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Das Gewesene schien ihm entfremdet. Er vermochte dem Arzte, als endlich ein karges Gespräch zustande kam, wenig Klarheit über vergangene Ereignisse zu vermitteln. Sein Gedächtnis sträubte sich; er gab auf, es zu behelligen, fand auch wenig Neigung, es mit neuen Eindrücken zu belasten. Langsam entledigte sich sein Gesicht aller Aufmerksamkeit und allen Grübelns. Er sah mit seinem wilden, bräunlich grauen Barte aus wie ein unerlöst vor sich hindämmernder Waldbruder.

Er magerte ab, aber die Haut wurde nicht faltig, sondern straffte sich; das Gewebe wurde fest, alles Schlaffe und Brüchige wandelte sich zu einem Neubeginn. Der Arzt hütete sich, den heilsam dumpfen Zustand voreilig mit Gesprächen, Nachrichten, Lektüre oder gar Radio zu verscheuchen. Der Appetit des Kranken regte sich. Er genoß ohne Erstaunen, was ihm vorgesetzt wurde, und es waren Gerichte, über die er früher gelächelt haben würde. Da gab es zum Beispiel den Seim aus frischgequetschter Leinsaat und eben gepflückten Erdbeeren mit honiggesüßter Mandelmilch, vor seinem Bette gemischt und mit einem Glaslöffel verabreicht. Oder einen schmackhaften warmen Brei aus roh geriebenen Kartoffeln, gewürzt mit Schalotten- und Rettichsaft und feingehackter Petersilie. Oder auch Yoghurt mit rohem Himbeermus. Später gab es in Olivenöl gebackene, mit Schnittlauch, Selleriekraut, Majoran, Zwiebeln und einem Eigelb bereitete halbrohe Kartoffelpuffer, dazu Salatbeigaben aus geriebenen Möhren, Roten Beeten und Sauerkraut in anregend winzigen Portionen reizvoll serviert. Gesalzen wurde mit Meereswasser, das von der Nordsee aus gehöriger Tiefe gefiltert in Flaschen bezogen wurde. An Getränken verabreichte man Tidemunt den unvergorenen Saft schwarzer Johannisbeeren und abwechselnd Melissen-, Lindenblüten- und Hagebuttentees, mit Zitronen- und Honigbeigabe schmackhaft gemacht, aber auch bald ein morgendliches Glas kalt angesetzten, gewärmt gereichten Auszugs aus getrockneten vorjährigen Wermutrispen, das er ohne Wimperzucken nahm, als sei es ein bitteres Bier.

Nach sechs Wochen konnte Tidemunt ohne Gefahr geröntgt werden. Sichtbare Veränderungen der Magen- und Darmwände waren nicht mehr auffindbar. Die Ausheilung vorhanden gewesener Geschwüre oder Zerfallstellen schien vollkommen. Er nahm diese Botschaft ohne Bewegung auf. Merklicher traf ihn die Weisung des Arztes, nunmehr den halben Tag außerhalb des Bettes zuzubringen. Doch ganz unbehaglich berührte ihn, für ein Jahr, besser jedoch für immer das Rauchen aufgeben zu sollen.

„Sie werden mir auch meinen Rotspon noch verbieten wollen, Professor“, knurrte er.

Der Arzt lächelte: „Ich ahne nicht, wie lange Sie noch leben wollen. Die nächste Flasche Rotspon könnte Sie unversehens an der Schattenschwelle, die Sie jetzt überschreiten, für immer zurückhalten. Sie sind fast so entgiftet wie ein Bergbauer im Hindukusch. Ein Glas Schnaps würde wie ein Uppercut hinhauen, eine Kanne Mokka Sie lähmen, ein Päckchen Lucky Strike Sie töten.“

„Haben Sie sonst noch Rezepte?“ fragte Tidemunt argwöhnisch.

„O ja!“ lachte der Arzt und begann, eine höchst delikate neuartige, doch nicht gänzlich fleischlose Speisenfolge zu entwickeln.

Tidemunt blickte aus dem Fenster. Die Sonne schien, von irgendwoher klang Musik; es klang wie eine Flöte. „Sie geraten ins Fanatische, Professor“, knurrte Tidemunt und lehnte sich horchend aus dem Fenster.

„Ganz recht“, nickte der Arzt, „ich bin dabei, den Ast abzusägen, auf dem mein Einkommen blüht.“

Tidemunt drehte sich um:

„Und was würde genügen, bis ich mir eine Köchin oder einen Gastwirt soweit dressiert habe, Professor?“

„Wenig genug, mein Lieber. Morgens Obst, Nüsse, Brot und Butter. Mittags Blattsalat, gedämpfte Gemüse, Kartoffeln mit der Schale. Abends Obst und saure Milch. Nie zuviel, und gut kauen!

Und ein gelegentlicher Fastentag. Über allem aber eine unerschütterliche Gelassenheit und ein regelmäßiger ‚Kabinettsgang‘. Damit können Sie neunzig Jahre alt werden, selbst wenn Sie dann und wann ein mageres Stück Fleisch hinzufügen oder gar, nicht so bald, einmal kräftiger sündigen. Trinken? Wie Sie es hier gewohnt waren oder auch nur einwandfreies Wasser und stets nur zwischen den Mahlzeiten. Und da Goethe schon die Suppen verachtete wie ebenso den Kaffee ...“

„Aber nicht den Wein, Professor.“

„Zu Zeiten doch ahnte ihm auch das. Ohne Karlsbad wäre ihm aber selbst der gute Rheinwein, den er im Alter bevorzugte, noch schlechter bekommen.“

„Und wie, Herr Professor, ist es mit ...?“

„Mit der Liebe? ... Oh, die Liebe geht zwar durch den Magen, aber sie wirkt nicht auf ihn zurück.“

Tidemunt blickte lächelnd in die Weite. „Was ist das für ein Gebirge?“ fragte er. Die Landschaft war ihm bislang kaum ins Bewußtsein gedrungen.

„Nichts über achtzehnhundert, Hochgern, Kampen, Wendelstein, aber dahinter Watzmann, Salzburgisches und Tirolisches, und steigen Sie hinauf, sehen Sie den Großglockner und Großvenediger.“

Tidemunt schien zu erwachen. „Es weht über Süd“, murmelte er. Er lauschte. Schrie ein Dampfer? Hohl, fern und unbedeutend? aber wirklich. „Ein Dampfer ...?“

Der Arzt nickte.

„Der See liegt keine halbe Stunde von hier. Es wird noch viel für Sie zu entdecken geben, Herr Oberbaurat.“

In Tidemunt brodelte Bild und Lärm des verlassenen nördlichen Hafens. Viel zu entdecken?

Er fand sich unversehens an einen Zeichentisch voll wirrer, mit Blaustift überkreuzter Pläne gerückt, und der Arzt schien gewandelt in einen gewissen, aus ferner Verblaßtheit deutlich werdenden, den grauen Spitzbart wie ein Zepter umklammernden schmächtigen und allmächtigen Stadtbaumeister, und dessen Stimme klang sanft, ironisch und überzeugend und füllte das Zimmer und schwang durchs Fenster in den Himmel: „Das Gewicht des Vergangenen wird leicht, wenn ein neuer Tag die Flügel regt.“

Tidemunt fröstelte es, als trete er in Morgenfrühe aus einem dunkeln Haus. Der Hafenlärm verscholl. Die Berghäupter sahen ernst zu ihm herüber. Ein Buchfink zwitscherte sanft. Oder wars ein verwehter dünner Flötenton?

Die Sonnenflöte

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