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Kontrolle - nur das Gepäck (kein Enddarm) - small talk - Visionen - Valeria Dernikowa dritte - Frühlingserwachen - Maxi Bergerdamm spurlos davon

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„Ladies and Gentlemen, meine Damen und Herren, Ihre Identy Card please - das Handgepäck bitte auf diesem Tisch öffnen, thank you - vielen Dank“

In melodischem Tonfall bat uns eine der in modischem Chic gekleideten Aufpasserinnen der Atomgaz an die Tischreihe vor den letzten verglasten Türen, die uns vom Objekt der Begierde trennten - der Georgi Schukow, auf deren Gangbord sich die Besatzung wieselflink bewegte und letzte Arbeiten vor dem Auslaufen in das Nordmeer erledigte. Unter der Fahne Russlands wehte im kräftig auflandigen Wind die Flagge der Atomgaz, der Eignerin der Georgi Schukow unter Kapitän Viktor Satchev. Zwischen den Türen der Empfangs- und Abfertigungshalle und der Zuwegung in die Schotttür zwischen Vorschiff und Mittschiff, führte die fahrbare Passagierbrücke die Gäste durch die Schotttür in den Bauch der Georgi Schukow. Zahlreiche Schiffe, die sich in arktischen Gewässern bewegen, verfügen über eine derartige Schotttür an einer Rumpfseite - meistens Backbord. Bei den Hurtigrouten sind diese Schotttüren so groß, dass sie als Schotttore bezeichnet werden, da durch diese die Beladung der Hurtigschiffe erfolgt - per Hubstapler oder direkt per LKW. Bei der Georgi Schukow handelte sich um eine gepanzerte Kabine innerhalb eines geschotteten Systems, in dem ein Aufzug die zahlenden Gäste getrennt vom Bordpersonal in den sensiblen Bereichen in den Brückenbereich auf das Zentraldeck fünf beförderte.

„Madame Rosenstrauch - Sarah - your Identy Card - please“ erklang zwei Reihen neben mir zur Linken die freundliche Stimme einer charmanten und überaus attraktiven Russin, unzweifelhaft Mitarbeiterin der Atomgaz, wie an ihrem blauen zweiteiligen Kostüm mit dem aufgestickten goldfarbenen Enblem der Atomgaz Eisbrecher- und Eismeerflotte den Außenstehenden sofort ins Auge fiel. Ich riskierte auf die Schnelle ein Auge und betrachtete die attraktive Sarah Rosenstrauch, deren Vater Yoshua Rosenstrauch in den 1990er Jahren aus Alaska das Grippevirus H1N1 mit zurück in die Labore der westlichen Welt brachte. Dem Vater dieser Frau verdankte die Welt die Rückkehr eines der schrecklichsten und tödlichsten Viren auf diesem Planeten. Das machte nicht nur ihren Vater berühmt berüchtigt, sondern auch seine Tochter Sarah Rosenstrauch zum Objekt der Begierde der Geheimdienste in aller Welt. Mit den Geheimdiensten ist das so eine Sache - im Grunde alles arme Schweine mit nur einer Hirnhälfte, jedenfalls was die Funktion angeht. Wassergeflügel kommt damit gut zurecht - eine Hälfte wacht, die andere schläft. Das macht Sinn, weil Wassergeflügel - besonders das Wilde, die Nächte auf dem Wasser verbringt - aus Sicherheitsgründen. Kraniche übernachten auf ihren Stelzen gleichfalls im Nassen. So ließen sich noch zahlreiche Beispiele aus dem Tierreich anführen, etwa bei Säugetieren - Seebären, Walrosse und Robben, die stets mit einer Hirnhälfte auf dem Quivive sind, während sich die andere im Schafmodus befindet. Geheimdienstler sind in ihrer Wesensart mit so einem Einhirnhälftigen Lebewesen aus dem Tierreich vergleichbar, der Unterschied besteht darin, dass die Damen und Herren keinen wie auch immer gearteten Schlaf- und Wachmodus kennen, sondern sich ausnahmslos in einer Art Hypnoseschaltung befinden, die sofort auf Aktion umschaltet, sollten sich irgendwelche Vorgänge oder Ereignisse manifestieren, die ihren vollen Einsatz rechtfertigen. Früher nannte man diese Figuren Schläfer, obwohl hellwach und in irgendeinem Beruf integriert, vielleicht mit Familie, Freundeskreis oder anderen sinnlosen Verbindungen, die das eigene Dasein in seiner Entwicklung gegen Null führen, stattdessen die hehre Aufgabenstellung des Dienstherrn als oberstes Gebot und unfehlbare Maxime ansehen. Dafür kommt man/frau nach Dienstjahren gestaffelt in den Genuss einer Pension, gewisser Gratifikationen und einiger Vergünstigungen, die dem Normalbürger und bedeutungslosen Sterblichen nicht einmal im Traum einfallen würden zu beanspruchen. Da gab es weltweit in allen System kaum Unterschiede zwischen den Kollegen, schließlich wollte man über die andere Feldpostnummer genauestens informiert sein. Yoshua Rosenstrauch - ein Mythos unter den Geheimdienstlern, ein weltweit gesuchter Überläufer, und das gleich mehrfach. Es gab keinen renommierten Geheimdienst weltweit, der nicht auf die eine oder andere Weise von Yoshua Rosenstrauch geleimt wurde und für die Zusammenarbeit mit ihm tüchtig bezahlte. Was da an Informationen geflossen ist, war mehr als Top Secret, da rückte nicht einmal die Parkplatzaufsicht beim CIA, beim KGB, beim Mossad oder MI 6 mit heraus, wenn sie denn tatsächlich etwas wissen sollte, vom BND, der NSA, dem Deuxiéme Bureau - besser bekannt unter Direction Générale de la Sécurité Extérieure; kurz gesagt, die französischen Geheimdienste haben alle Freiheiten die sich vorstellen lassen, da sind Bombenanschläge wie 1985 in Auckland auf die Rainbow Warrior bessere Etüden in der Ausbildung zum Berufskiller. Attentate, Umstürze - Nasse Aktionen, das sind die Privilegien und Markenzeichen, die einen Top geführten Geheimdienst auszeichnen. Sarah Rosenstrauch war sozusagen das Kronjuwel auf der Sammelliste der Geheimdienste, was besagte Dame, die heuer und hier in Murmansk mit mindestens dreißig weiteren Forschern und Wissenschaftlern an Bord der Georgi Schukow zu gehen gedachte, in keiner Weise zu irritieren, geschweige denn zu ängstigen schien. Warum sollte sie sich auch ängstigen und vor wem, wurde doch sogar ihr Toilettengang und Schlafrhythmus aus dem Orbit lückenlos überwacht. Sie hatte sich in ihrem bisherigen „kurzen“ Leben nicht das Geringste zu Schulden kommen lassen, ihre Sicherheitsakte war so blütenweiß wie frischer Schnee auf dem Kilimandscharo. Allein die schizophrene und abstrakte Vorstellung, dass sie auf Kontaktsuche zu ihrem Vater gehen könnte um hernach abzutauchen, bescherte den Gehirnakrobaten und Abstraktdenkern in den Geheimdienstzentralen richtige Albträume. Dabei wusste niemand wirklich genau oder wollte es niemand wissen, ob dieser Yoshua Rosenstrauch überhaupt noch unter den Lebenden weilte und wenn ja, unter welcher Identität er sich derzeit verbirgt und bewegt. Ich hatte sie fast alle vor dem Sucher meiner Kamera, damals, als ich in Berlin wohnte und arbeitete, im Kanzleramt und Schloss Bellevue ein- und ausging. Staatsempfänge - auch mit militärischen Ehren, Arbeitsbesuche, Akkreditierungen, Auszeichnungen und Belobigungen - ja sogar den Heiligen Vater hatte ich fotografiert, als WIR - Deutschland - endlich Papst waren - Habemus Papam - wir sind Papst, die reinste Blasphemie - so meine Einschätzung, womit ich im Kollegenkreis nicht alleine stand. Aber das ist alles Schnee von ganz weit hinten und noch weiter weg. Die bewegte Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist mir so transparent und gegenwärtig, als wäre alles erst gestern geschehen, dabei sind darüber fast drei Generationen vergangen. Die Zeit ist eine Illusion, das ist meine feste Überzeugung. Ebenso wie die Jagd nach einem Impfstoff, der auf einen Schlag alle Pandemien hinfällig macht und sowohl gegen Bakterien als auch gegen Viren voll wirksam ist. Wunschdenken, nichts als Wunschdenken. In wenigen Jahren wird eine Pandemie über diesen Planeten fegen, die alles bisher Erlebte und Gewesene in das Meer der Vergessenheit spült. Sie haben auch bereits einen Namen für dieses Monstrum, dass angeblich auf einem chinesischen Wochenmarkt in Wuhan seinen Ausgang nahm - SARS-CoV-2 / Covid-19. Hört sich gar nicht so schrecklich an wie es tatsächlich ist. Hunderttausende - ja Millionen Infizierte jeden Tag, davon die Hälfte abgängig, weil die so hoch gelobten Impfstoffe nicht das Papier der Gebrauchsanweisung wert sind, auf welcher das Impfverfahren beschrieben steht. Aber bis dahin sind noch einige Jahre zu forschen, Expeditionen zu organisieren, Forschungswettläufe zu absolvieren, Bevölkerungen zu verarschen, den Anstieg der Infizierten und Toten wie Aktienkurse in Börsenindexen fortzuschreiben, dabei unbedeutende Erfolgserlebnisse zu Nobelpreisveranstaltungen aufzublasen - ja, das alles wird gesehen, die Saat ist ausgebracht und gedeiht prächtig. Und ich - ja welche Rolle spiele ich in diesem Gespensterkabinett der Vergessenen, Verlorenen, der unentwegt ihrem Forscher- und Wissenschaftsdrang verpflichtet umtriebigen Zeitgenossen, die nun - mehr oder weniger kollegial bekannt, auf dem größten Eisbrecher der Welt einschiffen werden und kurz davor stehen, aus der nördlichsten Großstadt hinter dem Polarkreis in das arktische Eismeer auszulaufen, um dort auf dem Meeresboden zwischen Schwarzen Rauchern und Weißen Quellen nach dem Stein der Weisen zu suchen; Bakterien oder andere Arten von Mikroorganismen die geeignet erscheinen, zur Lösung auf der weltweiten Suche nach einem Impfstoff gegen SARS-Vo-1 Covid fündig zu werden. Von dem am Horizont in Nuancen bereits vorhandenen, wird in wenigen Jahren mit finaler Wucht das Virus SARS-CoV-2 / Covid-19 über die Menschheit hereinbrechen und eine globale Pandemie auslösen, welche das Gros der Menschheit vernichten wird. An die Infektionsschleppe dieses Virus hat sich ein weiteres Virus - das G4, besser bekannt als Mutation des Schweinegrippe Virus, angehängt, das nun erstmals nicht nur seinesgleichen, nämlich Schweine befällt, sondern fleißig arglose Menschen heimsucht und tötet, wobei die infizierten Menschen wiederum andere Menschen infizieren können. Ob meine Kolleginnen und Kollegen an Bord der Georgi Schukow oder andernorts ebenso visionär denken - können?? Jetzt werden sie sich natürlich fragen, woher weiß der Bursche das, woher will der Kerl um Geschehnisse wissen, die erst in einigen Jahren passieren - wenn überhaupt? Zugegeben - klingt ein wenig nach Kaffeesatz lesen oder Glaskugelphilosophie, ist es aber nicht. Die Gabe zu sehen oder das Zweite Gesicht haben - die Amis nennen das Shining, ist ein Vermächtnis meiner Großtante Lina aus Ostpreußen. Sie hatte das Zweite Gesicht, was ihr übrigens unbeschadet die Flucht aus Allenstein ermöglichte und sie vor dem Tod in der Ostsee bewahrte. Ihre Passage und die ihrer Freundin war auf die Gustloff ausgestellt, die am 30.1.1945 von einem russischen U-Boot mit mehr als 10000 Menschen an Bord versenkt wurde. Glück gehabt - nicht ganz - Großtante Lina kam ihr Zweites Gesicht zu Gute und fuhr zwei Tage später mit der Goya unbeschadet von Gotenhafen (Gdingen) nach Kiel. Und ich - mal Glück - mal Pech und ab und an ein wenig Fernsehen - in die Zukunft, aber nicht mit Vorsatz. Es kommt dann einfach über mich, wenn meine Gedanken sich in ein interessantes Thema einsenken, und dieses Thema beginnt dann mich zu verinnerlichen - nicht umgekehrt. Einige dieser eigenen „Zweite Gesicht Erlebnisse“ habe ich in meinen Romanen beschrieben. Gönnen sie sich die Lektüre, sie ist Nerven zerrend und beschert ihnen garantiert einen erhöhten Betablocker Verbrauch, das wird ihren Arzt und Apotheker erfreuen.

„Herr von Bergerdamm, ihre Identy Card - bitte“ klang es wohltuend an mein von unzähligen Pressekonferenzen strapaziertes Gehör, und ohne weiter darüber nachzudenken versenkte ich meine Augen mit einem charmanten Lächeln - ich lächele stets charmant - in die dunklen Augen jener Dame in ihrem Marineblauen Kostüm mit dem Goldgestickten Emblem der Atomgaz.

„Es ist mir ein Vergnügen meine Dame, ihnen meine Identy Card zu überreichen. Mit Verlaub meine Dame - sie sehen bezaubernd aus in ihrem Kostüm - und sicher nicht nur in dieser schicken Kleidung“ raspelte ich mein Süßholz auf höchstem Niveau, denn in meinem Alter ist es stets von Vorteil zu attraktiven Frauen mittleren Alters (so bis Mitte dreißig) zum einen höflich zu sein und vor allem - nicht mit Komplimenten zu sparen, wobei auch dabei die richtige Kalibrierung den Ausschlag gibt. Im Klartext - glaubwürdig sein, aber nicht zu dick auftragen. Das mögen die Frauen - glauben sie mir, besonders auf Hochseeschiffen, wenn nicht gerade das große Kotzen angesagt ist. Seekrankheit macht grundsätzlich keinen Unterschied zwischen Mann und Frau, jung und alt. Die dunklen Augen sogen mich auf, ließen mich in einem See der Wärme und Zuneigung regelrecht baden, wie vor vielen Jahren im Baikalsee, wo ich um ein Haar ersoffen wäre… Natalie - Gilbert Becaud - Monsieur Hunderttausend Volt, die Begegnung mit Natalie im Café Puschkin und Hotel Zarengold, wo er die kalten Moskauer Nächte mit dieser zauberhaften Liebe einer Nacht vergaß…

„Sehr guten Dank - Herr von Bergerdamm, bitte your Handluggage - please - hier auf dem Tisch bitte öffnen… Danke“

Wie silberne Perlen flossen diese Worte in Form einer vollendet vorgetragenen Bitte aus einem ebenso vollendet geformten Lippenpaar, das sich wie die Flügel eines Schmetterlings leichtflügelig um zwei Reihen makelloser weißer Zähne bewegte, mehr ein schweben, ein virtuoser geschmeidiger Tanz, der in mir Gefühle erwachen ließ, wie ich sie schon seit Jahren nicht mehr in dieser Intensität verspürte. Ich hatte die Lunte gelegt, jetzt musste ich das Feuer ertragen - oder löschen.

„Ihrem Wunsch komme ich doch gerne nach - schöne Frau…“ sprach‘s und beförderte meine Schultertasche umsichtig auf den olivgrünen Tisch genau vor die attraktive Dame in ihrem Marineblauen Kostüm mit dem Goldgestickten Atomgaz Emblem. Ebenso umsichtig, fast schon behutsam klappte ich die breite Überwurfzunge zurück, zog am Zipper des metallenen Reißverschlusses, der surrend nachgab und den Blick freigab auf den Inhalt meines Handgepäcks. Die behandschuhten filigranen Finger der attraktiven Dame begannen mit der Präzision eines Feinmechanikers und Geduld eines Herzchirurgen den Inhalt dieser meiner Umhängetasche zu sezieren. Für einen Moment schloss ich meine inneren Augen und gab mich ganz den virtuosen Verführungen dieser Finger hin, die mich an Bord der Georgi Schukow im Doppelbett meiner Kabine in die Geheimnisse des arktischen Liebesalphabets der Inuit einweihten. Mein Fotoapparat erblickte das Licht der Murmansker Mittsommernachtswelt, dem eine Wasserflasche, eine Tafel Bitterschokolade, ein Päckchen Papiertaschentücher, eine Ersatzbrille und diverse Medikamente, die Menschen - besonders Männer meines Alters häufig mit sich führen müssen, folgten, wenn sie sich so auf Reisen ins Ausland begeben. Weiterhin ein Notizbuch, verschiedene Schreibstifte und ein Fünferpack Billy Boy - man/frau weiß ja nie. Hatte ich was vergessen? Meine persönlichen Papiere und Barcash trug ich stets in meiner Brusttasche an die nicht einmal der liebe Gott unbemerkt herankam. Natürlich - das Mobilphone, spöttisch auch Handy oder Smartphone genannt. Und das Ladegerät sowie einen Sprachführer Russisch, falls beim Kapitänsdinner der Dolmetscher wegen Vollrausch oder Seekrankheit ausfällt, was ich alles schon erlebt habe.

„Den Fotoapparat verlege ich in einen Sicherheitsbeutel mit Siegel, Etikett und ihrem Namen. Nachher an Bord erhalten sie das Gerät zurück. Fotografieren im Hafen und auf dem Werftgelände ist nicht gestattet - so sind die Vorschriften - sie verstehen“, sagte die attraktive Dame mit einem etwas verlegenen Lächeln zu mir, beförderte flugs besagten Sicherheitsbeutel unter dem olivgrünen Tisch hervor, legte meinen Fotoapparat vorsichtig hinein, verschloss und versiegelte das Behältnis und brachte das selbstklebende Etikett mit meinem Namen auf einem vorgegebenen Feld an. Ebenso umsichtig packte sie meine Utensilien zurück in meine Umhängetasche und nach wenigen Minuten erinnerte nichts mehr daran, das die Mitarbeiterin der Atomgaz meine Umhängetasche kontrolliert hatte.

„Das haben sie aber sehr fürsorglich gemacht - schöne Frau, dann darf ich mich auf sie an Bord der Georgi Schukow freuen, wenn sie mir meinen Fotoapparat zurückgeben“ antwortete ich lächelnd und freudig erregt. Eigentlich war mir der Fotoapparat egal, ein Aushilfsmodell für alle Fälle, wenn meine CANON Top Garnitur in RIMOWA Koffern diebstahlsicher und noch mehr verstaut, ihren Weg in den Frachtraum eines Fliegers oder Schiffes, gleich welcher Art auch immer, antrat. Versichert war der komplette Kram, nicht nur die Gehäuse und Objektive. Blitzlicht Geräte, Belichtungsmesser, Zwischenringe, Stative und ein halbes Dutzend Akkus sowie diverse Ladegeräte mit internationalen Anschlusssteckern für alle weltweit im Einsatz befindlichen Steckdosen. Natürlich Bildkarten für die Gehäuse in genügender Kapazität und Größe - ich ballere im Einsatz gerne im Schnellschussmodus, da ist eine Steckkarte rasch am Limit, auch wenn sie Hunderte Gigabyte hat. Aber was ist die Spitzenfotohightechnik gegen eine attraktive mittelalte charmante Dame, die meinen Aushilfsfotomaten so fürsorglich verpackte?

„Damit ist der Weg frei auf das Terminal Mittschiffs der Georgi Schukow, gleich unterhalb der Kommandobrücke, dort wo die fahrbare Gangway angelegt ist. Der Weg dorthin ist durch die grünen Leuchtpfeile gekennzeichnet. Alles Gute für sie Herr Maximilian von Bergerdamm, Bon Voyage - eine gute Reise und viel Erfolg an Bord der Georgi Schukow, auf dem Meer und bei ihren Tauchgängen mit der Architeuthis in das Herz der Finsternis…“

„Mister Berry Greenwald - your Identy Card please - Step here to my green table - please“ wiederholte die dunkeläugige Dame von der Identy Card Control ihre Ansage an den nachrückenden Forscher, Wissenschaftler oder was auch immer. Wie pflegte meine Großmutter zu sagen; Glück ist der Moment, wo einem der Zufall keinen Streich spielt. Diese alten Sprichwörter haben eine ureigene innere Dynamik, die unser Hightech Denken und Wissen bei jeder passenden Gelegenheit ad absurdum führt. Hatte ich mich doch tatsächlich für Sekunden vom Gedanken der Überheblichkeit verleiten lassen und an das praktisch Unmögliche zu glauben - dass sich eine Mitarbeiterin der Atomgaz während der Identy Card Control von einem ergrauten Pressezossen zu einem Date auf der Georgi Schukow verführen lässt. Gegen acht Uhr wollen die Russen auslaufen, das sind noch rund dreißig Minuten, aber daraus wird wohl nichts werden. Mehr als die Hälfte aller Expeditionsteilnehmerinnen und Teilnehmer wartete noch vor den Olivgrünen Tischen auf die Abfertigung durch ebenso attraktive und charmante Russinnen im Dienste der Atomgaz. Bevor ich die Empfangshalle verließ, warf ich einen letzten Blick über die vier Olivgrünen Tische, die Mitarbeiterinnen der Atomgaz in ihren Marine Blauen schicken Kostümen mit dem Goldgestickten Atomgaz Emblem darauf, auf die noch vor den Tischen anstehenden Kolleginnen und Kollegen - und auf Monsieur Bernard Panteneau, der mit Händen und Füßen vor Valeria Dernikowa gestikulierte und ihr seine Not mit meiner Anwesenheit in einer gemeinsamen Kabine klar zu machen versuchte. Ich vermied es mein Augenmerk weiter auf diesen überwichtigtuenden Tiefseezauberer zu richten und wartete in meiner sprichwörtlichen stoischen Gelassenheit auf die Dinge, die noch an Bord der Georgi Schukow auf mich zukommen würden. Während ich mit einem Teil der Kolleginnen und Kollegen aus West und Ost auf die Zuwegung der Georgi Schukow zuging, empfand nicht nur ich die spürbare Veränderung der Umgebungstemperatur, die inzwischen die zwanzig Grad Marke erreichte, gefolgt von einem kraftvollen Wind, der die Wolken über dem Nordmeerhimmel, der Kola-Halbinsel und dem Eismeerhafen Murmansk zusehends zerfledderte, dabei in kleinste Schäfchenwolken verwandelte und sie zu Paaren davon trieb - ein beeindruckendes Schauspiel der nordischen Wetterküche, die von den Südwestlichen Luftströmungen und Winden gespeist, den staunenden Menschlein im Hafen Murmansk nahe dem größten Eisbrecher der Welt - der Georgi Schukow - eine fulminante Vorstellung von der Virtuosität aus dem Zaubermalkasten der Natur bot. Der Himmel erstrahlte in allen Farben des Nordlichtes - die Mittsommernacht stand kurz bevor, und in wenigen Tagen würde die Georgi Schukow das atlantische arktische Eismeer erreichen, dort in der Nähe des geografischen Nordpols, wo die Sonne um diese Zeit nie untergeht und die Nacht ihre bedrohlichen Schatten und Schrecken verliert. Suomi - mein Lappland, warum bist du so schön? Mir fiel der Titel eines Beitrages zu meiner Rucksackreise durch Finnland und Lappland ein, was mittlerweile fünfundvierzig Jahre zurücklag, fast ein halbes Jahrhundert. Gott noch mal, was habe ich in diesen fünfundvierzig Jahren denn Großes geleistet? Die Jahrzehnte flutschten mir so durch die Finger - keine Chance auch nur eine Sekunde davon festzuhalten, geschweige denn das ewig drehende Zifferblatt der Vergänglichkeit anzuhalten. Ein Mitreisender schenkte mir vor Jahren während einer Reise durch Ägypten eine Uhr, nachdem wir uns nächtelang in philosophischen Diskussionen ergingen mit den Worten: “Schau auf dieses Zifferblatt - es zeigt zwölf Stunden an - eine davon wird auch deine sein“ Dann verschwand er einfach - ich habe ihn nie wieder gesehen. Ich schenkte mir diesen Ausflug in den Norden als Belohnung für mein bestandenes Staatsexamen als Betriebswirt, ein Ausflug, der mehr als acht Wochen dauern würde und der mich in die Arme einer liebreizenden Medizinstudentin aus Köln führte. Nach der Überfahrt von Travemünde nach Helsinki bemühten wir uns inniglich, verloren uns jedoch nach der Ankunft im Hafen aus den Augen. Sieben Wochen später begegneten wir uns fernab jeglicher Zivilisation in einem unbedeutenden und auf keiner Karte verzeichneten Lappendorf und ließen es richtig krachen. Wir wohnten einige Tage bei einer Lappenfamilie und genossen die gemeinsamen Saunagänge mit anschließenden Schwimmübungen im angrenzenden See, dessen Wasser trotz der sommerlichen Wärme von fast dreißig Grad kaum über zwölf Grad hinaus kam - das Erbe der Eiszeit. Danach verschwanden wir für den Rest des Tages oder der Nacht, was von der Helligkeit her kaum einen Unterschied machte, unter der Bettdecke oder in unseren Schlafsäcken. Ab und an steigen diese Altmännerfantasien aus den Grüften der Erinnerung empor und lassen mich wenigstens in Gedanken die Freuden der Vergangenheit ein letztes Mal kosten, bevor die Lichter für immer verlöschen. Unser Herz ist ein lebendiges Wesen aus Feuer - wenn man es verletzt verbrennt es zu Asche, so ein Sprichwort aus dem Sanskrit, der Altindischen Literatur- und Gelehrtensprache. Eine abstrakte Vorstellung zu wissen, dass mir und allen anderen Menschen auf diesem Planeten irgendwann der Docht ausgeht. Dabei gehöre ich zu den „Auserwählten - den Zeitreisenden - Ewiglebenden. Kann sein heute - kann sein morgen - aber sein wird, so Rabbi Haussteiner aus Bonn, den ich vor Jahrzehnten kennenlernte und als Mensch wie Gelehrten sehr schätzte. Seine Weltoffenheit und Toleranz beeindruckten mich sehr, wenn ihn auch das Ho-Chi-Minh Geschrei der 1968er im Poppelsdorfer Schlosspark und vor dem Residenzschloss nahe des Rheins zuweilen an seine Toleranzschwelle führte. „Der Herr wird es richten - die Jugend ist ungestüm - ein Privileg - Geduld ist noch nicht ihr Weg zur Erkenntnis - es wird sich alles fügen…“

Wie recht er doch hatte, Rabbi Haussteiner, wie recht er doch hatte. Einer der wenigen Menschen von denen ich aufrichtig sagen konnte, dieser Rabbi war ein wirklicher Freund. Seine Lebensgeschichte und die seiner Familie, seine fürchterlichen Erlebnisse während des Holocausts, habe ich neben anderen Personenerinnerungen in meinem Roman „Der Hausfreund“ erzählt. Möge er in Frieden ruhen und sein Seelenglück gefunden haben. Werde ich jemals mein Seelenglück finden? Und wenn ja - wo wird das sein? An Bord eines Tauchbootes auf dem Grund des Ozeans, einfach dort verweilen, für immer und ewig. Stille, absolute Stille und ewige Dunkelheit. Nur ab und an erhellt von den Irrlichtern der Unendlichkeit. Das langsame abgleiten in die Sphären der Anderswelt, nach Helheim, wo die Göttin Hel über ihre dunkle Welt herrscht, so der Name des Totenreiches in der keltisch-nordischen Mythologie. Die Anderswelt - in wenigen Tagen - so Gott und die Georgi Schukow will, werden wir dem ewigen Eis und den Göttern des Nordens und der Tiefsee näher sein als uns allen vielleicht lieb ist. Mag die Technik vorzüglich funktionieren und sicher sein, letztlich hängt alles auch vom Wetter ab. Der Nordatlantik in jenen Breitengraden ist unberechenbar; das Wettergeschehen kann sich in wenigen Stunden grundlegend ändern; Schiffe wie die Georgi Schukow sind so konzipiert, um damit umgehen zu können, aber die Teammitglieder außenbords in ihren Tauchbooten sind da wesentlich angreifbarer und müssen dann „rasch“ gesichert, an Bord des Eisbrechers geholt werden. Auf den Meteorologen an Bord der Georgi Schukow lastet eine große Verantwortung - die kleinste Kleinigkeit im Wettergeschehen müssen sie in ihre Vorschau für die nächsten acht plus vier Stunden Sicherheitspuffer einrechnen, so lange dauert das Ablassen der Tauchboote bis zum Erreichen des Ozeanbodens, das Abarbeiten der Experimente und das Aufholen des Teams an Bord der Georgi Schukow. Nun stand ich einen Steinwurf weit entfernt auf der Pier im Hafen von Murmansk vor der Bordwand der Georgi Schukow, die sich wie ein riesiger, unüberwindlicher Stahlberg vor mir und allen anderen Expeditionsteilnehmern aus dem Wasser erhob, in dem sie nahezu unbeweglich wie ein Wal ruhte und alle Maßnahmen an Bord und außerhalb ihres mächtigen Leibes in Gleichmut und Geduld, ja man konnte geneigt sein zu sagen in Gutmütigkeit ertrug wobei sie ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit an die zusteigenden Gäste auf Zeit aussandte, das ihrem Namen und der Erfahrung ihrer Besatzung mehr als alle Ehre machte. Das Hafenwasser quatschte und gurgelte verhalten zwischen der Bordwand der Georgi Schukow und der Betonwand der Kaimauer, wo der Eisbrecher über dicke Trossen an den Pollern festgemacht war. Das Schiff rührte sich keinen Fingerbreit, als würden die leichten Bewegungen des Nordmeerwassers, das ohne Unterlass in die Kola Bucht und den Hafen von Murmansk mit der Flut einströmte, um beim nächsten Gezeitenwechsel, der Tide, ebenso ohne Unterlass abzufließen, keinerlei Einfluss auf den gewaltigen Leib des Schiffes nehmen, welches in stoischer Ruhe auf die Anweisungen des Kapitäns und seiner Mannschaft harrte. Schiffe dieser Größenordnung verlassen einen Hafen niemals ohne Steuerschlepper, dazu ist der Bewegungsspielraum für einen solchen Koloss in einem Hafenbecken zum einen zu gering, zum anderen dient diese Maßnahme primär der Sicherheit der Georgi Schukow sowie der anderen Schiffe und der Sicherheit der Hafeneinrichtungen. Hinter der Hafenzufahrt, die einige Meilen weiter Nordwestlich lag, würden die Bugsierer, die Steuerschlepper, die Trossen von der Georgi Schukow lösen und selbige dann aus eigener Kraft ihrem fernen Ziel entgegenfahren. Der Reaktor war bereits von der Maschinenraum Besatzung auf Viertelkraft angefahren; das reichte vollkommen aus, um alle Systeme an Bord in Betriebsbereitschaft zu nehmen. Zu erkennen war dieser Vorgang an den hellen Dampffahnen, die aus dem hinteren Teil des Brückenbereiches nahe dem Sanitär- und Küchenbereich aufstiegen. Sobald die Besatzung ihr Schiff für die Hafenausfahrt bereit macht, werden die Maschine für die Grundversorgung in den Arbeitsmodus versetzt. Kein Schiff der Welt könnte die Massen an Batterien aufnehmen, um tagein - tagaus die Grundversorgung der schwimmenden Einheit über Tage oder Wochen aufrecht zu erhalten. Bei den traditionell motorisierten Schiffen dienen Batterien der Notversorgung, falls alle Strom erzeugenden Geräte - sprich Generatoren ausfallen sollten. Darüber hinaus dem Funkverkehr bei gleichem Problemfall. Bei den Selbstzündern leitet die Energie aus den Batterien den Startvorgang ein, alternativ die Druckluft aus den Pressluftflaschen. Hat mir mein alter Herr erklärt, der als U-Bootfahrer für Karl Dönitz Schiffe versenkte, bis er selbst zwei Mal versenkt wurde. Aber das nur am Rande. Das alles brauchte die Georgi Schukow nicht, wenngleich die Sicherheit an Bord eines Nuklear betriebenen Eisbrechers in keiner Weise mit den Sicherungsmaßnahmen an Bord eines normalen Schiffes, sei es Fracht- oder Passagierschiff zu vergleichen ist. Die schwimmenden Einheiten der Marine - sprich Militärschiffe, unterliegen wiederum ganz eigenen Sicherheits- und Abschottungsvorgaben, die kaum Bestandteil öffentlicher Fragestellungen geschweige denn Diskussionen sind.

„Ja - ja, so ein Eisknacker hat schon seine Eigenheiten, und wenn man diese Eigenheiten respektiert, damit gefühlvoll umgeht, ist er der beste und zuverlässigste Freund“.

Ganz in Gedanken versunken entlockte ein innerer Impuls meinem Langzeitgedächtnis diese Erinnerung an den Ausspruch von Randy Ballin, der mich auf Tauchfahrt zur Titanic einlud, damals, als wir im Nordatlantik mit der Octopus kreuzten und mit dem Tauchboot zur Titanic hinab glitten. Es war in dieser Region, wo im beginnenden Frühling nach aufbrechen der Packeisfelder Eisberge in allen Größen von der Drift nach Süden geschoben werden - mal mehr, mal weniger. Besonders nachts sind diese grauen Riesen von unberechenbarer Gefährlichkeit, wie es die Titanic im April 1912 zu spüren bekam. Wie heißt es doch in einem Lied -man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht. Stammt aus der Dreigroschenoper von Bert Brecht, einem deutschen Theaterdramatiker. Ein schnell fahrendes Schiff, die Wachen im Ausguck unzureichend ausgerüstet - schon ist die Katastrophe vorprogrammiert. Eintausendfünfhundert Menschen fielen diesem Unglück und der Überheblichkeit zahlreicher Verantworlicher zum Opfer, beim Untergang der Gustloff in der Ostsee im Januar 1945 starben sechs Mal so viele - Neuntausend Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Matrosen und verwundete Soldaten. Aber daran war kein Eisberg schuld sondern die Torpedos eines russischen U-Bootes, das auf dem Grund der Ostsee in der Fahrrinne auf der Lauer lag, letztlich aber der verbrecherische Krieg eines teuflischen Diktators der es schaffte, die ganze Welt in einen globalen Krieg ungeheuren Ausmaßes zu stürzen. Die Annalen der Seegeschichte sind randvoll mit Katastrophen, und die Verluste am Menschenleben zählen in die Hunderttausende.

„Weiter - weiter - schnell - schnell - zu den Booten ans Oberdeck“ hallte eine Megaphon Stimme über den Kai und die Hafenanlagen, während auf den Decks eines grauen, düster gestrichenen Schiffes Hunderte - wenn nicht Tausende Menschen wie die Lemminge um und übereinander rannten, trampelten, hetzten, wie entfesselt schrien, nur um zu jenen Booten zu gelangen, die aufgrund der Schräglage des Schiffes gar nicht mehr abgefiert werden konnten. Dieses mir unbekannte Schiff sank, daran gab es keinen Zweifel, und die Menschen auf diesem sinkenden Schiff versuchten sich verzweifelt zu retten, ohne Rücksicht auf jedwedes andere Leben gleich welchen Alters oder Geschlechts. Eisiger Wind fegte Milliarden von Schneeflocken aus dem Nordosten des Kontinents über die aufgepeitschte See, in denen die Schiffbrüchigen in wenigen Minuten den Tod finden würden, um hernach in der endlosen Tiefe zu versinken. Ich verspürte eine Kraft, einen Sog, der mich unaufhaltsam in diese quirlende, tobende Masse nackter Leiber hineinzog, wie ein gefräßiger Riesenkalmar, ein Architeuthis dux von gigantischem Ausmaß, der bereits mehr als die Hälfte des sinkenden Schiffes mit seinen alles zerpressenden Greifarmen umfasst hielt, und aus dessen Innerem die nackten Menschen wie eine teigige, fettige Masse heraus quollen, um hernach im weit geöffneten Schnabelmaul des Kalmaren kreischend und schreiend zu verschwinden. Meine Augen tanzten willenlos in den Höhlen meines Schädels, sie suchten von wahnsinniger Angst getrieben einen Fixpunkt, an dem ich meine irrwitzigen Visionen festmachen konnte - und dann sah ich sie, eine Frau, eine junge Frau, ebenso nackt und weiß wie alle anderen, doch diese Frau wurde nicht von der Masse überquellenden Menschenfleisches in den grässlichen Schlund der Vernichtung gerissen, sondern stand erhaben auf dem Oberdeck des untergehenden Schiffes und drehte nur ihren Kopf von links nach rechts - von rechts nach links, wobei sie die Hand ihres rechten Armes mit erhobenem Zeigefinger vor ihrem Gesicht vorbei bewegte, wie ein knöcherner Scheibenwischer - NEIN - nicht dieses Schiff - es ist das Totenschiff… trug mir der heulende Winterwind ihre warnenden Worte ans Ohr, die leise, kaum hörbar in der Wildheit der Elemente verklangen. Ich kannte diese Frau, war ihr schon begegnet vor langer Zeit. Sie erzählte mir eine Geschichte, so glaubte ich mich zu erinnern, die Geschichte ihrer Jugend von der verlorenen Heimat fern im Osten eines ehemals großen und stolzen deutschen Reiches…. das war - ist - meine Großtante als junge Frau - unmöglich, alles Wahnsinn, ein Albtraum, dennoch konnte ich meinen Blick nicht lösen von diesem Inferno des Untergangs, diesem Dante Inferno, das ich leibhaftig Fleisch geworden vor mir sah, zum Greifen nah. Aber da war noch eine andere Frau, die plötzlich, wie von Zauberhand aus dem eisernen Gewand der Brückenaufbauten erschien, eine Frau in Schwarz, von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. Ihre glühenden roten Augen fesselten mich mit ihren Blicken, ihr bleiches, knochiges Antlitz überzog für Augenblicke ein flüchtiges Lächeln, derweil ihre fleischlose Hand mir aus ihrem dunklen Umhang leicht zuwinkte und mir bedeutete an Bord zu kommen, die letzte ewige Reise anzutreten in die Refugien der Anderswelt, in das Reich der Göttin Hel nach Helheim…

Sibirien brennt - von einem Ende zum Anderen… die Wälder - das Klima… alles vernichtet - es ist heiß - sehr heiß in Sibirien; aber nicht jetzt, erst in vier Jahren - Jakutsien - Wrangel - Ljachow. Australien ein Flammenmeer - Amazonien - die Erde brennt - verbrennt - mein Kopf, was ist in meinem Kopf - er will platzen, einfach zerplatzen. Der Schlaganfall - ja, dieser Schlaganfall an meinem Geburtstag im Februar zweitausendzwanzig - ich bin wahnwankend - in vier Jahren - Grönland - Gletscherschmelze - Hunderte Milliarden Tonnen Eis - einfach weg - die Fische fliehen nach Norden - das Meerwasser zu warm - Erhitzung - Nordsee - Ostsee - der Golfstrom - das Ende der tropischen Warmwasserpumpe - was wird aus Nordeuropa - aus der Welt - Covid Neunzehn hat alles im Griff - Infektionen zählen jetzt wöchentlich nach Millionen - die Todeszahlen überfordern die Bestatter - in Bolivien liegen die Toten an den Straßen - wie im Warschauer Getto - die Hunde haben genug zu fressen - alles passiert in vier Jahren - ich sehe alles jetzt und hier… warum ich - Großtante - was hast du mir aufgeladen… ich bin der Bote…. der Bote…. der Bote…. der Gott des Todes…. ich bin Baal…. der Gott des Todes…. wir alle sind verdammt…. Loki wartet auf uns…. das Festmahl ist angerichtet…. im Herz der Finsternis…. das Virus - die Reinform - wo ist es…

„Hallo - Herr von Bergerdamm - Kollege - ist ihnen nicht gut - kann ich ihnen helfen - sie müssen achtgeben, um ein Haar wären sie in das Hafenbecken gestürzt… Herr von Bergerdamm… Maximilian - ich bin es - Sarah Rosenstrauch - kommen sie - ich hake mich bei ihnen unter - wir gehen jetzt zum Einstieg des Aufzugs…“

Die visionären Sequenzen in meinem Kopf erloschen so schnell, als wären sie niemals an meinem inneren Auge vorbeigerast. Der schnellste Bildwechsel in einem Videoclip würde schwerlich Mühe haben diesem Tempo zu folgen, dennoch sah ich alles klar und deutlich vor mir - nur den Namen des Schiffes nicht, das vor meinen Augen mit Tausenden Menschen an Bord im aufgewühlten Meer versank. Oder versank dieses Schiff bereits vor vielen Jahrzehnten und wurde nun von den Seelen der zu Tode gekommenen in das verklärende Licht einer Mittsommernacht gespült? Meine Großtante Lina, ich sah sie an der Reling auf dem Oberdeck stehen und mir verneinen an Bord zu gehen, bevor die tobende fleischige Masse nackter Menschen sie mit sich riss - verschwunden für immer. Dieses Schiff folgte den vielen vor ihm gesunkenen, jenen die nach ihm kämen wäre es ein würdiger Quartiermacher. Alle versanken sie in den eisigen Fluten der Ostsee - die Gustloff, die Cap Arkona, die Steuben und auch die Goya, die für Großtante Lina und ihre Freundin Annegret die Rettung bedeutete. Diese in schwarz gekleidete Frau auf der Brücke - war es die Herrscherin der Anderswelt, des Totenreiches? Sollte alles eine Warnung sein vor unserem Tun - keine Expedition - kein abtauchen - einfach abbrechen? Um mich herum bewegte sich alles wie in Zeitlupe - oder noch langsamer. Ich sah die Flügelschläge der Kolibris in einer Ruhe und Harmonie auf und ab schwingen, als hätten diese schillernden gefiederten Winzlinge das Geheimnis um das Gesetz der Schwerkraft längst gelöst, gegen das sich fast alle Lebewesen dieser Welt auf Dauer vergebens stemmen. Ich sage fast, denn mit grenzenloser Bewunderung beobachte ich in jedem Frühling und Sommer den virtuosen Flug der Mauersegler, die vom Beginn der Morgendämmerung bis zum Einsetzen der Abendröte auf dem Atem des Windes in rasantem Flug dahin gleiten, Ausdruck schier überschwänglicher Lebensfreude und Lust am Spiel mit dem unsichtbaren Element Luft. Alles ist in Bewegung - alles steht - wie der Galopp eines Pferdes, welches in einem einzigen Augenblick seines schnellen Laufes mit allen vier Hufen über dem Boden schwebt - frei im Element Luft, ohne Kontakt zum Erdreich. Vor mehr als Hundertvierzig Jahren erbrachte ein englischer Fotograf durch ein Dutzend nacheinander auslösender Fotokameras den Beweis, dass Pferde „schweben - fliegen“ können, das auch Pferde aus dem großen Urstamm der flugfähigen Organismen abstammen. Urstamm - wir tragen alle den T-Rex in uns, angeflanscht an den Cortex, der immer wieder seine archaischen Rechte an jeglichem Leben einfordert - dann werden wir wieder Reptilien.

„Yoshua - du hier?“ flüsterte ich kaum hörbar.

„Was sagen sie da? Ich bin es - Sarah Rosenstrauch - eine Kollegin. Wir gehen jetzt an Bord der Georgi Schukow. Sie wären beinahe in das Hafenbecken gefallen - ich konnte sie noch zurückhalten…“

In dem Antlitz dieses menschlichen Wesens, welches vorgab Sarah Rosenstrauch zu heißen, spiegelte sich zweifellos das Gesicht jenes Mannes wider, dem ich als Yoshua Rosenstrauch vor langer Zeit begegnete. Dann war er doch nicht tot oder für immer verschollen, er lebte als seine Tochter weiter… das perfekte Alibi um geräuschlos zu verschwinden, wenn einem die Geheimdienste der Welt auf den Füßen stehen. Alles nur Spuk, Einbildung, Fantasie, geistiger Dünnschiss, Wirrwarr oder was auch immer, aber vielleicht - vielleicht -…

„Sie haben mich vor dem Ertrinken gerettet - und das bei schönstem Mittsommernachtwetter - es ist warm geworden…“

„In der Tat - das Wetter hat sich vollständig gewandelt - einfach zu schön um da in einem Hafenbecken abzutauchen“ lächelte Sarah Rosenstrauch mir zu; sie sah mich direkt an und ich blickte erneut in das Antlitz jenes Mannes, den ich in den 1990er Jahren während seiner Expedition in Alaska traf, als ich eine Reportage über Brewster Ferry schrieb. Ich zweifelte keinen Augenblick an dem was ich sah, allerdings gestand ich mir die Option zu verrückt zu sein, durchgebrannt, Paranoid oder so etwas in der Art. Menschen in anderen Menschen zu sehen, die seit Jahrzehnten wie vom Erdboden verschluckt und dazu noch wesentlich jünger und anderen Geschlechts sind. Möglicherweise ein Vorrecht des Alters, wenn schon nicht dement oder Altersheimer, dann wenigstens handfest verrückt.

„Entschuldigen sie Sarah - sie können mich Max nennen, ich hatte eben so eine Art Vorschau auf mein Leben - seit meinem Schlaganfall erlebe ich Szenarien die so real sind, dass ich zuweilen glaube ich brenne ab wie eine Silvesterrakete…“ raunte ich Sarah Rosenstrauch hinter vorgehaltener Hand zu, denn ich wollte auf jeden Fall vermeiden, dass irgendwer aus dem Kollegenkreis zu große Ohren macht, wenn ein alter Zossen wie ich und eine knackige Holländerin die Köpfe zusammen stecken und tuscheln. Ich öffnete meine Jacke und zog den Reißverschluss meines Marinepullis bis zum Hosengürtel auf; die angestaute feuchte Körperwärme konnte entweichen und machte der frühsommerlichen Milde der beginnenden Mittsommernacht über Murmansk platz, die sich eilte die frei werden Regionen meines Körpers zu besetzen.

„Das tut gut - dieser Wetterumschwung hat es in sich - schauen sie die Hafenuhr - gleich ist es acht Uhr und das Thermometer zeigt fünfundzwanzig Grad - das ist mehr als in anderen Jahren zuvor, viel mehr. Der Klimawandel ist nun nicht mehr zu leugnen, und die Eismassen weltweit schmelzen in rasantem Tempo. Es soll schon Fahrzeughersteller geben, die bereits Schwimmautos auf Vorrat produzieren. Gab es schon beim Militär, bin mit so einer Kiste gefahren - und geschwommen. Hat richtig Spaß gemacht…“

Der Bote

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