Читать книгу Leibniz in der Rezeption der klassischen deutschen Philosophie - Hans Heinz Holz - Страница 13
IV.
ОглавлениеDamit sind wir an dem Punkt angelangt, wo sich die Leibnizsche Metaphysik nicht nur als ein Modell zur Überwindung der Antinomie von Wahrheitsanspruch und Toleranz erweist, sondern auch zum Ausgangspunkt für Lessings Überlegungen wird, die den cartesischen Dogmatismus ebenso wie den Bayleschen Relativismus überwinden.
In der Schloß-Parabel, die Lessing gegen Pastor Goeze ersinnt, finden wir eine das Erkenntnistheoretische ins Pragmatische wendende Parallele zu Leibniz’ Stadt-Gleichnis. Ich zitiere, um die strukturelle Ähnlichkeit deutlich zu machen, einige Sätze: „Ein weiser tätiger König eines großen, großen Reiches hatte in seiner Hauptstadt einen Palast von ganz unermeßlichem Umfange, von ganz besonderer Architektur …: von außen ein wenig unverständlich, von innen überall Licht und Zusammenhang.
Was Kenner von Architektur sein wollte, ward besonders durch die Außenseiten beleidiget, welche mit wenig hin und her zerstreuten, großen und kleinen, runden und viereckten Fenstern unterbrochen waren; dafür aber desto mehr Türen und Tore von mancherlei Form und Größe hatten.
… Man begriff nicht, wozu so viele und vielerlei Eingänge nötig wären, da ein großes Portal auf jeder Seite ja wohl schicklicher wäre und eben die Dienste tun würde. Denn daß durch die mehrern kleinen Eingänge ein jeder, der in den Palast gerufen würde, auf dem kürzesten und unfehlbarsten Wege gerade dahin gelangen solle, wo man seiner bedürfe, wollte den wenigsten zu Sinne“.
Der Palast entspricht der Stadt, den verschiedenen Ansichten entsprechen die verschiedenen Eingänge und Wege. Und natürlich sind die drei Ringe aus der Parabel im Nathan in ihrer simultanen Authentizität und Uneigentlichkeit äquivalent den verschiedenen Ansichten der Stadt, die jeweils authentisch und doch nicht die eigentliche „richtige“ Ansicht sind. Eine solche einzige richtige gibt es gar nicht; es kann sie aus ontologischen Gründen nicht geben und braucht sie aus pragmatischen nicht zu geben, so wie es in der Schloß-Parabel heißt: „Was gehen uns eure Grundrisse an? Dieser oder ein anderer, sie sind uns alle gleich. Genug, daß wir jeden Augenblick erfahren, daß die gütigste Weisheit den ganzen Palast erfüllet und daß sich aus ihm nichts als Schönheit und Ordnung und Wohlstand auf das ganze Land verbreitet“.
Daß Lessings philosophische Konzeptionen mindestens ebenso stark von Leibniz wie von Spinoza beeinflußt wurden30 (wie überhaupt im deutschen Spinozismus sich Spinoza- und Leibniz-Rezeption zu einem weltanschaulichen Ganzen verbinden31), braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Der Grenzwertcharakter der einen absoluten Wahrheit, die für einen endlichen Verstand immer nur in individueller Verkürzung und Partialität erscheint und von ihm nur durch spekulative Konjekturen zu einem Modell des Ganzen integriert wird – die Grundrisse und ihre Rekonstruktion in der Parabel –, macht offenkundig von Leibniz’ Bild der Perspektivität und von seiner Unterscheidung zwischen den perceptions distinctes und den perceptions confuses Gebrauch und zieht daraus die Konsequenz des Respekts der Lehrmeinungen voreinander und der Toleranz gegeneinander. Das Toleranz-Postulat wird geradezu auf die Differenz zwischen endlichem Wissen und unerreichbarer absoluter Wahrheit gegründet. Als Saladin noch auf der Unterscheidbarkeit der Religionen und damit auch auf der Entscheidbarkeit ihres Wahrheitsanspruchs beharren möchte, antwortet Nathan auf die Behauptung der Unterscheidbarkeit mit der Verneinung der Entscheidbarkeit:
„Und nur von Seiten ihrer Gründe nicht. –
Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte?“ (111,7)
Hier steht Lessing zwischen Leibniz und Hegel (wie auch geschichtsphilosophisch in der Erziehung des Menschengeschlechts32); die Perspektivität wird konkretisiert zur Historizität (worauf Jan Knopf richtig hingewiesen hat); damit allerdings entsteht auch das Problem des Wahrheitskriteriums, denn historische Wahrheiten sind kontingent und also gerade ungewiß (wie Ulrich Johannes Schneider betont):
„Geschichte muß doch wohl allein auf Treu
Und Glauben angenommen werden? – Nicht? –“ (111,7)
Aber auch hier ist, wie in der Schloss-Parabel, die Lösung eine pragmatische:
„… Wohlan!
Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!“ (III,7) –
Die Wahrheit bekundet sich im Wohltun – wie sonst sollte sie sich bekunden? Auch hier im Kriterium der Praxis ist Lessing nahe bei Leibniz, der stets auf der Praxis als Indiz der Wahrheit insistierte.
Aber eben diese Pragmatik steht doch auch wieder einem bloßen Relativismus der Wahrheiten entgegen. Wie die Verwirrungen im Nathan – der ja als Ganzes wohl auch eine Parabel ist, aufgelöst werden durch die Entdeckung der wirklichen, wahren Verwandtschaftsverhältnisse, die trotz der Vieldeutigkeit des Anscheins letztlich nur in einem einzigen Sinne wahr sein können, so steht auch am Schluß der Schloß-Parabel, gegen Goeze gerichtet, ein durchaus dogmatischer Satz: „Wenn ich Ihnen in dem geringsten Dinge, was mich oder meinen Ungenannten angeht, recht lasse, wo sie nicht recht haben, dann kann ich die Feder nicht mehr rühren“. Was recht ist oder nicht, läßt sich ausmachen; Verdrehung, Lüge, Verleumdung verdienen keine Toleranz, es gibt eine Wahrheit, für die man einstehen muß.
Toleranz beruht nicht auf Relativismus der Erkenntnis, nicht auf Pluralismus der Wahrheiten, sondern ist die Konsequenz aus der Einsicht in die Inkommensurabilität des Singulären und die gleichzeitige Konvergenz der Perspektiven33 im Unendlichen. Lessings weltanschauliche Botschaft findet ihre Begründung in der Leibnizschen Metaphysik – diese ermöglicht ihm, ohne inneren Bruch zugleich der Streiter für die Toleranz und der Kämpfer für die eine, unverfälschte Wahrheit zu sein.
1 Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes, Hamburg 1939, S. 350f.
2 Paul Hazard, La pensée européenne au XVIII siécle, Paris 1946, S. 231f.
3 Thomas Hobbes, Leviathan, London 1651, c. XIII, S. 60f. und c. XIV, S. 64. Vgl. auch Gerrit Manenschijn, Moraal en eigenbelang bij Thomas Hobbes en Adam Smith, Amsterdam 1979.
4 Ebd., S. 64.
5 Ebd., c. XIV, S. 65.
6 Paul Hazard, Krise, S. 353f.
7 John Locke, A Letter concerning Toleration – Ein Brief über die Toleranz, englisch und deutsch, hg. und übers. von Julius Ebbinghaus, Hamburg 1957, S. 2.
8 Ebd., S. 12.
9 Ebd., S. 32.
10 Vgl. ebd., S. 90: „No opinions contrary to human society, or to those moral rules which are necessary to the preservation of civil society, are to be tolerated by the magistrate“.
11 Art. 139 Grundgesetz hat diese Gesetze verfassungsrechtlich festgeschrieben.
12 John Locke, Letter, S. 94.
13 John Locke, Bürgerliche Gesellschaft und Staatsgewalt, hg. von Hermann Klenner, Leipzig 1980, S. 98 und 101 (Second Treatise of Government, I, 39 und II,7). Vgl. ebd., S. 251 (Second Treatise of Government, XIX, 222): „Der Grund, weshalb Menschen in den Gesellschaftszustand eintreten, ist die Erhaltung ihres Eigentums, und der Zweck, zu dem sie eine Legislative wählen und bevollmächtigen, besteht darin, daß zum Schutze und zur Sicherung des Eigentums aller Glieder der Gemeinschaft Gesetze geschaffen und Vorschriften erlassen werden mögen, um die Macht und die Herrschaft eines jeden Teiles oder Gliedes der Gemeinschaft in Grenzen und in Maßen zu halten“. – Vgl. dazu auch die Zusammenfassung der Position Lockes im Nachwort Klenners, ebd., S. 317ff.; Klenner führt aus, Locke argumentiere so: „Der Staat sei errichtet, um den Frieden und das Eigentum seiner Bürger zu sichern, darin müsse also auch der Maßstab seines Vorgehens liegen. Was Meinungen und Handlungen betreffe, die sich weder mit Staat noch Gesellschaft beschäftigen …, so solle da ein jeder uneingeschränkte Freiheit haben; da der Staat mir im Jenseits keine Reparationen zu leisten vermöge, dürfe er mich nicht in dieser Welt zu einer möglicherweise falschen Religion zwingen … Die Katholiken allerdings sollten nicht die Wohltat der Toleranz genießen, da sie selbst den anderen die Toleranz verweigerten und es unvernünftig sei, daß irgendjemand eine Religionsfreiheit genieße, die er selbst nicht anerkenne … Gottesleugner und Atheisten seien überhaupt nicht zu tolerieren, und Atheismus sei ein Verbrechen, das seinen Täter aus der bürgerlichen Gesellschaft ausschlösse“. – In dem frühen Traktat Lockes Über die Obrigkeit (1660) ist der ordnungspolitische Zweck, der die Entscheidung über die Religionsfreiheit bestimmt, deutlich ausgesprochen: „Man lasse dem Volk nur einmal völlig freie Hand bei der Ausübung seiner Religion – und wo wird es haltmachen, wo sich selber die Grenze setzen, und wird es sich ihm nicht als seine religiöse Pflicht darstellen, jeden zu vernichten, der nicht seines Glaubens ist? Wird es nicht meinen, es erweise Gott einen guten Dienst, wenn es mit seiner Rache alle jene verfolge, die es zu seinen Gegnern erklärt hat? Wird man nicht das Reich Christi, damit es komme, dadurch vorbereiten wollen, daß man die Gottlosen austilgt?“ Man wird feststellen, „daß all die Wirren, all die unerhörten und umstürzlerischen Ansichten, die damals (d.h. während der Religionskämpfe) das Land überschwemmten, mit einer Freiheit für empfindliche Gewissen ihren Anfang nahmen … Ich kann nicht bestreiten, daß man mit aufrechten und zart besaiteten Christen behutsam verfahren und ihnen vielleicht manches nachsehen sollte – doch woran kann man diese erkennen, und wenn man ihnen ein Recht auf Toleranz zugesteht, wer wird dann andere hindern, die nur auf der Lauer liegen, sich desselben Vorwands zu bemächtigen?“ Bürgerliche Gesellschaft und Staatsgewalt, S. 54f. Der junge Locke argumentiert noch sehr hobbesianisch.
14 Hermann Klenner, Jahrgang 1632: Spinoza, Pufendorf, Locke, in: Staat und Recht, 31. Jg. 1902, Heft 10, S. 909ff., hier S. 914.
15 Vgl. Hans Heinz Holz, Leibniz, Darmstadt 2013, Kap. 16 und 17.
16 Nicht aus allen Teilen Deutschlands liegen gleich zuverlässige Zahlen vor, sodaß man eine Gesamtschau der Kriegsfolgen im Reich nur allgemein geben kann. Zur Illustration mögen jedoch die gut belegten Daten aus dem Herzogtum Württemberg dienen: Von rund 450.000 Einwohnen im Jahre 1622 ging die Bevölkerungszahl bis 1639 auf knapp 100.000 zurück, beim Friedensschluß waren es – nach Rückkehr von Flüchtlingen – schließlich etwa 170.000. Noch sechs Jahre nach dem Friedensschluß waren 30.000 Privathäuser verwüstet, 250.000 Morgen Acker unbebaut, 40.000 Morgen Weinberge verödet.
17 Vgl. Leibniz’ Schriften zur Reichsreform, Pol. Schr. I, S. 97–155.
18 Pierre Bayle, Œuvres, La Haye 1737, Bd. 2, S. 221.
19 Vgl. Ingetrud Pape, Leibniz – Zugang und Deutung aus dem Wahrheitsproblem, Stuttgart 1949. –Allerdings hat auch Bayle die Priorität der Vernunft vor dem Glauben anerkannt: „Ich weiß sehr wohl, daß es Axiome gibt, gegen die auch die ausdrücklichsten und evidentesten Worte der Heiligen Schrift nichts ausrichten könnten, wie z.B. daß das Ganze größer ist als sein Teil; daß zwei widersprüchliche Sätze unmöglich wahr sein können“. Auch die Theologen „anerkennen, daß das höchste Tribunal, das in letzter Instanz und ohne Berufung entscheidet über alles, was uns gesagt wird, die Vernunft ist, die durch die Axiome des natürlichen Lichts oder der Metaphysik spricht“. Critique générale de l’Histoire du Calvinisme du Père Malmbourg, 1682, S. 136ff.
20 Pierre Bayle, Commentaire philosophique sur ces paroles de Jésus-Christ: Contrains-les d’entrer, 1686, S. 149.
21 Hans Heinz Holz, Die Konstruktion des Kontingenten, in: Klaus Peters/Wolfgang Schmidt/Hans Heinz Holz, Erkenntnisgewißheit und Deduktion, Darmstadt/Neuwied 1975, S. 129ff.
22 Hans Heinz Holz, Leibniz, S. 174ff.
23 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, hg. von Karl Markus Michel und Eva Moldenhauer, Band 20, Frankfurt a.M. 1971, S. 165. Vgl. Wolfgang Schmidt, Intuition und Deduktion, in: Peters/Schmidt/Holz, Erkenntnisgewißheit und Deduktion, S. 57ff.
24 Vgl. Hans Heinz Holz, Die Konstruktion des Kontingenten, S. 134ff.
25 Vgl. Hans Heinz Holz, Natur und Gehalt spekulativer Sätze, Köln 1980.
26 Emil Wolff, Die Goldene Kette, Hamburg 1947.
27 Hegel gründet seine Dialektik von Einzelnem und Allgemeinem auf dieses Konzept. Vgl. Hans Heinz Holz, Filosofia speculativa e filosofia materialistica, in: Nuovi Annali della Facoltà di Magistero dell’Università di Messina, 1983, S. 27ff.
28 In diesem topologischen Modell ist jede Metapher, damit sie die ganze Welt spiegeln kann, als ein Kugelspiegel zu denken, worauf Joachim Schickel, Narziß oder die Erfindung der Malerei, in: Spiegelbilder, Kunstverein Hannover 1982, S. 14ff., hingewiesen hat.
29 Leibniz an Arnauld, 9.10.1687 in G, Bd. 2, S. 112.
30 Vgl. Detlev Pätzold, Lessing und Spinoza, in: M. Buhr/W. Förster (Hg.), Aufklärung – Gesellschaft – Kritik, Berlin 1985, S. 298ff.
31 Vgl. Hans Heinz Holz, Schelling über Leibniz, in diesem Band S. 69ff.
32 Vgl. Hans Heinz Holz, Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel, in diesem Band S. 79ff.
33 Diese Konvergenz der Perspektiven legitimiert auch das wissenschaftspolitische und erkenntnispraktische Programm Lessings aus dem ersten „Anti-Goeze“: „… daß man keinen Menschen in der Erkenntnis der Wahrheit nach seinem eigenen Gutdünken fortzugehen hindern muß. Aber man hindert alle daran, wenn man auch nur einem verbieten will, seinen Fortgang in der Erkenntnis anders mitzuteilen. Denn ohne diese Mitteilung im einzeln ist kein Fortgang im ganzen möglich“. Fortschritt ist Erkenntniszuwachs durch Einsicht in andere Perspektiven und deren Kombination. Die Auffassung von der graduellen Entwicklung der Wahrheit durch Kumulation des Wissens ist ein typisches Konzept der Aufklärung seit Fontenelle.