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Wie zufällig ließ er den Blick durch die gestärkten Spitzengardinen ins Freie gleiten. Da sah er ein seltsames Paar die Dorfstraße heraufkommen, einen Mann und ein Mädchen. Der Mann war lang und dürr und in seemännischer Kleidung, rotbärtig und einarmig und blies im langsamen Daherwandern auf einer kurzen dikken Tonflöte.

Zu vernehmen war nichts; das Geklapper der Schreibmaschine übertönte alles. Das Mädchen wirkte neben dem Langen überaus zierlich; Tidemunt dachte, es sei ein Kind. Er sah aber bald, es war wie eine Nonne gekleidet, in Schwarz und Weiß, aber Rock und Haube und Schleier waren fast gleichmäßig von grauem Staube überzogen. Das Gesicht unterschied er nicht deutlich, er sah nur, daß es sehr schmal und ein wenig bräunlich sei.

Auf einmal hörte er auch die Flöte, weiche, schwermütige Okarinatöne. Es waren nur drei Töne, die sich immer wiederholten, und waren die gleichen, die er die ganze Zeit vor sich hingesummt, seit er die Barkasse gen Böwerder gesteuert. Und nun wußte er auch, woher er sich dieses kleinen Themas entsann. Es hallte nicht nach aus den hastigen Geigenschreien von jenem Abend des Abschieds. Das Hauskonzert, darin sie erklungen, stieg in seiner Erinnerung auf, das letzte vor manchem Jahr, da seine Frau noch den Mut aufgebracht hatte, sich aus ihrer wachsenden Scheu herauszuwagen und die enge Dachwohnung mit erlesener Gesellschaft und schöner Musik zu weiten. Das Brahmssche Streichquartett in a-moll war es, und sie hatte einleitend auf das Hauptmotiv hingewiesen, auf die elegisch sich wechselvoll verzweigenden drei Töne F, A, E, die der dreizackige Leitstern des Komponisten gewesen, übernommen von seinem Freunde, dem Geiger Joachim. Die Bedeutung dieser drei Töne liege in der persönlichen Auslegung ihrer Bezeichnung als Anfangsbuchstaben für drei schwerwiegende Worte — so hatte sie gesagt —, für die drei Worte „Frei, aber einsam“. Ein Motto, fordernd und verzichtend zugleich, stolz und gnadenlos, ein rechtes Künstlerwort, das künstlerische Schicksal kennzeichnend.

Tidemunt sah sich behaglich im Hintergrund in einen Sessel gestreckt. Er hatte, als sie so wohllautend und geschickt ihren kleinen Vortrag hielt, ein angenehmes Gefühl von Besitz und Zugehörigkeit gehabt, überschattet nun von einem anderen Erlebnis in jenem gleichen Sessel, das in damals noch nicht vorgeahntem Zusammenhange damit stand. Frei aber einsam ...

Es war eine Ankündigung gewesen, er hatte es nicht erfaßt gehabt, er war so sehr ihrer sicher gewesen, so sicher wie seiner selbst. Wohl hatte er das fern Bedrohende nicht überhört, das Ausgeliefertsein, aber er hatte es einzig auf sich selber bezogen, auf frühe Versuchungen, aus denen er sich in die klare Zucht und Geborgenheit technischer Belange und des Staatsdienstes rechtzeitig abgesetzt. Frei? Nein, nicht frei, sondern aufs vernünftigste gebunden, beruflich wie menschlich. Und er war dessen froh gewesen. Einsam? Das schon eher, beruflich bestimmt, auch ohne rechte Freunde — bis auf die sonderlich schwebende Freundschaft des Stadtbaumeisters —, aber menschlich nicht einsam, sondern der lieben Sprecherin und Musikantin aufs innigste verbündet. Wie denn auch sie es nicht nötig hatte, frei und einsam zu sein.

„Frei und einsam?“ Es hieß „frei, aber einsam“. Hatte sie es nicht ausgesprochen? Ach, es kehrte sich um, es hieß „einsam, aber frei“. War es so? War es wirklich so mit ihr? Und wie nun war es mit ihm?

Das alles floß in Bildern, Gedanken, Worten und Tönen rasch und luftig durch Tidemunts Halbbewußtsein, als er nun, ohne den Blick auf die Versammlung zurückzulenken, aufstand und ohne Gruß hinausging, wie einer, der ein vergängliches Geschäft zu erledigen hat und nicht weiß, daß er draußen bleiben wird.

Hastig trat er ins Freie und sah das merkwürdige Paar davonziehen, landeinwärts, auf die dünnen bläulichen Hügellinien der Heide zu, angestrahlt von der schrägen Vormittagssonne. Der rote Kranzbart bebte beiderseits des dürren Matrosennackens wie eine Flamme hervor, und unter dem graustaubigen Gewandsaum des Mädchens leuchteten in schreitendem Aufwellen schmale bloße Fersen wie rosige Blinkzeichen. Und immer noch erscholl die karge Tonfolge, nicht so sehr klagend, als vielmehr ergeben, und nun hörte er auch die Stimme des Mädchens. Sie sang sehr leise und ein wenig glitzernd.

Er beeilte sich, den beiden unauffällig näherzukommen. Lauteten die Worte, die das Mädchen sang: „Ach, bleib doch!“ oder „Komm wieder!“ oder „Für dich nur!“? Hieß es nicht alles andere als „Frei, aber einsam“, was da so süß und bedrängend erklang?

Er ging und ging, gesenkten Hauptes lauschend, hinter den beiden her, doch wurde die Entfernung zwischen ihm und ihnen nicht geringer, und er wunderte sich, daß er keine Ungeduld empfand, sondern nur ein ziehendes, beglückendes Verlangen, immer so weiterzugehen, einer ungeklärten Verheißung nach.

Die Sonnenflöte

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