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VORWORT DES HERAUSGEBERS

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Im vorliegenden Band legen wir Arbeiten von Hans Heinz Holz zur Rezeptionsgeschichte Leibnizens von der Aufklärung bis zur Nachwirkung des deutschen Idealismus vor. Es handelt sich insofern um eine Ergänzung nicht nur zur großen Leibnizmonographie,1 sondern auch zur Problemgeschichte der Dialektik.2 Denn der in diesem Werk breit entwickelte problemgeschichtliche Ansatz wirkt auch in allen hier vorgelegten Texten. Holz charakterisiert ihn selbst zu Beginn der Geschichte der Dialektik in der Neuzeit: „Eine Problemgeschichte, der es um eine ausformulierte Problemgestalt und ihre systematische Verarbeitung geht, wird innerhalb des historischen Verlaufs Akzente zu setzen haben.“3 Anders als in einer ideengeschichtlichen oder auch einer begriffsgeschichtlichen Arbeit an der Philosophiegeschichte geht es einer problemgeschichtlichen Methodologie darum, den historischen Transformationen eines systematischen Problems nachzugehen.

Es ist also eine systematische Perspektive, die den Zugriff auf Philosophiegeschichte motiviert und akzentuiert. Von der Dialektik und ihren Grundproblemen her gesehen ergibt sich für Holz ein anderer Blick auf die Geschichte der deutschen Philosophie als die üblichere und unter anderen systematischen Gesichtspunkten auch legitimierbare Sicht, die die klassische deutsche Philosophie von der überragenden Gestalt Kants her interpretiert. Problemgeschichte strukturiert das historische Material. Von der systematischen Perspektive der Dialektik aus betrachtet stellt sich die moderne Philosophie als eine Entwicklung dar, in der die Gestalten Leibniz und Hegel Kulminationspunkte dialektischer Problemstellungen sind: „Die von Galilei und Descartes vollzogene Verweltlichung der Wissenschaft und Philosophie machte es nötig, für die philosophischen Fragen nach dem Grund und nach dem Absoluten einen neuen Zugriff zu finden. Diese Aufgabe bestimmt in der einen oder anderen Weise das Philosophieren im 17. und 18. Jahrhundert. Leibniz reagierte darauf mit der Ausarbeitung dialektischer Konzepte. Er stellt den ersten Höhepunkt in der Geschichte der neuzeitlichen Dialektik dar. Kant, der dann unter Aufnahme der Impulse des englischen Empirismus die cartesische cogito-Philosophie zu einem transzendentalen Subjektivismus radikalisierte, gab den Anstoß zum zweiten großen Ansatz einer dialektischen Konstruktion der klassischen metaphysischen Probleme durch Hegel. Aus dieser Charakterisierung der Problementwicklung ergibt sich, dass die Hauptstücke über Leibniz und Hegel zu tragenden Pfeilern im Gesamtaufbau werden.“4 Hinter dieser Begründung einer philosophiehistorischen Darstellungsform steht die grundsätzliche Einsicht, die Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie als einheitliche Epoche zwischen Leibniz und Hegel zu sehen: „Die metaphysische Konstruktion der Totalität als Integral infinetisimaler Mannigfaltigkeit und ‚Resultat‘ eines Fortschreitens in infinitum (notio completa) führt dann auf die Ausbildung der spekulativen Methode, die Schelling in engem Anschluß an die Leibnizsche Tradition beginnt und die von Hegel, wiederum in Übereinstimmung mit grundlegenden Leibnizschen Konzeptionen, vollendet wird. Diese zwei Linien des deutschen Idealismus, die kantisch-transzendentalphilosophische und die hegelisch-spekulative, haben ihre Wurzel und die Einheit ihres metaphysischen Weltbegriffs (…) im System von Leibniz …“5

Diese Grundeinsicht wirkt in den Arbeiten dieses Buches. Erstmals entwickelt ist sie in der Dissertation über Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel. Sie ist selbst ein Stück Universitätsgeschichte im geteilten Deutschland: Es handelt sich um die Arbeit eines westdeutschen Philosophen, der 1956 bei Ernst Bloch an der ostdeutschen Universität Leipzig promoviert. Aufgrund der politischen Umstände, die Anfang 1957 zur Emeritierung Blochs führten, erhielt Holz seinen Titel nicht. Es folgten jahrelange Auseinandersetzungen um seine Anerkennung, und erst Ende der sechziger Jahre erhielt Holz den Doktortitel dann doch noch zugesprochen. Sachlich betrachtet führt diese Dissertation den Grundgedanken, die klassische deutsche Philosophie als eine epochale Einheit der Entwicklung zwischen Leibniz und Hegel zu interpretieren, die die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland philosophisch reflektiert, im Kern schon aus. Er führt diesen Gedanken an einem zentralen Motiv der Aufklärungsphilosophie exemplarisch vor, nämlich dem Bildungsgedanken als Emanzipation des Menschen zu sich selbst. Bei Leibniz äußert er sich als Idee der Erziehung des Menschen als Ausbildung aller seiner Fähigkeiten bis zur vollständigen Selbständigkeit und damit Aufhebung des Herr-Knecht-Verhältnisses durch Bildung. In Hegels Dialektik von Herr und Knecht entsteht die Selbständigkeit im Bewußtsein des Knechts, daß der Herr nur im Verhältnis zum Knecht Herr sein kann, also unselbständig ist. Es handelt sich um die Transformation ein und desselben Problems, das von Leibniz zu Hegel eine mit der gesellschaftlichen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft vermittelte andere Gestalt annimmt, aber als Problem dasselbe bleibt. Genau dieser systematische Gedanke wirkt in allen problemgeschichtlichen Arbeiten von Holz zur Philosophiegeschichte bis hin zur späten Geschichte der Dialektik. Er wirkt auch in den kleinen Arbeiten, die wir hier aus dem Nachlaß vorlegen.

In der Arbeit zu Lessing und Leibniz ist es etwa der Toleranzgedanke, der sich aus der leibnizianischen Metaphysik ergibt, die von der Pluralität des Seienden und der Perspektivität menschlichen Wissens auf das Problem der Relativität von Wahrheitsansprüchen stößt, das sich dann als Problem bis zur Ringparabel in Lessings Nathan weiterverfolgen läßt. In dem Text zu Gottsched als Leibnizübersetzer reflektiert Holz nicht nur die Bedeutung der Muttersprache für die Philosophie im 18. Jahrhundert, sondern zeigt außerdem, wie gerade an einem exoterisch gemeinten, an ein breites Publikum gerichteten und daher Allgemeinverständlichkeit intendierenden Werk wie der Theodizee das Problem entsteht, daß die Popularisierung einer Philosophie auch zu Mißverständnissen über sie führen kann. Die Theodizee ist durch Gottscheds Übersetzung zum wirkungsmächtigsten Werk Leibnizens im 18. Jahrhundert geworden. Leibniz selbst hatte den Anspruch, alle Aussagen der Theodizee auch in strenge metaphysische Sätze zurückführen zu können. Ein schlagendes Beispiel dafür ist etwa die Rede von der besten aller möglichen Welten, die über Voltaire zum Spott aufklärerischer Leibnizkritik geworden ist. Interpretiert man sie jedoch nicht als theologischen Gedanken der Theodizee, sondern von dem metaphysischen Gedanken der Kompossibilität aus, ergibt sich ein anderes Bild: Wir leben nicht in der besten aller möglichen, sondern in der besten aller möglichen Welten, weil diese bestehende Welt als Einheit von zugleich Möglichem nur so geworden sein konnte, wie sie geworden ist. Wenn man die Strenge des metaphysischen Gedankens zur Kenntnis nimmt, zerfällt seine Banalisierung zum Optimismus auf der Stelle. In Gottsched kristallisiert sich dieses Problem des Verhältnisses von exoterischer Popularisierung – ohne die eine Philosophie nicht wirken kann – und der hinter ihr stehenden strengen Systematik. Gottsched hat das Verdienst, zur Verbreitung von Leibniz entscheidend beigetragen zu haben, aber um den Preis, den eigentlichen metaphysischen Gehalt seiner Gedanken verfehlt zu haben. So weist der Leibnizübersetzer Holz6 an dem frühen und klassischen Beispiel des Übersetzers Gottsched auf ein sich durchhaltendes Problem der Wirkungsgeschichte von Leibniz hin.

Am Beispiel Schellings rekonstruiert Holz dann die im deutschen Idealismus sich vollziehende Entdeckung des spekulativen Gehalts der Philosophie von Leibniz. Schelling rückt Leibniz in die Nähe von Spinoza und interpretiert damit seine Metaphysik als ein Modell des Weltganzen. Das sind Problemstellungen, die sich dann in dialektischer Gestalt bis Hegel weiterentwickeln. Dabei kommt es Holz gar nicht so sehr darauf an, ob bzw. in welchem Ausmaß Schelling – und das gilt auch für Hegel – die Philosophie von Leibniz „richtig“ darstellt (die Quellenlage am Anfang des 19. Jahrhunderts war dazu ohnedies nicht ausreichend), sondern darauf nachzuzeichnen, daß Schelling die spekulative Grundrichtung der leibnizianischen Metaphysik erkennt. Denn in ihr zeichnen sich die dialektischen Problemstellungen ab, die Holz in seiner eigenen Aneignung und Interpretation hervorhebt und weiterentwickelt. Es geht also auch hier um eine problemgeschichtliche Perspektive, die zugleich die lange Abhandlung zu Feuerbachs Leibnizbuch charakterisiert.

Denn an Feuerbach zeigt sich ein weiteres, für Holz wesentliches Moment der frühen Rezeptionsgeschichte Leibnizens: die Frage nach der Möglichkeit einer materialistischen Aneignung des metaphysischen Gehalts des Denkens von Leibniz, die ja den Kern seiner eigenen Interpretation und auch Fortbestimmung im eigenen Denken ausmacht. Elemente der Leibnizinterpretation von Holz selbst – so die Ablösung der Deutung von der Theologie oder die Entdeckung des Kraftbegriffs – sind bei Feuerbach als Problem schon gestellt. Holz hebt diesen innovativen Charakter von Feuerbachs Arbeit an Leibniz hervor, der insofern auch auf dem Gebiet der Leibnizdeutung über den deutschen Idealismus hinausgeht und ihm wesentliche Elemente für eine dialektische Lesart Leibnizens hinzufügt, die darauf zielt, eine Traditionslinie „von Leibniz über Hegel zu Marx“ nachzuzeichnen. Darum eben geht es in der Problemgeschichte: Die historischen Gehalte vergangener Philosophien so zu rekonstruieren, daß sich an ihrem Sachgehalt eigene systematische Problemstellungen entwickeln lassen. Dies darf nicht in dem Sinn verstanden werden, philosophische Denkgebäude der Vergangenheit einfach als Steinbruch für eigenes Denken zu benutzen. Das würde eine Interpretation willkürlich machen. Erst eine Rekonstruktion, die das Ganze einer Philosophie in ihrem eigenen Gehalt erfaßt und an ihrem eigenen Anspruch mißt, kann auf Denkstrukturen und Probleme stoßen, die in legitimer Weise im eigenen Denken fortbestimmbar werden. Diesen Weg ist Hans Heinz Holz in exemplarischer Weise in der Hegelinterpretation gegangen.7 Konstitutiv für seine eigene Begründung der Dialektik8 wird dieses Verfahren in der Aneignung der Philosophie von Leibniz.

Girona, im September 2014

Jörg Zimmer

1 Hans Heinz Holz, Leibniz. Das Lebenswerk eines Universalgelehrten, hg und mit einem Nachwort versehen von Jörg Zimmer, Darmstadt 2013.

2 Hans Heinz Holz, Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, fünf Bände Darmstadt 2011.

3 Ebd., Bd. 3, S. 13.

4 Ebd., S. 14.

5 Ebd., S. 579.

6 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften, Darmstadt 2013, Bd. 1 und Bd. 3.

7 Hans Heinz Holz, Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. V, S. 25ff.

8 Hans Heinz Holz, Weltentwurf und Reflexion. Versuch einer Grundlegung der Dialektik, Stuttgart/Weimar 2005.

Leibniz in der Rezeption der klassischen deutschen Philosophie

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