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Tidemunt war drauf und dran, sich in diesem Augenblick davonzustehlen. Er fühlte, sein Gesicht hatte die Fähigkeit verloren, freundlich auszusehen. Da jedoch öffnete sich die Tür, Licht ergoß sich, und seine Frau stand da, groß und füllig, dunkel auf goldenem Grund. Ihre Figur hatte sich mit den Jahren der seinen aufs dekorativste angeglichen. Das hatte er oft gepriesen. Nun schien sie erschreckend aufzuragen, und ein halb unterdrückter Aufschrei war vernehmbar. Tidemunt spürte, es klang nicht echt. Er hörte heraus, daß sie ihn längst bemerkt, und sei es durch den Duft der schwarzen Corona, der sich zu ihr durchs Schlüsselloch gefädelt hatte. Nun schaltete sie auch die Lampen des Wohnzimmers ein. Hier war nichts zu verbergen. Sie war in einem grauen soliden Jackenkleid. Als erwache sie aus einer Hypnose, blickte sie auf ihre Armbanduhr und verglich sie mit der Standuhr auf der Kredenz. Dann blickte sie fassungslos auf den ungedeckten Tisch. Es war, als erröte sie vom Kinn herauf, wo der Druck der Geige eine Spur hinterlassen. Sie schüttelte den Kopf, ihr Haar tanzte verwirrt, noch immer strohfarben wie einst. Tidemunt empfand einen trockenen Schmerz unterm Zwerchfell. Sie war im Reisekleid, sie wollte sichtlich von dannen. Er sah es, und sie wußte, daß er es sah. Es war nichts darüber zu reden. „Perchta“, sagte er darum so leichthin und so rasch es ihm von der Zunge wollte: „Am einfachsten gehen wir jetzt irgendwo essen.“

Ihre Züge belebten sich. Ihre runden blassen Augen irrten an ihm vorbei an die vom Dunkel entblößten vier Wände, entlang an dem mancherlei Kleinkram, der aufgescheucht umherstand und umherhing, allerlei exotisches Schnitzwerk, Bastgeflecht, Negerfetische, Amulette, wunderliche Gefäße, Waffen, Löffel und Bootsriemen, was alles um so fremdartiger wirkte, als die Möbel des Raumes äußerst schlicht und einige Ölbilder höchst impressionistisch anmuteten. Tidemunt griff mit einem Ruck ins Jackett und zog einen vergilbten zierlichen Elefanten aus Elfenbein hervor. Er lobte die frühe indische Arbeit und äußerte angestrengt, es handle sich um ein glückbringendes Symbol übermenschlicher Kraft.

Dann schob er das Mitgebrachte zart und bedeutsam über die blanke Ahornplatte des Tisches zu ihr hin, so, als ziehe er eine Verbindungslinie auf dem Reißbrett nach.

Die Geigerin achtete nur flüchtig auf seine Bewegung und sagte, wie sie es so oft gesagt hatte: „Das ist lieb von dir, Arnus.“ Und fuhr dann ohne Übergang klagend fort: „Du mußt verzeihen, wenn du dich heut vernachlässigt findest. Ich war so versessen, das D-dur-Konzert endlich sauber hinzukriegen, aber dieser dritte Satz ...“

Sie stockte, an Tränen schluckend, und er warf begütigend ein: „Allegro giocoso, Perchta, nimms scherzhaft, wie es sein soll! Was schuftest du dich damit ab? Willst du auf Tournee oder wohin geht sonst die Reise?“

Sie fiel ihm ins Wort: „Mir ist nicht scherzhaft. Immer sitz ich hier und warte, und dann kommst du, schlingst dein Essen hinunter und gehst wieder.“

„Und gerade heute wollte ich ...“ Er brach ab, sie nicht zu kränken, brummelte verlegen, er müsse tatsächlich bald wieder ins Büro.

„Mag sein, Arnus“, entgegnete sie: „Heute zufällig wolltest du vielleicht einmal daheim sein, das hast du oft gewollt; aber dann, selbst wenn es möglich war, dich mit ins Theater oder ein Konzert zu lotsen und ein bißchen Nachfeier oder Besinnung fällig gewesen wäre, dann fiel dir plötzlich spät noch etwas ein, irgendeine Kurve, die geändert werden mußte, ein Sandhaufen, der anders zu berechnen war, und du sahst und hörtest nichts mehr und murmeltest kaum eine Entschuldigung und hetztest zurück in dein Amt mitten in der Nacht, und wenn du nach Stunden wiederkamst, warst du mürrisch und zu Tode erschöpft und schliefst hier im Sessel ein, indes ich schon lange schlief oder nicht schlafen konnte und aufwachte oder noch wach lag und dich mit Mühe zu überreden hatte, dich vernünftig niederzulegen. Und früh ging dann die gleiche Hetze von neuem los, Tag für Tag, Woche für Woche, kaum daß ein Sonntag dir notgedrungen etwas Interesse für deine Wohnung oder gar für mich abnötigte ...“

„Ich weiß, Perchta“, murrte er zerknirscht, hob dann aber die Stimme, kam ihr einen Schritt näher, hob auch die Hände ein wenig, diese Hände, die sie zu lieben immer vorgegeben hatte, denn sie waren feiner, als sie eigentlich zu seiner massigen Erscheinung paßten. „Aber jetzt ist es geschafft, mein Deern, nur noch ein paar Nichtigkeiten sind durchzupauken, und auch das ist für die Katz. Die Bagger sind schon beordert, ich werde mich an Ort und Stelle noch einmal von den abgesteckten Vermessungen zu überzeugen haben; es ist alles auf dem Sprung zu beginnen, damit ich endlich einmal Ferien machen kann.“

„Das hast du schon vor einem Jahre gesagt, Arnold“, erwiderte sie, und da sie seinen Namen nicht wie gewöhnlich abwandelte, ermaß er ihre Entschlossenheit, sich nicht zurückhalten zu lassen. Seine Hände, noch eben bereit, sie so zärtlich als besitzanzeigend an den Schultern zu packen, sanken bleiern nieder, indes sie hastig fortfuhr: „Und so wird es immer weitergehen. Du wirst verstehn, daß ich endlich einmal einen anderen Inhalt brauche, als nur von fern und immer ferner von deiner Arbeit zu hören.“

„Ich wollte dich damit verschonen“, antwortete er dumpf.

Sie lachte trübe auf. „Ich weiß, du meinst, ich habe keine Ahnung, und wirklich ist es mir auch gleichgültig, ob der neue Hafen drei oder zehn Kilometer lang wird und die Kaimauern aus Basalt oder Beton oder grünem Käse bestehen. Ich habe keinen Hafen, sondern dich geheiratet.“

„Das ist dasselbe“, knurrte er hilflos.

„Das hast du mir anfangs zu verschleiern gewußt“, sagte sie bitter: „Was bleibt mir denn übrig? Ich hab mich notgedrungen auf meinen Hafen besonnen, und das ist die Musik, und mein Schiff die Violine. Aber hier, in diesem verärgert mithorchenden Haus und in diesem Leerlauf des vergeblichen Bereitseins für dich und zwischen diesen von allen Börtern und Wänden grinsenden Abgeltungen deiner Verbundenheit und dem kalten Andenken deines Zigarrenqualms, hier kann ich nicht spielen, kann nicht üben, kann nicht, kann nicht ...“

Sie begann verhalten zu schluchzen, und dann, im Takt der erstorbenen Geigenschreie, versetzte sie hastig: „Das ist es, dein Mißtrauen, das bedrückt mich all die Jahre schon. Immer hast du von meinem ersten Konzert geschwärmt, bis ich fürchtete, nie wieder so gut spielen zu können und mir selber nichts mehr zutraute und es schließlich ganz aufgab. Aber nun, wo ich in meiner Verlassenheit mein Instrument wieder hervorgeholt habe, da will und muß ich es noch einmal zwingen. Hörst du? Ich muß es noch einmal zwingen, so wie damals, vor zwanzig, vor dreiundzwanzig Jahren.“

Tidemunt, mit niedergeschlagenen Augen, knurrte etwas Trostwilliges. Sie aber blickte ihn an, als wolle er sie hindern, und als spreche sie mit sich selber, sagte sie: „Und darum fahre ich jetzt zu meinem alten Lehrer nach Salzburg. Da wird sich hier jemand freuen, endlich ohne Uhrzeit und Heimweg und Trost-Souvenirs und hilflose Entschuldigungen irgendwo nach Belieben zu essen und meinswegen im Büro zu übernachten.“ In Tidemunt schoß ein Unwetter hoch. Er zwang es nieder und lachte gutmütig: „Aber Perchta, bloß wegen der albernen Doppelgriffe und Dissonanzen ...“

Nun senkte sie die Lider und erwiderte schluckend: „Danach wird es vielleicht wieder weniger langweilig sein zwischen uns.“

Er versuchte, sie zu packen, aber sie wandte sich ab, ging an den kleinen Tisch, wo das Telefon stand, wählte nervös und bestellte eine Taxe. Ihre Stimme war gefestigt. Danach sagte sie über die Schulter hin: „Du wirst verstehen, daß ich deinen Amtswagen nicht privat benutzen möchte.“

„Er ist auch schon weg“, sagte er abgekühlt. Er starrte auf die Asche seiner Zigarre, machte eine Handbewegung, als suche er eine Notbremse, setzte sich dann ächzend wieder in den Sessel. Sie schien auf einen Zornausbruch oder eine Tirade zu warten. Jetzt ein gutes, hartes, klares, erlösendes Wort, dachte er, und sie bleibt. Aber er vermochte das rechte nicht zu finden. Und dann sagte sie, und ihre Stimme zitterte ein wenig: „Vielleicht hast du auch schon längst Ersatz.“

Er schnaufte betroffen. Sie ließ ihm keine Zeit zur Entgegnung. Ein letztes Ventil war gelockert, eine letzte Scheu verflog. Sie warf ihm vor, sein Herz hafte zumindest an irgendeiner Vergangenheit, an ihrer früh verstorbenen Vorgängerin, an der Tochter, die in Kanada geheiratet hatte, an dem Sohn, der aus dem Kriege nicht heimgekehrt war. Und sie beklagte sich — was sie nie zuvor getan — selber keine Kinder zu haben, und warf ihm vor, daß er es nicht entbehre und womöglich bewußt schuld habe.

Tidemunt ließ alles über sich ergehen. Er saß geduckt und regungslos in der Zange der Sessellehnen. Sie schien noch lange nicht zu Ende, indes Tränen über ihre Wangen liefen, aber da schrillte das Telefon, und sie nahm, jäh abbrechend, den Hörer. Tidemunt vermeinte, in der näselnden Muschel ein männliches Organ zu vernehmen. Er hörte seine Frau mit veränderter, mit freundlicher Stimme antworten: „Ja, ja, gut! Zum nächsten Zug bin ich bestimmt rechtzeitig da.“

Danach, ohne das klagende Gespräch fortzusetzen, beeilte sie sich, vorm Spiegel nebenan die Tränenspuren zu tilgen. Zwängte dann die Geigenschachtel in eine graue Regenhülle, setzte einen Hut auf, einen schlichten, aber neuen braunen Filz. Ihr Mann hatte sich wiederum erhoben. Er wollte ihr in den Mantel helfen, kam aber schon zu spät. Man vernahm von der Straße herauf das gellende Taxisignal. „Du trägst mir den Koffer wohl eben hinunter?“ bat sie geschäftig.

Es war kein großes Gepäck. Sie kommt bald zurück, dachte er, und ihm war, als sei er belauert von der fremden Stimme im Telefon. „Hast du denn deine Fahrkarte?“ fragte er: „Und wie ist es mit Geld?“

„Du denkst plötzlich an alles“, lächelte sie, nahm die Geige und ging hinaus. Schon auf der Treppe sagte sie: „Sogar Schlafwagen. Der kleine Lorns hat alles besorgt. Er hat ein paar Bilder an die Amerikaner verkauft und legt es erst aus. Er fährt sowieso nach München, zur Ausstellung.“

Der kleine Lorns war einer ihrer Schüler gewesen, hatte aber umgesattelt. Tidemunt hatte Gemälde von ihm im Kunstverein bewundern müssen, hatte auch eine Landschaft zu Bertas Geburtstag gekauft, und sie hing im Schlafzimmer. Die wilden Meeresstrandstudien im Wohnzimmer waren seine eigenen frühen Erzeugnisse.

Im Hausflur, dort, wo die Töne der Geige dem nach Hause Kommenden so zirpend begegnet waren, drehte die Künstlerin sich leichthin um. „Ich wollte es dir erst im letzten Augenblick sagen, Arnus; wollte dich nicht in deiner Arbeit stören, hätte dir auch lieber einen Zettel hingelegt, als so mit dir zu streiten, und fast hätte ichs überhaupt verschwitzt, wenn du nicht so unversehens gekommen wärst.“

Tidemunt gab den Koffer an den Taximann. Dann sagte er höflich: „Gestritten haben wir nicht, wir waren einseitig deutlich, Berta. Aber ich bring dich trotzdem zum Bahnhof und kann dann gleich weiter ins Büro. Geld schicke ich dir nach Salzburg auf die Post.“

Sie versetzte rasch: „Nein, heute bleibst du zu Haus, gehst in die Küche, dort steht alles, was du für ein vernünftiges Abendbrot brauchst, und Tee steht noch warm auf der Heizung und eine Flasche Bier in der Speisekammer. Nun ... leb wohl und grüß deinen Hafen!“

Sie kam dicht an ihn heran, schob den Schleier hoch, legte die behandschuhte Rechte auf seinen Arm, schnupperte, als wolle sie seinen Tabakduft mit auf die Reise nehmen, und hauchte einen Kuß an sein Ohr hin, stand dann eine Sekunde wie versteint, so, als verpresse sie ein lautes Aufweinen. Schon war er im Begriff, sie ungeachtet des Taxikutschers an sich zu reißen, da löste sie sich, sagte leise und bitter: „Daß es so weit kommen mußte ...“ und verzog sich, den Geigenkasten wie einen Schild vor sich haltend, rücklings in den Wagen.

Die Sonnenflöte

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