Читать книгу Leibniz in der Rezeption der klassischen deutschen Philosophie - Hans Heinz Holz - Страница 10
I.
ОглавлениеDer Toleranz-Gedanke entsteht in engem Zusammenhang mit der Konzeption des Eigeninteresses des bürgerlichen Individuums als konstitutiven anthropologischen, gesellschaftlichen und politischen Prinzips, und diese Verknüpfung definiert – und das heißt auch: begrenzt – die Toleranzforderungen der Aufklärungsdenker. Thomas Hobbes hat dazu sowohl die anthropologischen wie die politischen Grundlagen formuliert: Menschen haben Begierden, die sie zu stillen streben; und weil alle Menschen von gleicher Art sind, setzen sie alle ihre Zwecke innerhalb eines und desselben eng umrissenen Spielraums und geraten so in Konkurrenz zueinander: „Nature has made men so equall, in the faculties of body, and mind … From this equality of ability, ariseth equality of hope in the attaining of our Ends. And therefore if two men desire the same thing, which nevertheless they cannot both enjoy, they become enemies; and in the way to their End (which is principally their owne conservation, and sometimes their delectation only) endeavour to destroy, or subdue one another.“ Und darum gilt: „Every man has a right to every thing“.3
Der in der sinnlichen, appetitiven Natur des Menschen begründete Widerstreit zwischen den Individuen hätte eine den Zweck des Lebensgenusses und der Selbsterhaltung durchkreuzende Wirkung, würden die Menschen nicht Verfahrensregeln ersinnen und deren Einhaltung erzwingen, die den Kampf aller gegen alle verhüten. „Consequently it is a precept, or a generall rule of Reason, that every man, ought to endeavour Peace, as farre as he has hope of obtaining it; and when he cannot obtain it, that he may seek, and use, all helps, and advantages of Warre“.4
Das Friedensgebot (substituierbar durch das der Selbstverteidigung) ist das erste und grundlegende Naturgesetz (= Vernunftgesetz). Daraus folgt das zweite, das Gebot gesellschaftlicher Selbstbeschränkung: „That a man be willing, when others are so too, as farre forth, as for Peace, and defence of himselfe he shall think it necessary, to lay down this right to all things; and to be contented with so much liberty against men, as he would allow other men against himselfe“.5
Das Ausmaß der Selbstbeschränkung auf Gegenseitigkeit steht immer in Konflikt mit dem Streben nach vollständiger Bedürfnisbefriedigung. Das wohl verstandene Eigeninteresse, das auf Erhaltung einer Friedensordnung gerichtet sein muß, wenn eine vernünftige Bedürfnisbefriedigung gewährleistet bleiben soll, darf nur um das unbedingt notwendige Maß an gegenseitiger Rücksichtnahme verkürzt werden, wenn eine stabile Ordnung erhalten werden soll. Toleranz gegenüber jeglichem Verhalten des anderen, durch das nicht ein unverzichtbares Allgemeininteresse verletzt wird, ist darum eine notwendige Bedingung des gesellschaftlichen Friedens. Toleranz ist das Prinzip der Minimierung von Zwang in einer Gesellschaft bürgerlicher (egoistischer) Individuen, also in der bürgerlichen Gesellschaft.
Das von Hobbes vorgezeichnete Denkmodell bleibt in der Diskussion des 17. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts bestimmend. Der von Hazard als eine Magna Charta des Toleranzprinzips gefeierte Brief John Lockes über Toleranz6 macht das deutlich. Es geht um „the mutual toleration of Christians in their different professions of religion“.7 Dem Glaubensverhalten liegt der Zweck der bürgerlichen Gesellschaft voraus: „The Commonwealth seems to rae to be a society of men constituted only for the procuring, preserving and advancing their own civil interests. Civil interests I call life, liberty, health and indolency of body; and the possession of outward things, such as money, land, houses, furniture, and the like“.8 Die Autorität der gesellschaftlichen Instanzen kann sich – da keine eine Legitimation Gottes nachweisen kann – nur auf weltliche Dinge gemäß der natürlichen Vernunft erstrecken. Die Religionen dagegen stehen in unentscheidbarer Idealkonkurrenz: „The decision of that question belongs only to the Supreme Judge of all men, to whom also alone belongs the punishment of the erroneous“.9 Was das Jenseits betrifft, braucht erst im Jenseits entschieden zu werden.
Daß Meinungen nicht toleriert werden sollen, die dem Gesellschaftszweck zuwiderlaufen,10 klingt noch einleuchtend. Das Verbot von Kriegspropaganda und Völkerverhetzung in den Gesetzen des Alliierten Kontrollrats zur Befreiung Deutschlands vom Faschismus und Militarismus 194511 geht noch von demselben Gedanken aus. Doch die apodiktische Deklaration der Intoleranz gegen Atheisten enthüllt dann die Grenzen, die der Denkfreiheit bei Locke gezogen werden: „Those are not at all to be tolerated who deny the being of God“.12 Der Ausbruch aus einer Konformität der Religiosität, die die Stabilität von Staat und gesellschaftlicher Moral garantierte, durfte nicht gestattet werden. Die Entstehungsgeschichte des Letter concerning toleration erklärt die Diskrepanz zwischen Aufklärungspathos und religiöser Engherzigkeit. 1686 im niederländischen Exil geschrieben, stellt er Erwägungen an über die Bedingungen, unter denen die absolutistisch-katholische Restauration der Stuarts durch eine bürgerliche Verfassung abgelöst werden könnte, ohne daß dies zu einem neuen Bürgerkrieg führen müßte. So stehen die Toleranz-Schriften (neben dem zitierten ersten noch zwei weitere Briefe – alle anonym erschienen) in engstem Zusammenhang mit den auf Begründung eines bürgerlichen konstitutionellen Staates gerichteten zwei Treatises of Government und gehen über deren Horizont nicht hinaus. Der Staatszweck wird da bestimmt als „Erlaß von Gesetzen unter Androhung der Todesstrafe (und folglich auch aller minderen Strafen) zur Regelung und Erhaltung des Eigentums“ auf der Grundlage eines Naturgesetzes, „das den Frieden und die Erhaltung der gesamten Menschheit erheischt“13 – und Gewissensfreiheit ist eine Bedingung der Friedenserhaltung. Weiter reichen Toleranz und Humanität nicht. Locke, der seit 1668 sieben Jahre lang Sekretär der Vereinigung der Eigentümer von Carolina war (die von einem anderen aufklärerischen Staatsmann, dem Earl of Shaftesbury, geleitet wurde), ist Autor (bzw. Koautor) der Verfassung für die Kolonie, in der es heißt:
„Art. 109: Niemand darf einen anderen wegen seiner spekulativen Meinungen über die Religion und den Gottesdienst stören, belästigen oder verfolgen. Art. 110. Jeder Freie soll absolute Gewalt und Autorität über seinen Negersklaven gleich welcher Religion haben“.
Toleranz ist ein Aspekt des Schutzes bürgerlichen Eigentumsinteresses. „Das Eigentum, und zwar das bürgerliche Privateigentum, wird zur Grundlage der individuellen Freiheit und der staatlichen Machtausübung erklärt. Insofern ist die besonders von Locke bis in ihre verfassungsrechtlichen Konsequenzen durchdeklinierte Konzeption, nach der nicht Gottesgnadentum zur Herrschaft legitimiert, sondern Eigentümerauftrag, von unüberbietbarer struktureller Bedeutung“.14 Die Inhalte und Grenzen des bürgerlichen Begriffs von Freiheit (mit all seinen Implikaten, von denen die Gewissensfreiheit und also die wechselseitige Toleranz nur eines ist) sind durch dieses Ausgangsprinzip festgelegt. Gerade da, wo (wie in England) die bürgerlichen Klasseninteressen schon deutlich ausgebildet waren, tritt diese Einseitigkeit des emanzipatorischen Programms klar hervor.