Читать книгу Ständiger Wohnsitz: Hauptstadt der DDR - Hannelore Kleinschmid - Страница 2

1. Zweimal umsteigen

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Es war eine Fahrt ins Ungewisse. Hanne und ihre Eltern hatten keine Ahnung vom Leben in Berlin. Sie kannten den Alltag in ihrer kleinen Stadt, in der Hanne das Abitur als Beste der einzigen Erweiterten Oberschule bestanden hatte. Kein Wunder, dass sie von allen als Streberin angesehen wurde. Genauer gesagt als Streberleiche.

Die DDR war ein sehr geordnetes Land. Jedes Abenteuer wurde von vornherein ausgeschlossen, weil sich der Staat um die Bewohner kümmerte, egal, ob sie das wollten oder nicht. Nachdem Hanne den Bescheid erhalten hatte, sie dürfe Germanistik studieren, wurde ein Platz im Studentenheim bereitgestellt. In Berlin würde sich ein Bett finden. Selbst wenn es das fünfte oder sechste Bett in einem Vier-Bett-Zimmer und die Matratze durchgelegen war. Oder direkt auf dem Boden lag. Niemand musste im Sozialismus unter der Brücke schlafen. Sorge um den Menschen werde groß geschrieben, sagten die Funktionäre.

Hanne hatte sich den Abschied aus ihrer thüringischen Heimatstadt tränenreich ausgemalt. Vorm Einschlafen hatte sie den Sommer über jeden Abend gedacht, wie unendlich traurig ihre Mutter Annemarie sein würde, wenn das einzige Kind mit gerade 18 Jahren von zu Hause weg ging. In die Fremde, bis nach Berlin, über 500 Kilometer entfernt. Wie sie aus Sehnsucht geweint habe, würde Annemarie schreiben. Diese Nachricht würde Hanne zu Tränen rühren. Also schriebe sie nach Hause, dass auch sie vor Heimweh Tränen vergossen habe. Erneut würde die Mutter weinen.

Der traurige Abschied stand kurz bevor, als Hanne mit den Eltern auf dem Bahnhof wartete. Der Geruch der qualmenden Lokomotiven, in denen billige Braunkohle verfeuert wurde, verband sich von nun an mit dem Aufbruch ins Studentenleben. Noch Jahre später wunderte sie sich, wieso die Eltern ihr Goldkind mutter- und vaterseelenallein in die unbekannte Ferne reisen ließen. Offensichtlich vertrauten sie der umfassenden Sicherheit, derer sich die DDR rühmte. Oder sie fühlten sich der ungewohnten Lage nicht gewachsen.

Bis kurz vor der Abreise hatte Hanne das Kofferpacken aufgeschoben, weil ihr davor graute. Die Mutter schepperte in der Küche mit Töpfen und Tellern herum, als gehe sie das alles nichts an. Hanne überlegte, welche Sachen sie unbedingt in Berlin brauchen werde, und warf sie aufs Bett. Als sie sich mühte, den Berg, der sich angehäuft hatte, in den grau gestreiften Stoffkoffer mit Kanten aus Kunstleder und die karierte Reisetasche zu zwingen, klemmte ein Reißverschluss. Vor Wut heulte sie auf. Vater Willi schrie ins Zimmer, es sei höchste Zeit für den Aufbruch. Hanne brüllte zurück, er solle sie gefälligst in Ruhe lassen. Daraufhin erschien der kleine Mann, der von der Tochter um einen halben Kopf überragt wurde, auf der Schwelle, überblickte die dramatische Lage und kritisierte viel zu laut, wie man nur so ungeschickt sein könne. Hanne raste wutschnaubend aus dem Zimmer. Umgehend beschimpfte nun die Mutter den Vater als unsensibel und Elefant im Porzellanladen. Er erwiderte wenig freundlich:

„Wenn du mitgehen willst, solltest du dich schleunigst anziehen. In der ältesten aller Kittelschürzen kannst du deine Tochter nicht zum Bahnhof begleiten. Ein Büstenhalter wäre auch angebracht.“ fügte er hinzu. Es klang irgendwie unfreundlich.

Die familiäre Harmonie war mehr als gefährdet. Das kam übrigens ziemlich oft vor. Zoff dieser Art war bei Grimms nichts Seltenes.

Schließlich hatte Willi Koffer und Tasche so gepackt, dass er beide Stücke schließen konnte. Stolz tat er es, wenn auch unter Ächzen. Vorsichtshalber schob Hanne den Gedanken weit von sich, wie sie den ganzen Kram jemals wieder in den beiden Behältnissen verstauen könnte. Hätte sie geahnt, dass das schon in wenigen Tagen der Fall sein würde, wäre ihr noch mulmiger zumute gewesen. Obgleich Koffer und Tasche eher klein waren, schienen sie Steine zu enthalten. Es verbesserte ihre Stimmung nicht, als sie sich vorstellte, wie sie diese beiden Felsbrocken über endlose Berliner Straßen schleppte. Dabei hätte sie die ganze Zeit wie ein Honigkuchenpferd strahlen müssen, weil sie einen sehr begehrten Studienplatz erobert hatte. Wie sich bald herausstellte, war sie die Jüngste in der Seminargruppe. Eine Seminargruppe war die Schulklasse in der sozialistischen Universität.

Die Fahrt nach Berlin dauerte mindestens acht Stunden. Zweimal musste man umsteigen, wovor Hanne graute. Nur wenn der Zug pünktlich war, bekam man den Anschluss. Das geschah selten bei der Deutschen Reichsbahn in der DDR. Also brauchten die Reisenden meistens viel oder sogar sehr viel Zeit, bis sie ihr Ziel erreichten. Doch die Reichsbahn dachte positiv und nannte ihren Zug nach Berlin Städteschnellverkehr.

Während die Waggons schaukelnd über die Gleise ratterten, kam Hanne ins Gespräch mit einer Mitreisenden, die in Berlin lebte. Wie sich herausstellte, vermietete ihre Mutter unweit der Schönhauser Allee ein Zimmer an Studenten. Wenn das kein Wink des Schicksals war. Die Frau besaß sogar ein Telefon. Hanne schrieb sich die Nummer auf. Sie würde anrufen und nach dem Zimmer fragen. Vielleicht war ihr das Glück hold. So kann es gehen mit dem Zufall im Leben.

Aber erst einmal galt es, auf dem Ostbahnhof die S-Bahn nach Biesdorf zu finden, bevor die Arme, die Koffer und Tasche trugen, sich auf die doppelte Länge ausgedehnt hatten und abfielen. Wie das Mädchen vom Lande fühlte sie sich, als sie, am Zielbahnhof angekommen, verschwitzt, klebrig und schmutzig anderen jungen Leuten mit Koffern und Taschen hinterher trabte. Besser gesagt: sie schleppte sich und das Gepäck mühsam vorwärts. Damals trug man es noch am Griff, die Rollen unter den Koffern waren noch nicht erfunden. Glücklicherweise trog ihre Ahnung nicht, dass die Anderen ebenfalls Studenten waren, und so landete sie noch vor Einbruch der Dunkelheit, die ja sommers lange auf sich warten lässt, zuerst in einem Büro und danach als Fünfte in einem Vierbettzimmer. Der nicht mehr ganz neue Neubau des Studentenheimes verströmte den Charme der DDR-Zweckbauten aus den fünfziger Jahren. Grauer Putz über Beton, Korridore mit grauem Linoleumboden, die intensiv nach Lysol rochen. Zwei Mädchen sahen die Neue skeptisch an. Sie stellten sich als weise ältere Semester heraus. Während Hanne neben dem Bett stand, das sie ihr zuteilten, und sich schrecklich verloren fühlte, bequemte sich die eine, ihr zu erklären, wo sie Decke, Kissen und Bettwäsche abholen müsse. Die Zweite ratterte herunter, welches ihr Schrankfach sei und wo sie Essen fassen, sich duschen und andere dringende Bedürfnisse erledigen könne. Abschließend sagte sie: „Hoffentlich nistest du dich nicht hier ein. Du siehst ja, wie eng es schon für vier Leute ist, viel zu eng.“

Hanne sah, dass es nur vier Stühle gab. Ihre Sehnsucht nach der Mutter wuchs ins Unermessliche. Dabei hatte sie immer gedacht, nie im Leben würde sie es in einer Stadt wie M., wo sie aufgewachsen war, aushalten. Um keinen Preis wollte sie ihr Dasein dort fristen, wo sie jede Straße und jedes Haus kannte. Aber am ersten Tag in der Fremde erschien ihr die Kleinstadt schön wie nie.

Ständiger Wohnsitz: Hauptstadt der DDR

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