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ОглавлениеTidemunt blieb lange bewußtlos. Die Magenblutung wurde mit Gelatinespritzen, Eisauflagen und Opiaten bald gestillt. Der Leidende hatte fast die Hälfte seines Blutes verloren, und da das Herz sich als überempfindlich und die Kranzgefäße als gefährdet erwiesen, ein Durchbruch der Magenwand aber nicht anzunehmen war, sah man von einer Operation ab. Der leitende Arzt, ein geachteter Chirurg, hätte wohl lieber das Messer gerührt, als sich auf ein Diätexperiment einzulassen, wie es von fortschrittlichen Kollegen hier und da mit kaum glaublichen Erfolgen angewandt wurde.
Nach vier Tagen strikter Rückenlage und völligen Fastens erhielt der immer noch halb Bewußtlose als erstes einen Teelöffel lauwarmen Kamillentees. Es schmeckte ihm wie ein nirgends einordbares Wunder. Der Kranke blickte die Schwester, die sich über ihn neigte, grübelnd an, als suche er nach einer Erinnerung, schien es aber bald aufzugeben. Zwischen den Krampfanfällen, die sein Inneres mit ungeheuren Greiferzähnen packten und es in zwei Spiralen umeinanderdrehten, lag er in brütenden Schwebeträumen. Doch stach der Zustand der Schmerzen so höllisch davon ab — kein zuträgliches Linderungsmittel schlug an —, daß er wie ein Ungeheuer brüllte und dem Hause ein Schrecken und eine Last war.
Allmählich aber verebbten die Krämpfe, wurden seltener und erträglicher. Statt der üblichen Schonkost aus in Milch gekochten Weißmehlpräparaten, versuchte man es mit frischgepreßten rohen, doch leicht erwärmten Obst-, Gemüse-, Kräuter- und Kartoffelsäften, und es ergab sich, daß die natürlichen Kräfte zu Abstoß und Aufbau ermunternd davon angeregt wurden, jene Kräfte, die unter den üppigen Speisekarten mitteleuropäischer Verkochkunst verschüttet und betäubt lagen. Die robuste Anlage des Patienten hatte den fröhlichen Giften jener verbreiteten Getränke, die sich zwielichternd geistig nennen, und dem teerfarbenen Sud, der sich aus den duftreichen Schwaden der Tabakbolzen ins Innere schlägt, nur scheinbar so lange standgehalten. Die Krisis hatte sich seit Monaten und Jahren angebahnt. Ein Übermaß von Anstrengung hatte sie verzögert, aber auch verschärft, heftige Anreizmittel sie vernebelt, und durch ein wenig Kummer und die jähe Einsicht, nicht mehr auf der Höhe zu sein, sondern gänzlich versagt zu haben, war sie ausgelöst worden.
Der Arzt hatte eine eigene Ansicht über derartige Fälle. Er hielt den Zusammenbruch, abgesehen von seiner Heftigkeit, für normal, als ein Klimakterium des Mannes und mehr des Geistes als des Körpers. Die Krisis mochte im allgemeinen in den gleichen Jahren liegen wie bei Frauen, aber — weniger beachtet — zumeist unauffälliger verlaufen; jenes plötzliche Absinken der Leistung gegen Fünfzig.
Es ist das Stadium der Schattenschwelle, wo oft auf weite Strecken das innere Licht zu flackern beginnt und in Gefahr gerät, gänzlich zu verlöschen, bis es sich, so es die Gnade will und die körperliche Verfassung in gleichem Ablauf ein Stirb und Werde durchmacht, zu neuer Leuchtkraft erhebt. Es ist die naturnotwendige Zwischenzeit, eine zwangsläufige Pause und Erholung, die, nicht genügend erkannt und berücksichtigt, der menschlichen Schwachheit nachgibt und in die Ewigkeit mündet.
Es ist die Zeit, da die Sonne über den Mittagspunkt hinabgerückt ist. Nach den Mühen des Aufstiegs scheint der Weg endlich bequem und eben dahinzulaufen, von Erfolg umblüht, von freundlichen Aussichten begleitet. Da fällt jäh ein Schatten darüber hin. Der Auslöscher steht vor der Sonne und blickt den Wanderer abschätzend an, wie rüstig er sei, wie gefeit und gewappnet, den Schritt durch den Schatten zu tun, den Schritt über die Abgrundschwelle, den Gang durch eine aussichtslose Öde und Verlassenheit. Wird die Sonnenpforte sich noch einmal öffnen? Wird die Kraft unverbraucht genug sein, den Schattengang durchzuhalten und noch einmal auferstehen in die besonnte Luft des irdischen Daseins, gesammelt zu Reife und herbstlicher Frucht?
Tidemunt genas äußerlich rasch. Doch dauerte es Wochen, ehe er ein Wort sprach. Zumeist starrte er auf die höchste Fensterecke, wie gebannt von dem wechselnden Aussehen des Himmels. Er lag, allmählich vollbärtig, in die Weiße des Lagers vergraben wie einer, den eine Lawine verschüttet hat und der, mühsam gefaßt und nichts als Lauschen, auf das Herannahen von Hilfe wartet. Vom Hospital hatte man nicht unternommen, irgendwelche Anschriften, wie sie aus der Brieftasche des Eingelieferten sich wohl ergeben hätten, zu benachrichtigen. Man hatte das Erwachen des Ohnmächtigen abgewartet und ihn dann in einer schmerzfreien Minute gefragt, ob und wohin man in seinem Namen schreiben solle. Eine Weile hatte er nachgedacht und dann den Kopf geschüttelt.