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Maxis Visionen - Valerias Einladung - Viktor Satchevs Rede - Maxis Tod

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Der Gang wollte kein Ende nehmen, wand sich wie ein Aal in immer neuen Windungen längs einer blauen Leitlinie, die sich wie ein Starkstromkabel durch das Kabinendeck der Passagiere schlang, treppauf - hinein in einen weiteren Gang, der sich mit Menschen aus Kabinen füllte die ich nicht kannte, die mir aber vertraut schienen, wenngleich ihr Aussehen so gar nicht in das Jahr zweitausendsechzehn passte. Alles kam mir wie eine Kulisse, eine Bühneninszenierung der Atomgaz vor, eigens für die Forscher, Wissenschaftler und Mediziner veranstaltet. - Lina - wie ist das möglich - Jungchen - das ist ein Totenschiff - kehre um - ihr werdet alle den Tod finden… Leichen - überall Leichen, blasse zerfallende Körper die wie Seifenblasen aus dem brodelnden Sog eines sinkenden Schiffes an die Oberfläche des Meeres wie Sektkorken ploppten, Skelette, Hunderte, Tausende und dazwischen dieses blaue wild zuckende Starkstromkabel das sich nun hinauf wand - steil hinauf - Brücke - Zutritt nur für Offiziere… Rotlicht flackerte durch die sich verzweigenden Gänge, erfüllte Kabinen, überzog lebende Tote, Leichen und Skelette mit einem grausigen Schleier unwirklichen Scheins - Alarm - alle Mann auf Gefechtsstation - Klar Schiff zum Gefecht… brüllte die Stimme aus einer längst vergangenen Zeit, welche in Zuständen höchster Not und Angst in den Köpfen der Menschen aufstieg - sich ihrer bemächtigte und sie zu irrwitzigen Verzweifelungstaten verleitete… - U-Boot Backbord voraus - Entfernung zweitausend Meter - Anlauf beginnt -Torpedos frei…. ich sah den stählernen Sarg über das Wasser des nordatlantischen Eismeeres fegen in einer Geschwindigkeit, die nur noch vom heulenden Fauchen der Torpedos übertroffen wurde, und die vom Atem des Todes getrieben mit erschreckender Präzision den gepanzerten Rumpf der Georgi Schukow trafen, was den Eisbrecher fast zeitgleich mit den urweltlichen Explosionen zum Stehen brachte, die diesen Zehntausende Tonnen schweren Koloss mehrere Meter aus dem eisigen Arktiswasser stemmten, um ihn dann in zwei Teile zerbrechen ließen, die bei ihrem Rücksturz ins Meer gigantische, kreisförmige Wellenberge erzeugten, die nun nach allen Seiten davon rollten, um so schnell wie möglich diesen Ort fürchterlichen Geschehens zu verlassen…U 2485 - Kommandant Ohnefurcht - Torpedotechniker von Bergerdamm - das Boot meines Vaters…ein Monsun Boot - eines der ganz großen mit acht Torpedorohren… Asien - Japan - Indischer Ozean… was hatte mein Vater dort zu schaffen…Covid 19...Indien…Katastrophe…Corona Pandemie… USA Hotspot 2020.…diese Leuchtschrift blinkte für Sekunden zwischen dem auf und abschnellenden blauen Starkstromkabel auf, das mit zunehmend gnadenloseren Schlägen Hunderte dieser menschenähnlichen Wesen durch Wände, Kabinentüren und Fenster hinausschmetterte in die eisigen Fluten des arktischen Nordmeeres…

„Schön sie zu sehen - Maxi von Bergerdamm - wir haben schon geglaubt sie kommen nicht mehr…“ flüsterte eine Stimme aus diesem Inferno eines Albtraumes, eine Stimme, die ich kannte… aus einem Lied… Monsieur Hunderttausend Volt…. Natalie…. Gilbert Becaud…. Natalie…. Valeria Dernikowa… sie ist gekommen mich zu begrüßen….

„Hallo Maxi… ich bin es - Valeria Dernikowa - die Lady in Red… sind sie in Ordnung… geht es ihnen gut….?“ fragte die Stimme jetzt nicht mehr flüsternd, dafür schwang eine gewisse Unruhe oder Sorge in ihrem Klang, womit sie einer erwarteten Antwort auf ihre Frage - schon der Höflichkeit wegen - Nachdruck verlieh.

„Covid 19 - das Corona Virus, die Pandemie ist nicht mehr zu stoppen - alle werden zweitausendzwanzig sterben - die USA sind der Hotspot der Infektionen und Todesfälle… Zehntausende sterben täglich…. alles kommt zum Ursprung zurück - wo es vor Hundert Jahren begann - die Influenza H1N1 - die Spanische Grippe… wir sind alle verloren…“ murmelte ich meine Worte, getragen von den Stimmklängen hoffnungsloser Traurigkeit, ausgestattet mit den albtraumhaften Sekundenvisionen einer untergehenden Welt in der nahen Zukunft.

Valeria Dernikowa schaute mich aus großen Augen an, dann lächelte sie verständnisvoll, zupfte am Ärmel meines Marinehemdes und bedeutete mir in die Offiziersmesse einzutreten, wo sich bereits die meisten Forscher, Wissenschaftler, und Mediziner versammelt hatten, um die Begrüßungsworte durch den Kapitän der Georgi Schukow, Herrn Viktor Satchev zu hören und das Auslaufen des Eisbrechers in das arktische Nordmeer zwischen Grönland und dem geografischen Nordpol, umrahmt von einer prachtvollen Mittsommernacht, zu genießen. Vom zweiten Deck im Oberdeck der Brücke bot sich nicht nur dem Kapitän und den Offizieren, die sich alle beiderseits neben Viktor Satchev aufstellten, ein traumhafter Ausblick auf die Kola Bucht, den sich vom Hafen aus bis zum Horizont erstreckenden Meeresarm, dessen Wasser in allen Facetten des Polarlichtes glitzerte und funkelte und nichts von dem erahnen ließ, was in den nächsten Tagen und Wochen auf uns alle zukommen würde. Die Menschheit in ihrer globalen Urbanität geriet in drei Jahren in den Sog einer beginnenden Pandemie, die im Jahre 2020 alle Vorstellungen des Schreckens, Leidens und Sterbens sprengte.

„Kommen sie Max - dort drüben Backbord am Fenster, ein Zweiertisch - habe ich für uns reserviert. Ich möchte doch hoffen, dass ihnen das recht ist, immerhin bin ich ja ihre Kontaktperson an Bord - sozusagen die Mutter der Kompanie…“ wobei sie ein wenig lachte,“ so sagt man doch bei den Soldaten…“

Schwerfällig drehte sich sein Körper in Richtung der stimmlichen Ansage, und aus dem prall-roten Lippenpaar jener Frau zu seiner Linken flossen unentwegt betörende Töne, die Maximilian von Bergerdamm an eine Melodie erinnerte, welche er in seiner Kindheit in der Villa seiner Eltern über dem Ruhrtal in den Ausläufern des Bergischen Landes vernahm; der Bruder seines Vaters, Wilhelm von Bergerdamm, war als Ingenieur und strategischer Planer des Unternehmens auf allen Kontinenten dieser Welt im Einsatz, denn nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges liefen in den Neunzehnhundertfünfziger und sechziger Jahren die Aufbauarbeiten auf Hochtouren. Da waren die technischen Kenntnisse und Ingenieurleistungen der deutschen Stahlerzeuger und Maschinenbauer einfach unverzichtbar, was dazu führte, dass Wilhelm, von den Kindern seines Bruders Hans von Bergerdamm nur Onkel Willi genannt, Wochen- oder Monate, zuweilen Jahre von zuhause entfernt in fremden Ländern lebte und arbeitete. Onkel Willi war Junggeselle, so die allseits gebräuchliche Bezeichnung für einen unverheirateten Mann, was für Maximilian und seine Geschwister aber keine große Rolle spielte oder sie in irgendeiner Weise zum Nachdenken darüber anregte, warum das so war. Onkel Willi war für die von Bergermann Nachkommen der Inbegriff des Abenteurers, des Entdeckers, des großen Wohltäters der in fremde Lände fährt oder fliegt, um dort große Maschinenfabriken oder Kraftwerke zu bauen, die den Menschen dort ein besseres Leben schenkten. Zuweilen verglichen sie ihn mit dem großen deutschen Entdecker und Universalgelehrten von Humboldt, wenn auch der Vorname ein anderer war, aber jener Alexander hatte ja noch einen Bruder der Wilhelm hieß, und schon passte alles in der kindlichen Vorstellungswelt perfekt zusammen. Willi brachte stets wundersame Geschenke von seinen Reisen mit an die Ruhr, welche die Kinder dann im Zusammensein der Familienmitglieder auspacken und bewundern durften. Eines dieser Geschenke war eine indische Querflöte, eine Bansuri, die eng mit der hinduistischen Gottheit Krishna verbunden ist, denn dieser Hauptgott der Hinduisten wird oftmals als Flötespielender Gott dargestellt und verehrt. Onkel Willi spielte den Kindern auf dieser Bansuri wunderschöne Weisen, Melodien voller Anmut, Verklärtheit und Sehnsucht, mit denen die Seelen aller Menschen dieser Welt erreicht werden, so sagt es die hinduistische Mythologie. Willi erzählte uns von Bhagavad Gita, einem Lied und Gedicht gleichermaßen von unvergleichlicher Schönheit und geschichtlicher Schwermut, von Schicksalen und tapferen Kriegern, und so gehört es mit zu den zentralsten Schriften des Hinduismus. Onkel Willi brachte den Kindern, die seinen Erzählungen mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen bis in die Nächte hinein lauschten, die Götter dieser fernen Welt Indien und des Hinduismus nahe. Er berichtete von Kali-Yuga, dem schwarzen Dämon, der nach Krishnas Tod im Jahre 3102 vor der Geburt Christi und seinem Aufstieg in den Himmel, seinen - Krishnas Platz einnahm. Zuvor jedoch bat der berühmte und tapfere Krieger Arjuna Krishna darum ihm seine Worte zu erklären worauf Krishna sagte „Ich bin die Zeit - gekommen um die Welten zu zerstören. Jetzt bin ich der Tod geworden - der Zerstörer der Welten“ so ein Zitat, das ein gewisser Richard Obermann als Metapher nach dem erfolgreichen Test der ersten Atombombe in der Wüste von New Mexiko gebrauchte. Nach der hinduistischen Mythologie leben wir jetzt im dunklen Zeitalter, dem Zeitalter des Verfalls und der Verderbtheit und steuern wie der Kapitän auf einem Schiff geradewegs in den Untergang. Die Kinder von Hans von Bergerdamm, so namentlich Maximilian, Waldemar, Konrad, Annegret und Amalia wussten nichts von den Atombomben auf bewohnte Städte, wussten nichts von Konzentrationslagern und dem Massenmord an Millionen Juden, wussten nichts von Euthanasie und Rassenwahn der Nazis - das alles hielten sowohl Onkel Willi als auch ihr Vater Hans von Bergerdamm von den Kindern fern. Annegret und ihre Schwester Amalia waren Zwillinge. Sie wurden vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Sommer 1939 geboren. Konrad im September 1943 und Maximilian und Waldemar im Februar 1948 sowie im April 1950. Damit war - wie es ein Kanzler der BRD einmal formulierte, die Gnade der späten Geburt die Lossprechung von der Erbschuld erfolgt.

„So - da wären wir - nehmen sie platz, von hier aus haben wir eine fantastische Aussicht auf die Kola Bucht, die Wälder ringsum und können trotzdem den Worten unseres Kapitäns Viktor Satchev zuhören… was möchten sie trinken - Wasser - das ist doch richtig Maximilian…?“

Die Teilnehmer der Expedition nahmen an den Tischen in der Offiziersmesse ihre Plätze ein, derweil Kapitän Viktor Satchev sein Headphone justierte und die Offiziere seiner Mannschaft auf dem Podium mit gedämpfter Stimme begrüßte. Dann wandte sich Viktor Satchev an die Gäste aller Teams auf seinem Schiff, und begrüßte mit kräftigem „Strastwuitje“ (Guten Tag) gleichfalls die neu hinzugekommenen russischen Wissenschaftler und Forscher zu dieser Reise auf dem Eisbrecher Georgi Schukow, hob sein Glas „Sa sdorowje“ (Auf Ihre Gesundheit“) hieß alle Frauen und Männer ganz herzlich willkommen, endete seine kurze Ansprache mit den besten Wünschen auf Erfolg und einem in nachdenklichem Ton gehaltenen „Budim zdarówy“ (Darauf - dass wir alle gesund bleiben). Viktor Satchev und seine Offiziere erhoben ihre Gläser in Richtung der Anwesenden und riefen laut mit ernsten Gesichtern „My schylájim schißtliwawa puti“ (Wir wünschen allzeit eine gute Fahrt). Dann deutete Viktor Satchev mit einer leichten Bewegung der linken Hand auf das Büffet und rief lächelnd “Prijatnawa apitíta“ (Guten Appetit). So dann schaltete er sein Headphone aus, und ging mit seinen Offizieren gleichfalls in Richtung Büffet, das mit Meeresfrüchten aller Art und typisch russischen Landgerichten mehr als üppig garniert war. Wie das Warten auf ein Kommando erhoben sich die Teammitglieder aus Forschern, Wissenschaftlern, Medizinern, Geologen, Vulkanologen und Meteorologen mehr oder weniger lautstark Stühle oder Tische rückend, um sich forschen Schrittes zum Quell der Verheißung, zum Tempel der Delikatessen aus den Ozeanen rund um das größte Land der Erde oder ganz banal zur Futterkrippe an Bord der Georgi Schukow, um sich mit Meeresfrüchten und anderen Leckereien der russischen Küche vollzustopfen, bis die Krabbenschwänze aus den Mündern heraushingen.

„Maxi - darf ich ihnen Wasser eingießen… das Essen möchte ich sie bitten sich dann selbst holen, sie wissen besser als ich was sie aus dem Büffet verzehren möchten…“

„Danke - Valeria Dernikowa - ein Wasser ist schon in Ordnung - mit dem Essen - ich habe schon als Kind gelernt bescheiden zu sein und sehr sorgsam mit dem Lebensmittel umzugehen. Ich leide keinen Hunger, daher ist eine Nahrungsaufnahme derzeit nicht erforderlich, dennoch herzlichen Dank für ihre Hilfsbereitschaft. Zudem hat die Atomgaz ja die Minibar in meiner Kabine entsprechend meinen Wünschen ausgestattet, wofür ich ihnen stellvertretend sehr dankbar bin. Solche Großzügigkeiten sind in der heutigen Zeit schon lange nicht mehr selbstverständlich, wo vieles doch von Stress, Hektik und Einheitsfutter geprägt ist - vor allem viel und billig - die Discounter in allen Industriestaaten der Welt legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Schließlich wollen die Erzeuger der Nahrungsmittel die Kaufkraft abschöpfen, egal zu welchem Preis…“

Valeria Dernikowa nahm aus dem Getränkespender, von dem auf jedem Tisch je einer mit einer Auswahl an Flaschen stand, so Wasser - still oder klassisch, Limonade, natürlich die Ami Brause Coca Cola und Getränke aus Old England - Schweppes Lemmon Bitter und Tonic Water. Alkohol befand sich nicht darunter, was sicher einige der Teilnehmer innerlich murrend zur Kenntnis nahmen.

„Ihr Glas bitte…“, während sie das sagte hielt ihr Maxi von Bergerdamm sein Glas hin, und Valeria Dernikowa goss die klare, perlende Flüssigkeit, die sich leise glucksend in Maximilians Glas ergoss, aus der Flasche.

Die Tische füllten sich wieder mit den Gästen der Georgi Schukow, und es kehrte so etwas wie Ruhe ein, die nur unterbrochen wurde von den Geräuschen der Bestecke auf den Tellern oder dem einen oder anderen Toast auf irgendeinen Kollegen, ein Team, auf die Reise und natürlich auf den Kapitän und seine Mannschaft. Valeria Dernikowa füllte sich ihr Glas gleichfalls mit dem prickelnden Nass und schien meine Gedanken zu erraten.

„Sa sdorowje - Gospondin Maxi - auf ihr Wohl und eine gute Reise. Sie werden über ihre Erlebnisse während der Fahrt mit der Georgi Schukow, der Besatzung um Kapitän Viktor Satchev und die Forscher und Wissenschaftler berichten… eine ehrenvolle Aufgabe, die sie sich da gestellt haben, aber im Hinblick auf die zahlreichen Artikel die ich von ihnen zu lesen das Vergnügen hatte bin ich sicher, dass sie den Ritt auf dem Eisbär mit Bravour meistern werden…“ lächelte Valeria Dernikowa charmant und ein wenig verführerisch. Maxi von Bergerdamm lächelte zurück, ein wenig verlegen, denn er reichte bei seiner Bewerbung um eine Passage zu dieser Expedition mit der Georgi Schukow eine Auflistung seiner wesentlichen Reportagen und Features sowie die Preise die er erhielt ein, nicht aber die kompletten Abhandlungen zu den diversen Themen. Diese Art der „Anbiederung“ kam für ihn nicht infrage, denn die Empfänger dieser Berichte wollten sich ein Bild machen vom Menschen Max von Bergerdamm und seiner Arbeit und keine Selbstbeweihräucherungsoffenbarung lesen.

„Jetzt haben sie mich in Verlegenheit gebracht - ich versuche so gut zu schreiben wie ich kann. Meine Beiträge und Reportagen sind immer auch von einem subjektiven Empfinden getragen, denn ich schreibe über lebendige Wesen, da kann ich nicht herangehen wie an die Gebrauchsanleitung zu einem Wasserkocher. Das habe ich immer so gehalten, und davon werde ich auch nicht abgehen. Wenn dann meine Reportagen und Beiträge den Menschen gut gefallen, macht mich das glücklich - und zugegeben auch ein wenig stolz, aber das Glück und das wenig stolz bemühe ich mich so weit wie möglich weiterzugeben an die Wesen, die mir dieses Glück und das kleine Gefühl des Stolzes beschert haben - an Mutter Erde und ihre unvergleichlich schöne Natur, die wir so sehr mit Füßen treten und zerstören…“

Maxi von Bergerdamm hielt sich die Hände vor sein Gesicht und schluchzte leise, wobei die Tränen an seinen Fingern herunterließen, über seinen Mund und auf den weißen Porzellanteller tropften, der noch immer unbenutzt vor ihm stand und vergeblich auf eine Füllung wartete. Maximilian griff sich die Serviette und wischte sich damit über das Gesicht, um hernach seine Finger und Hände damit abzutrocknen.

„Entschuldigung - das kommt nicht oft vor, aber zuweilen gibt es kein Halten mehr - besonders nach meinen Déjà vus - ein „Familienerbe“. Maxi von Bergerdamm erzählte Valeria Dernikowa vom Zweiten Gesicht seiner Großtante Lina aus Ostpreußen, die ihm von ihrem Leben in Allenstein, der Flucht im Winter vor der Roten Armee und der Vertreibung aus ihrer Heimat berichtete - und vom Untergang der Flüchtlingsschiffe mit Zehntausenden Menschen an Bord, allen voran die Wilhelm Gustloff. Als sie im Sommer 1968 starb war er noch ein junger Mann, aber je mehr Jahre über diesen Verlust vergingen, um so schmerzlicher wurde ihm bewusst, was für einen großartigen Menschen er an seiner Großtante Lina einst besaß und was er durch ihren Tod verlor. Aber sie gab ihm etwas mit, das nur wenigen Menschen auf dieser Welt zu eigen ist - die Fähigkeit visionär zu sehen - das Zweite Gesicht - Hellsehen oder wie auch immer die Menschen diese Gabe bezeichnen, ja, seine Großtante hat damals mit ihrer Freundin die Flucht aus Ostpreußen über Pillau, Gotenhafen und der Fahrt mit der Goya nach Kiel heil überstanden, wenn sie auch an ihrer Seele schwer verwundet wurde und daran letztlich im Sommer 1968 starb.

„Das tut mir sehr leid für sie - wirklich Maxi - es schmerzt mich sie so leiden zu sehen… aber das Leben hat ihnen auch eine andere besondere Gabe geschenkt - das Schreiben für Menschen, ein ganz großartiges Geschenk, und ich kann ihnen hier im Vertrauen sagen, das die Verantwortlichen für diese Expeditionsreisen mit der Georgi Schukow alle ihre Artikel und Reportagen über Google downgeloaded haben, so begeistert sind die Damen und Herren von dem, was und wie sie über diese Welt, über die Menschen, die Tiere, die Pflanzen, die Berge und Ozeane - halt über alles schreiben und berichten, was diese Welt und das Leben ausmacht. - Lieber Maxi - ich bin sehr stolz darauf mit ihnen hier unter vier Augen an einem Tisch zu sitzen und ihre Gegenwart zu genießen. Dafür möchte ich ihnen meinen ganz herzlichen Dank aussprechen…“ lächelte Valeria Dernikowa, beugte sich unvermittelt zu Maxi herüber und hauchte ihm einen Kuss auf die rechte Wange. Maxi von Bergerdamm lächelte, legte seine Hände sanft und behutsam auf die Handrücken und Fingerspitzen von Valeria Dernikowa, wobei er ihr erneut tief in ihre dunklen Augen blickte, in denen das Feuer der Taiga allgegenwärtig war und aus den legendenumwobenen Tiefen der russischen Seele seit ewigen Zeiten befeuert wurde.

„Das haben sie sehr schön gesagt und mich in richtige Verlegenheit gebracht. Solch warmherzige, aufrichtige und ehrliche Worte hat schon seit vielen Jahren kein anderer Mensch mehr zu mir gesagt. Ich bin gerührt - sehr gerührt - es ist einer dieser Augenblicke von denen schon Goethe sagte - verweile doch - du bist so schön… schauen sie Valeria - die Haltetrossen der Georgi Schukow werden gelöst, dann wird sich Kapitän Satchev mit seinen Offizieren gleich verabschieden und auf die Brücke gehen - dem Lotsen das Kommando übergeben, so wie es der Brauch in allen Marinen auf der Welt ist…“

„Ja Maxi - gleich ist es so weit, ein großes Abenteuer beginnt und niemand weiß zu sagen, wie es für uns endet. Schiffsreisen haben für mich einen hohen symbolischen Wert - sie künden von Abschied, von Ferne, vom Zurücklassen der Heimat, dem Aufbruch in eine unbekannte Zeit und Welt, aber auch die Sehnsucht und Erwartung der Rückkehr, die irgendwann einmal erfolgen wird. Ich weiß nicht wie es ihnen geht - aber ich kann mir sehr gut vorstellen, dass sie ähnlich empfinden - lieber Maxi…“

Maxi von Bergerdamm schluckte, seine Zunge fühlte sich trotz des frischen prickelnden Wassers wie ein nasses Daunenkissen an, das an seinem Gaumen klebte wie Heißleim und um nichts in der Welt diesen Platz aufzugeben bereit schien. Was sollte er tun - diesen wunderschönen Einstiegsabend durch die nachfolgenden Gedanken, die bereits fertig formuliert in seinem Gedächtnis wie sprungbereite Panther lauerten, bereit - sich in Sekundenbruchteilen auf sein argloses Gegenüber zu stürzen und sie in eine panische Verzweiflung schleudern, der diese wunderbare Frau nicht gewachsen war, sollte er diesen schrecklichen Gedanken die Zügel schießen lassen wie ein Falkner seinen Greif? Trotz aller Selbstzweifel und inneren Qualen hinsichtlich der möglichen Richtigkeit seines Tuns, blieb ihm nicht die geringste Aussicht auf einen Fluchtweg aus diesem Karussell des Irrsinns, das sich in seinem Kopf wie eine Zentrifuge zu drehen begann, und in der sein Hirn wie Milchreis langsam aber stetig auseinandergerissen und durchmengt wurde. War das das Ende - hier und jetzt auf diesem Eisbrecher? Welche Rolle spielte er in diesem teuflischen Vabanque Spiel, in dem es um viel mehr ging als nur eine Fahrt mit dem Eisbrecher in die Randbereiche der nördlichen Polarregion mit Tauchfahrten zu den Smokern, zu Lokis Schloss, zu den Röhrenwürmern, Tiefseekrabben, Mikroben und anderen Lebewesen, die das Reich der ewigen Finsternis und Eiseskälte zu ihrem Lebensraum erkoren hatten? Eine Kreuzfahrt des Todes - ja, das war diese Expedition, es wird niemand überleben, da war sich Maxi von Bergerdamm sicher.

Der Bote

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