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Paris

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Priese kam am Gare du Nord an und erinnerte sich an früher, als er schon mehrere Male dort gewesen war. Irgendetwas war anders, und er merkte sofort, dass der Grund einfach der war, dass er älter geworden war. Er lief langsam vom Gare du Nord zum Gare de l´Est und wartete, bis sein Zimmer im Hotel Ibis fertig war. In der Zwischenzeit trank er einen Espresso und schaute sich am Boulevard de Strasbourg die Leute an. Das Wetter war sehr gut, man konnte im Hemd draußen herumlaufen. Als Priese an der Rezeption alles klargemacht und auf sein Zimmer gegangen war, wusch er sich Gesicht und Hände und ließ sich auf sein Bett fallen. Er war so müde, dass er sofort eingeschlafen, wenn er nicht wieder aufgestanden wäre und den Bus zum Etoile genommen hätte. Die Buserfahrung hatte er früher nicht gemacht, es war schön, oberirdisch zu fahren und alles sehen zu können, das wurde allerdings erkauft durch eine endlos lange Fahrzeit. Schließlich erreichte er den Etoile und sah den Triumpfbogen. Er bog in die Champs-Elysees ein und setzte sich vor das Restaurant „Brioche Doree“, um eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken. Auf der Champs-Elysees war, wie nicht anders zu erwarten, der Teufel los. Priese lief die ganze Prachtstraße entlang bis zum Place de la Concorde, die Sonne war inzwischen schon fast zu warm. Nach kurzem Überlegen entschloss er sich, zur Pont de Grenelle zu fahren. Die Pont de Grenelle war eine Brücke, auf der er schon vor 50 Jahren einmal gestanden und ein Foto von sich gemacht hatte. Priese wollte auf der Brücke jemanden ansprechen, der ihn an der gleichen Stelle fotografiert wie damals schon. Bis er aber auf der Brücke stand, verging eine Zeit, er war in „Javal“ aus der Metro ausgestiegen und musste zur Toilette zu einer Tankstelle zurück.

Danach musste er eine Brücke zurücklaufen, und plötzlich stand er auf der Pont de Grenelle. Es war aber nicht so, dass ihn mit einem Mal Wehmut befiel, vielmehr fragte er die nächste Passantin, ob sie ein Foto machen könnte. Priese musste sich auf die andere Seite stellen und warten, bis die vielen Autos eine Lücke ließen, die hatte es damals noch nicht in der Zahl gegeben. Im Anschluss lief er zur Bir-Hakeim-Brücke, um mit der Metro zunächst zum Montparnasse-Bahnhof zu fahren – eine höllisch weitläufige Umsteigestation, er hätte es noch wissen müssen – dann wollte er in Richtung Port Clignancourt fahren und am Gare de l´Est aussteigen. In der U-Bahn war aber die Station Gare de l´Est durchgestrichen, weil sie dort aus welchen Gründen auch immer nicht halten würde. Also fuhr Priese bis „Chatelet“, von dort bis zur „Bastille“ und dann mit der Nr. 5 Richtung Bobigny zum Gare de l´Est. Es war mittlerweile 18.00 h geworden, Priese setzte sich vor die Kneipe neben dem Hotel und trank zwei alkoholfreie Biere. Er war so geschafft, dass er um 19.30 h hoch auf sein Zimmer und ins Bett gegangen war. Das Zimmer war sehr gemütlich und modern ausgestattet, es hatte sogar ein eigens zum Aufladen von Camera, Handy usw. vorgesehenes Bord, auf dem man die Geräte über Nacht ablegen und aufladen konnte. Priese schlief sofort ein. Am nächsten Morgen wurde er um 8.45 h wach, duschte und ging frühstücken, und das Frühstück war erste Klasse, mit allem, was man erwartete. Priese nahm sich für diesen Tag einen Spaziergang durch Saint- Germain-des-Pres vor und wollte anschließend in den Jardin du Luxembourg gehen, wie das in seinem Reiseführer vorgestellt wurde.

Er war bei seinem ganzen Parisaufenthalten, die er hinter sich hatte, noch nie auf der Rive Gauche gewesen und wollte das an diesem Tag nachholen. Er nahm die Metro Nr. 5 nach Port d´Italie und stieg an der Gare d´Austerlitz um in die Nr.10 nach Boulogne, mit der fuhr er bis Odeon. Er war sofort auf dem Boulevard Saint Germain inmitten der vielen Touristen, aber er war ja selbst auch einer. Das Wetter und die Stimmung waren sehr gut und es ließ sich ausgezeichnet laufen, immer den Plan vor Augen. Priese lief die Rue Bonaparte entlang bis zum Quai de Conti, dann bis zur Pont Neuf. Er ging nach rechts in die Rue Dauphine und die Rue Odeon in den Jardin de Luxembourg. Dort setzte er sich bei Sonnenschein hin und trank einen Kaffee für 5.20 Euro. Der Park war voller Menschen und Priese schaute und schaute. Er machte einen überschaubaren Eindruck, so wie man das von dem Cafe aus beurteilen konnte. Anschließend lief Priese zur Kirche St-Sulpice mit der angeblich größten Orgel Frankreichs. Er ging um den Kirchenraum herum und danach wieder auf den Boulevard Saint Germain. Statt an der Station Odeon wieder in die U-Bahn zu steigen, lief Priese weiter bis zum Boulevard Saint Michel und setzte sich am Place Saint-Michel vor ein Cafe.

Im Anschluss lief er auf die Ile de la Cite an der Notre Dame vorbei bis zur anderen Seine-Seite und stieg an der Station Cite in die Metro. Er fuhr bis Reaumur-Sebastopol und stieg dann in die Linie 5, aber zum ersten Mal in seinem Leben fuhr er in die falsche Richtung und stieg Oberkampf wieder aus. Da er keinen Ticketautomaten für die Rückfahrt fand, ging er zu Fuß zurück über den Place de la Republique in den Boulevard de Voltaire. Dort nahm er in einer Boulangerie ein Sandwich und einen Kaffee und lief anschließend weiter. Der Place de la Republique war wunderschön und war Priese vorher noch nie aufgefallen. Es war eine Menge auf dem Platz los, irgendein Skaterwettbewerb fand dort statt. Im Anschluss lief Priese den Boulevard Magenta entlang bis zum Gare de l´Est und ging auf sein Zimmer, um ein Schläfchen zu machen. Nach einer Stunde wurde er von einem Feueralarm geweckt und stand auf, um zum Place de la Republique zu fahren und etwas zu trinken. Es war für Priese interessant zu sehen, mit welcher Hingabe die Leute den Darbietungen der Skateboarder folgten, und die Skateboarder fielen immer wieder hin, um dann wieder aufzustehen und es von Neuem zu versuchen. Am nächsten Morgen gab es wieder das üppige Frühstück und Priese aß, was das Zeug hielt, es musste schließlich für den ganzen Tag reichen. Danach ging er zur Metro, Priese wollte sich an diesem Tag das Marais-Viertel ansehen und fuhr mit der Nr. 5 bis Bastille und anschließend mit der Nr. 1 bis zum Hotel de Ville. Dann folgte er dem vom Reiseführer vorgeschlagenen Weg durch das Viertel.

Sehr schön und interessant fand Priese das Pletzl, das jüdische Viertel in der Rue Roziers. Nach mehreren Schlenkern am Musee de Cognac und am Musee Carnavalet vorbei landete er auf dem Place de Vosgees und trank dort einen Kaffee. Der Platz hatte in seiner Mitte einen Park und war rundherum eingefasst von Häusern mit Arkaden und machte deshalb einen wenig offenen Eindruck. Priese verließ den Platz und lief über die Rue Antoine und die Rue Francois Miron zum Hotel de Ville zurück. Von dort aus ging er nach rechts zum Centre Pompidou, wo er sich hinsetzte und etwas trank. Das Marais-Viertel war wirklich ein Viertel in Paris, das völliges Eigenleben zu führen schien, es wirkte wie ein kleines Dorf. Das Centre Pompidou war unverändert geblieben, zuletzt war Priese vor 40 Jahren dort gewesen, als er Referendar gewesen war. Er fasste den Entschluss, zunächst zum Hotel zu fahren und zu versuchen, das Fußballspiel Deutschland gegen Mexiko zu sehen. Vorher kaufte er bei Mc Cafe zwei Croissants und aß sie in der Metro. Er überlegte, was er am Morgen seines Abreisetages noch unternehmen könnte, er müsste seinen Koffer zur Aufbewahrung an der Rezeption abgeben und dann vielleicht noch einmal nach Saint-Germain-de-Pres oder ins Montmartre-Viertel zu fahren. Insgesamt fühlte sich Priese in der großen Stadt sehr wohl, obwohl sein Französisch nicht gerade ausgefeilt war. Er hatte das Gefühl, dass sich seit seinem letzten Besuch etwas geändert hatte, auch mit Englisch kam man inzwischen zurecht, wo die Franzosen sich doch früher geradezu dagegen gesperrt hatten, Englisch oder sogar Deutsch zu sprechen.

Man war entgegenkommender geworden, die Jungen waren nachgewachsen und hatten die Alten verdrängt, die zum Teil noch die Kriegserfahrung mit sich herumschleppten. Das Gleiche galt für andere kriegsbeteiligte Länder auch, zum Beispiel für Holland, wo Priese früher schlechte Erfahrungen machen musste. Aber natürlich hatte er Verständnis für die Antipathie, die Holländer und Franzosen gegen die Deutschen hatten. Das war nicht die in Deutschland verbreitete Haltung, und diese Erfahrung musste Priese machen. Der Umgang mit der Kriegsschuld war durchaus unterschiedlich ausgeprägt, viele erkannten sie gar nicht an, das waren die Unbelehrbaren, meistens Alten. Andere sahen eine deutsche Kriegsschuld, meinten aber, dass man das vergessen sollte, was im Ausland auf kein Verständnis stieß. Prieses Haltung dazu war, dass man als Deutscher die Kriegsschuld auf sich laden musste, auch wenn man selbst nicht am Krieg beteiligt war, so lange es etwas an Ressentiments gab, musste man dem so begegnen, wer sollte denn sonst die Kriegsschuld auf sich laden? Die Ressentiments mussten aber echt und nicht von irgendwelchen fehlgeleiteten Jugendlichen in die Welt gesetzt worden sein, auch das gab es. Solche Jugendliche versuchten ohne Gewissensbisse die Hasstiraden gegen Deutschland fortzuführen, besonders bei Fußballspielen gegen Deutschland schrien sie sie lauthals heraus und zeigten sogar den Hitlergruß in aller Öffentlichkeit. Wie verdreht solche Haltungen bei Jugendlichen waren, zeigte das Beispiel Rotterdamer und Amsterdamer Fußballfans: Rotterdamer Fans imitierten mit Zischlauten das in die Gaskammern von Auschwitz einströmende Gas, das war gegen die Amsterdamer Spieler gerichtet, die das durchaus auch mitbekamen.

Solchen Jugendlichen musste man mit aller Härte entgegentreten, weil sie die Geschichte pervertierten. In Frankreich sah die Sache anders aus, dort traf man nicht solche Jugendlichen an, und die Erwachsenen, so sie Kriegsbeteiligte waren und noch lebten, hatten kein Interesse daran, solche Dinge wiederaufleben zu lassen. Etwas anderes war es mit der Geschichte der Juden im Nationalsozialismus, und Priese war im Marais-Viertel darauf gestoßen, es gab dort eine Ausstellung zur Geschichte der Shoa. Und die Juden lebten ein Leben für sich, abgekapselt vom übrigen Paris, mit Geschäften, in denen man koscher kaufen konnte. Priese hatte noch nie Gelegenheit, mit Juden über die Ausrottungspolitik Hitlers zu sprechen. Mit seinen Kindern hatte er darüber geredet und ihm wurde gezeigt, dass es für sie überhaupt keine Rolle spielte, ob in ihrem Bekanntenkreis Juden waren oder nicht.

Vielleicht würde Priese auch am nächsten Tag noch einmal zum Eifelturm fahren, um zu sehen, was sich dort verändert hatte. Wenn er am heutigen Sonntag das Fußballspiel gesehen haben würde, führte er vielleicht noch zum Place de la Republique. Den Platz fand er sehr einladend, und man konnte gut dort sitzen, etwas trinken und die Leute beobachten, er konnte länger still sitzen und in sich gehen.

Diese Fähigkeit besaß längst nicht jeder, Priese konnte Stunden so verbringen. Das lag daran, dass er schrieb, denn um zu schreiben brauchte es solche Überlegenspausen, in denen er Inhalte fantasierte oder Inhalte aus dem Gedächtnis grub, um sie danach zu Papier zu bringen.Oft sah es dann so aus, als wäre er geistesabwesend und nicht bei der Sache. Und tatsächlich, wenn man ihn dann sprach, zuckte er zusammen, als wäre er in die Wirklichkeit gerissen worden.

Das Spiel Deutschland – Mexiko wurde im Fernsehen übertragen und war auch recht spannend. Man hatte über weite Strecken aber den Eindruck, als würde der Kommentator zu Mexiko halten. Die Mexikaner waren in der Anfangsphase sehr schnell, jedenfalls schossen sie in der 35. Minute das 1:0. Es sollte bei diesem Spielstand bleiben, Priese hatte sich beide Spielhälften auf dem Zimmer angesehen. danach war er zum Place de la Republique gefahren und hatte sich die Szene angesehen. Anschließend fuhr Priese zurück und trank vor dem Nachbarhotel ein alkoholfreies Bier, danach ging er hoch.

Am nächsten Morgen gab es wieder das überaus reichhaltige Frühstück und Priese haute ordentlich rein. Er hatte sich vorgenommen, an diesem Morgen zur Sacre Coeur zu fahren und die Funiculaire auszuprobieren. Es war in der kleinen Straße, die zum Talpunkt der Seilbahn führte, der Teufel los, und die mit Abstand meisten Leute nahmen die Seilbahn. Das Wetter war an diesem Morgen schlecht und wegen des Regens war die Aussicht eingetrübt. Priese ging an der Taschenkontrolle vorbei in die Kirche. Er setzte sich für einen kurzen Moment zu einem katholischen Gottesdienst und spendete sogar 20 Cent. Dann begab er sich wieder nach unten, dieses Mal über die Treppen. Er nahm die Metro und fuhr nach Cite, um noch einmal in die Notre Dame zu gehen. Dort befand sich aber vor dem Eingang eine bestimmt 200 Meter lange Menschenschlange, man ging auf Nummer Sicher und kontrollierte jeden Besucher. Kurz setzte sich Priese auf dem Vorplatz zwischen die vielen Menschen und ging an sein sehr schweres Sudoku. Dann fuhr er zur Gare de l´Est zurück und holte seinen Koffer, mit dem er sich zum Gare du Nord aufmachte. Sein Paris-Aufenthalt war beendet, er dachte an seine Rückfahrt und befand sich plötzlich als Jugendlicher zu Hause im Garten bei der Arbeit.

Priese hatte während der paar Tage in Paris eine Menge Menschen beobachten können, die unterschiedlicher kaum hätten sein können. Es hatte sich aber kaum einmal die Gelegenheit ergeben, mit jemandem ein Gespräch zu führen. Er hatte sein Programm durchgezogen und war zufrieden, die Dinge gesehen zu haben, die er wollte. Die Menschen, die er beobachten konnte, waren entweder bettelarm, saßen auf dem Bürgersteig und hielten einen Becher hin, in den die Passanten Geld werfen sollten, oder sie waren reich, waren vornehm gekleidet und trugen zum Teil ihre Nasen hoch. Dazwischen gab es eine ganze Reihe von Leuten, die das Mittelmaß bildeten und unauffällig blieben. Das war schon immer so in Paris, seit Priese das erste Mal dort war.

Priese

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