wie gut kennt ihr euch?“

„Er hat einen Beruf, verdient Geld, und er hat eine Wohnung. Ich habe lange nachgedacht, als er mir das Angebot gemacht hat. Und nun glaube ich, wir können es jedenfalls versuchen. Wenn es nicht zusammen geht, bin ich wenigstens im Westen. Als Flüchtling im Westen, da werde ich schon Hilfe bekommen. Und einen Studienplatz“, denke ich.

„Aber, Carola, was ist mit deinen Eltern? Die werden doch nicht in Holland bleiben können, wenn du abhaust.“

Sie zögerte und sagte nach einer Weile: „Auch darüber habe ich mir Gedanken gemacht und mit meiner Schwester gesprochen. Sie meinte, unsere Eltern hätten sich so wenig um uns gekümmert, dass wir ihnen gegenüber zu nichts verpflichtet seien.“

Während der Vorlesung malte Hanne Männchen aufs Papier und bekam kein Wort mit. Wenige Tage später lud Carola sie zu ihrer Schwester ein. Sie wohnte mit ihrer Familie in einer Neubauwohnung aus der Zeit, als die Plattenbauweise noch nicht erfunden oder die Produktion von Betonfertigteilen noch nicht verwirklicht worden war. Bei Kaffee und Kuchen erfuhr Hanne, dass die Kommilitonin keine Spinnerin und der Fluchtplan eine ernsthafte Angelegenheit war. Schon in einigen Tagen sollte die Aktion vonstatten gehen. Die Generalprobe war geglückt. An einem einsamen Ort war Carola in das Auto geklettert, hatte in den engen Raum gepasst und die Abdeckung ertragen, ohne zu ersticken. Sie hatte eine Probefahrt von etwa einer halben Stunde überstanden. Hanne bewunderte den Mut der Freundin. Schon allein die Vorstellung von diesem gefährlichen Abenteuer erzeugte einen Magen voller Ameisen. Nur wenige Tage vergingen noch, bis es zum Abschied kam. Es wurde ein endgültiger Abschied.

Nur noch einmal hörte Hanne von Carola V., als sie die Schwester Anfang 1962 anrief und einlud. Um illegale Mithörer zu irritieren, wurde das Radio angedreht, während sich die beiden Frauen unterhielten.

Reibungslos hatte die Republikflucht geklappt. Tage später klingelte es an der Wohnungstür und zwei Männer drängten sofort in den Flur, als die Schwester öffnete. Sie erklärten, sie seien von der Volkspolizei. Da sie keine Uniform trugen, nahm Carolas Schwester an, dass es sich in Wirklichkeit um die Staatssicherheit handelte. Sie wurde gefragt, ob sie und ihre Familie etwas von Carolas Absicht gewusst hätten. Ob sie wisse, wie die Flucht vonstatten ging. Die Schwester verneinte. Die Herren drohten damit, die Familie künftig im Auge zu behalten. Dann gingen sie unverrichteter Dinge.

Hanne machte die wertvolle Erfahrung, dass die Stasi ihre Augen und Ohren nicht überall hatte. Die „Firma Horch und Guck“ hatte sich weder in der Seminargruppe noch bei ihr persönlich blicken lassen, obwohl sie die einzige Freundin Carolas an der Universität gewesen war. Offenbar hatte niemand von ihrer beider Geheimniskrämerei berichtet. Sie war froh, dass ihr eine Befragung durch die Stasi erspart blieb, und malte sich aus, wie die Freundin glücklich und zufrieden im Goldenen Westen lebte.

Ständiger Wohnsitz: Hauptstadt der DDR

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