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III.

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Mir scheint, daß Leibniz aus dieser Antinomie von unverzichtbarem Wahrheitsanspruch und pragmatischem Toleranzgebot einen metaphysischen Ausweg gewiesen hat, den dann auch Lessing in der Ring-Parabel und in der Schloß-Parabel gegangen ist.

Im Unterschied zu Spinoza, in dessen Begriff der substantia sive natura sive Deus die Mannigfaltigkeit der Welt aufgehoben wurde „in diesem Äther der einen Substanz, in der alles, was man für wahr gehalten hat, untergegangen ist“ (Hegel),23 hält Leibniz an der realen Pluralität der Substanzen fest, so wie sie in der Erfahrung gegeben ist. Er nimmt es für ein erstes, jeder Begründungsbedürftigkeit enthobenes Prinzip, „ut varia a me percipiantur“ (C, S. 183).24 Nicht die Vielheit muß demonstriert werden, denn sie liegt ja vor Augen, sondern der ihre Einheit konstituierende Zusammenhang, das Prinzip ihrer Verknüpfung. Das kann aber nicht empirisch gegeben sein oder nachgewiesen werden, denn die Erfahrung hält sich immer in den Grenzen der Endlichkeit und ist in einen (potentiell unendlichen) transempirischen Bereich von Entitäten und Relationen eingebettet, über den sie nichts mehr ausmachen kann, wie sehr sie auch ihre endlichen Grenzen erweitert. Die Einheit der Welt im ganzen ist also immer ein Gedankenkonstrukt, das von der Erfahrung der Geordnetheit der empirisch gegebenen Teilwelt ausgehend zur Idee der geordneten Totalität fortschreitet.25 Der Leitfaden des Konstruktionsverfahrens ist das Prinzip des zureichenden Grundes, „vermöge dessen wir bedenken, daß sich keine Tatsache als wahr oder existierend, keine Aussage als wahr herausstellen kann, ohne daß es einen zureichenden Grund gäbe, warum es sich so und nicht anders verhält, obschon diese Gründe uns oft nicht bekannt sein können“ (KS, Mon. 32, S. 453). Die Welt als series rerum ist ein durch die aurea catena26 der Bedingungen zusammengeschlossenes Ganzes, in dem jeder Teil ebenso seine Selbständigkeit behält, wie er auch Teil und damit unselbständig ist.

Das Zugleich von Selbständigkeit und Abhängigkeit des Einzelnen, diesen erscheinenden Widerspruch am Individuellen, hat Leibniz nun durch ein Weltmodell intelligibel gemacht, das als Paradigma der klassischen neuzeitlichen Dialektik gelten darf27 und in dem auch, sozusagen als Nebeneffekt, die Antinomie von Vernunftwahrheit und Toleranz ausgeräumt wird. Jede individuelle Substanz oder Monade, sagt Leibniz, ist in ihrem So-sein, also in ihrer Individualitat, dadurch bestimmt und begründet, daß sie mit allen anderen Substanzen dieser Welt durch die aurea catena der Bedingungen verknüpft ist und also die Wirkungen alles anderen in sich enthält bzw. ihre singuläre Beziehung zu allen anderen „ausdrückt“. Die Monade ist eine „Darstellung der ganzen Welt repraesentatio totius mundi“: „Diese Verknüpfung nun oder diese Anpassung aller erschaffenen Dinge an jedes einzelne von ihnen und jedes einzelnen an alle anderen bewirkt, daß jede einfache Substanz in Beziehungen eingeht, die alle anderen ausdrücken und daß sie folglich ein dauernder lebendiger Spiegel des Universums ist“ (KS, Mon. 56, S. 465).

Da jede Substanz bedingt ist durch alle anderen und diese ausdrückt und da dieses Ausdrücken wechselseitig bei allen Substanzen vorkommt und sie definiert, stimmen alle Substanzen in dem sie erfüllenden Inhalt (in ihren Prädikaten) überein und sind Manifestationen des Allgemeinen, das allen zukommt. Einzelheit und Allgemeinheit fallen zusammen, und das macht die Möglichkeit der Teilhabe des Individuellen an der doch immer allgemeinen Wahrheit aus. Wie die Allgemeinheit so ist die Einheit der Vielen als Welt konstituiert durch das System universeller Entsprechungen, die „harmonie universelle“. Eine Ausnahme davon gibt es nicht und kann es nicht geben, sonst wäre die Welt keine Welt; selbst Gott könnte kein Wunder tun.

Was aber macht dann das principium individuationis aus, demzufolge jede einzelne Substanz eben doch eine unverwechselbare und individuelle ist, so extrem, daß Leibniz sagt: „Jede Monade muß sogar von jeder anderen verschieden sein. Denn es gibt niemals in der Natur zwei Seiende, die einander vollkommen gleich wären und bei denen es nicht möglich wäre, einen inneren oder auf einer inneren Bestimmung (denominatio intrinseca) beruhenden Unterschied zu finden“ (KS, Mon. 9, S. 443). Mit dieser Behauptung, daß es niemals zwei solo numero verschiedene Substanzen gibt (die dann gemäß der lex identitatis indiscernibilium nur eine wären), erhebt Leibniz die Individualität in den Rang eines seinskonstituierenden Prinzips.

Wenn alle Monaden denselben Inhalt haben, nämlich das Spiegelbild der ganzen Welt, dann kann die Individualität der einzelnen Monade und ihr Unterschied zu allen übrigen nur in dem Modus liegen, in dem sie das Universell-Allgemeine ausdrückt. Leibniz gebraucht dafür ein topologisches Argument: Da jede Substanz von jeder anderen distinkt ist, hat sie in der idealen Topographie der Welt jeweils einen einzigartigen Ort, an dem sie und nur sie sich befindet. Das bedeutet, daß sie die Welt von diesem Ort aus in einer einzigartigen Perspektive spiegelt, die sich von Ort zu Ort, von Monade zu Monade je nach Nähe und Ferne weniger oder mehr verschiebt, aber immer eine andere ist,28 sodaß nie zwei Monaden ganz und gar dasselbe Bild der Welt spiegeln. Die Individualität der Monade ist also topologisch durch ihre Weltstelle, inhaltlich durch ihre Perspektive der Widerspiegelung bestimmt und garantiert. Diese ontologische Definition hat die wahrheitstheoretische Konsequenz, daß jede individuelle Substanz zwar die allgemeine Wahrheit einschließt, aber in eben ihrer je eigenen, einmaligen Fassung. Daraus ergibt sich weiterhin, daß das Falsche ein Moment oder eine Art der Wahrheit ist, wie es in Spinozas Satz „verum est index sui et falsi“ ausgesprochen wird. Eine vollkommene Identität der Widerspiegelungen kann es nicht geben, die Übereinstimmung zwischen den perspektivischen Abweichungen kann nur durch die Projektion des einen Bildes auf das andere oder die anderen nach den strengen Gesetzen des „Ausdrückens“ hergestellt werden. „Eine Sache drückt (nach meinem Sprachgebrauch) eine andere aus, wenn zwischen dem, was man von der einen, und dem, was man von der anderen aussagen kann, eine feste und regelmäßige Beziehung besteht. In diesem Sinne drückt eine perspektivische Projektion das in ihr projizierte geometrische Gebilde aus“.29

Ich brauche hier nicht auf das abgestufte System graduell verschiedener Repräsentationen der Mannigfaltigkeit der Welt in der einzelnen Substanz, auf die Skala von den perceptions confuses bis zu den perceptions distinctes einzugehen. Für die Toleranzproblematik ist indessen wichtig, daß die Universalität und zwingende Kraft der Wahrheit, die eine Tolerierung des Irrtums ausschließt, sich in diesem System durchaus mit der Einsicht verbindet, daß jedes Individuum sich in seiner Auffassung des Wahren von allen anderen unterscheidet und daß dieses Anderssein nicht nur zugelassen werden muß, sondern ontologisch begründet und unausweichlich ist. Die Perspektivität der Wahrheit ist notwendig mit der Pluralität der Substanzen verknüpft, aber unter der Voraussetzung der einen, universell verbundenen Welt und der absoluten Wahrheit als Grenzwert der Integration aller relativen Wahrheiten in einem fiktiven unendlichen Verstand. Die für endliche Verstandeswesen sich darstellenden verschiedenen Aspekte der Wahrheit durch Projektion aufeinander in Übereinstimmung zu bringen, ist die Aufgabe der dialektischen Argumentation oder – wie man heute sagen würde – eines dialektischen Diskurses. In diesem Sinne konnte Leibniz sagen, daß er aus jedem Buche, selbst dem falschesten, noch etwas lernen konnte, denn so falsch könne gar keines sein, daß nicht auch richtige Seiten in ihm enthalten seien. Für die Koordination der verschiedenen Aspekte oder Perspektiven gibt er eine Metapher: „Wie eine und dieselbe Stadt, die von verschiedenen Seiten betrachtet wird, als eine ganz andere erscheint und gleichsam auf perspektivische Weise vervielfacht ist, so geschieht es in gleicher Weise, daß es durch die unendliche Vielheit der einfachen Substanzen gleichsam ebenso viele verschiedene Universen gibt, die jedoch nur die Perspektiven des einen einzigen gemäß den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade sind“ (KS, Mon. 57, S. 465).

Leibniz in der Rezeption der klassischen deutschen Philosophie

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