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Beim BVB

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Priese hörte das laute Geschrei der BVB-Fans und blickte in völlig verzerrte Gesichter, die, je nach Spielverlauf, von Heulen zu Jubel wechselten und umgekehrt. Er sah über die Köpfe von mehr als 80000 Zuschauer hinweg und war fassungslos, aber so viele Zuschauer fasste das Signal-Iduna-Park-Stadion und war damit das größte Fußballstadion bundesweit. Von oben sahen die Zuschauer aus wie eine wogende Masse, die ab und zu eine La-Ola-Welle durch das Stadion laufen ließ.

Die Welle wurde vom Stadion-Sprecher akustisch verstärkt und ehe sich Priese versah, war er Teil der Welle und erhob sich von seinem Stadionsitz und setzte sich wieder, bis die Welle einmal um das gesamte Stadion gelaufen und erneut bei ihm angekommen war. Der BVB spielte gegen den FC Bayern München in der Signal-Iduna-Park-Arena, und es waren laut Stadionuhr nur noch wenige Minuten bis zum Anpfiff. Priese saß weitab vom Bayern-Block, darauf achtete man schon seitens des Kartenverkaufs, dass die Fan-Blöcke voneinander getrennt waren und an den Nahtstellen ein verstärktes Polizeiaufgebot zu finden war. Diese Nahtstellen waren neuralgische Orte, an denen man sich nicht so gerne aufhielt, denn es drohte immer eine Schlägerei zwischen den verfeindeten Fans. Die Begegnung BVB-FC Bayern München war seit jeher ein brisantes Aufeinandertreffen in der deutschen Fußballoberklasse, und sie wurde deutschlandweit und auch weltweit von geschätzten 80 Millionen Zuschauern am Fernseher verfolgt. Es spielten so bekannte Spieler wie Bürki, Bartra, Götze uind Schürle bei Dortmund und Lewandowski, Müller, Ribery und Boateng bei Bayern, wobei eigentlich auf beiden Seiten noch mehr Namen genannt werden müssten. Es war die 115. Begegnung zwischen beiden Mannschaften, und Dortmund wollte unbedingt in der Tabellenspitze bleiben, die Mannschaft lag 3 Punkte hinter Bayern auf dem 3. Platz der Tabelle. Um 18.30 h war Anpfiff in der Signal-Iduna-Park-Arena, und in der ersten Dortmunder Attacke rammte Götze Ribery zur Seite. Priese sah zum Bayern-Block und machte ein wütendes Geraune aus, das von wilden Wortgefechten der einen mit der anderen Seite begleitet wurde. Die Polizei versuchte zu schlichten, war natürlich aber, trotz starker Präsenz, in der Unterzahl, es bliebe abzuwarten, wann es zu Handgreiflichkeiten käme.

Wenn Ribery in Ballbesitz war, ertönten Pfeifkonzerte von den Rängen, sehr beliebt schien der Franzose nicht zu sein. Hummels, ein ehemaliger Dortmunder und jetzt bei Bayern, erhielt den Ball und erntete prompt wüste Pfiffe von den Dortmund-Fans. In der 7. Minute beging Lewandowski ein Stürmerfoul an Sokratis und bekam ein gellendes Pfeifkonzert zu hören, was den Polen allerdings kaum störte. Priese fand das Spiel ausgesprochen spannend und sah sich um: sehr viele BVB-Fans trugen Schals in Mannschaftsfarben, alle waren voll konzentriert und blickten auf das Spielfeld. Dort war weder von Götze noch von Aubameyang etwas Nennenswertes zu sehen, bis in die 11. Minute hinein: Götze passt flach im Zentrum zum völlig frei stehenden Aubameyang, der hielt im Fallen den linken Fuß rein und drückt den Ball so über die Torlinie - 1:0 für Dortmund. Priese musste sich beinahe die Ohren zuhalten, alle sprangen hoch, schrien, lagen sich in den Armen und jubelten, und das in einer unbeschreiblichen Lautstärke. Eine Ausnahmesituation, in der die Beteiligten Urschreie von sich gaben, wie sie sie sonst niemals in ihrem Alltagsleben von sich geben konnten, die Situation bot Gelegenheit, Trieben aus der Frühzeit der menschlichen Entwicklungsgeschichte zur Geltung zu verhelfen. Nachdem sich die euphorische Hochstimmung wieder gelegt hatte, und das Spiel längst wieder angepfiffen war, traute Priese sich, seinen Nachbarn zu fragen:

„Bist Du schon lange BVB-Fan?“

Der Sitznachbar hielt seinen Blick auf das Spielgeschehen gerichtet, antwortete aber:

„Meine ganze Familie ist schon seit Jahrzehnten Vereinsmitglied, meine Kinder sitzen auch irgendwo in der Arena!“ Nach einer Weile fragte Priese seinen Sitznachbarn zur anderen Seite:

„Bist Du schon lange BVB-Fan?“ und erntete bei ihm aber böswillige Abwehr:

„Lass mich doch mit solchen dummen Fragen in Ruhe, ich will mir das Spiel ansehen!“, und Priese hielt sich zurück. Er sah zum Bayern-Block, und da gab es fast ausschließlich versteinerte Gesichter, und niemand schien zu einer Regung fähig. Die Bayern lavierten nach ihrem Rückstand herum und gewährten zu viele Freiräume, Kimmich versuchte einen Angriff halbrechts, scheiterte aber an einem Dortmunder. Sokratis und Bartra riegelten ihren Strafraum ab und ließen keinen bayrischen Angriff durch, den Münchnern fiel nichts Weltbewegendes ein. Hummels schoss den Ball zu Lewandowski, der aber im Abseits stand. Ribery erhielt plötzlich etwas Raum im Mittelfeld, aber Sokratis stellte sich ihm entgegen und ließ ihn scheitern, der Grieche entwickelte sich während des gesamten Spiels zu einer Schlüsselfigur. In der 1. Hälfte waren die Dortmunder taktisch überlegen, die Bayern kamen immer druckvoller, stellten aber nie eine Torgefahr dar.

Priese ging in der Halbzeit eine Bratwurst essen und stellte sich neben mehrere Bayern-Fans, die auch an den Bratwurststand gekommen waren. Er bekam mit, wie sauer die Bayern auf die Dortmunder waren und ihnen gegenüber weniger schöne Bemerkungen abgaben. Fast wäre es am Bratwurststand schon zu einer Schlägerei gekommen, wenn nicht auch dort schon die Polizei gestanden und solche Ausschreitungen zu verhindern gewusst hätte. Gleich zu Beginn der 2. Hälfte bekam Aubameyang die Chance zum 2:0, scheiterte aber an Boateng und Neuer. Die Bayern wurden insgesamt aggressiver, am Ende fehlte aber immer das nötige Quäntchen Glück. Priese hatte sich am Ende der Halbzeit in den Gang zwischen den Dortmund- und den Bayern-Fans begeben und sich ganz oben auf die Stufen gesetzt, das wurde von den Polizisten nicht so gern gesehen, man ließ ihn aber. Er bekam so mit, wie sich das Klima zwischen den Fan-Blöcken immer mehr aufheizte. Direkt vor ihm warf ein Bayer eine leere Bierdose in den Dortmunder Block. Die Quittung war ein Retourwurf gegen die Bayern und so spitzte sich die Situation zu, die die Polizei anfangs noch im Griff hatte, die aber nach und nach dermaßen eskalierte, dass die Polizei, obwohl inzwischen weitere Kräfte hinzugezogen worden waren, dazu überging, einzelne Randalierer aus beiden Blöcken abzuführen und so die Lage zu entschärfen. In der 55. Minute schlenzte Müller den Ball zu Ribery, der ihn mit der Hacke ins Tor lancierte, er stand aber im Abseits, und es wurde abgepfiffen. Die Münchner begannen, das Spiel zu dominieren und machten immer mehr Druck, es fehlte aber immer noch der geniale Abschluss.

Vor Priese spitzte sich die Lage so zu, dass er überlegte, seinen Platz ganz oben zwischen den Blöcken zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen. Die Polizisten hatten mittlerweile ihre Schlagstöcke in der Hand und schlugen auch vereinzelt zu. Es entstand ein heilloses Gewusel, in dem die Polizisten unterzugehen drohten, Gruppen aus beiden Blöcken gingen aufeinander los und behakten sich. Priese war Augenzeuge, wie ein Dortmunder von 3 Bayern in die Mangel genommen wurde und Schläge einstecken musste, die vor allem gegen seinen Kopf gingen. Immer wieder schlugen die Bayern gegen seinen Kopf, bis der Dortmunder regungslos zu Boden ging. Herbeigerufene Sanitäter kümmerten sich um den Verletzten und trugen ihn fort. Dortmunder, die das Spektakel mitbekommen hatten, nahmen sich die 3 Münchner vor, wurden aber ihrerseits von anderen Münchnern angegangen. Inzwischen wurde auf dem Spielfeld in der 90. Minute eine 4minütige Verlängerung angezeigt, und Lewandowski und Müller liefen noch einmal zu Höchstform auf, konnten aber den Ball nicht über die gegnerische Strafraumlinie bringen. So verschwanden die Spieler in den Katakomben und ließen ein wütendes Bayernpublikum zurück. Während sich die Reihen in der Signal-Iduna-Park-Arena langsam zu lichten begannen, war die Schlägerei vor Priese noch nicht beigelegt. Die Polizei forderte über Megafone dazu auf, zur Ruhe zu kommen und das Stadion zu verlassen.

Sie bildete einen Cordon um jeweils eine der Fangruppen und führte sie getrennt aus dem Stadion. Die Bayern stiegen in ihre Busse und traten umgehend die Heimreise an. Die Busse wurden unter Polizeischutz bis zur Autobahn begleitet. Einige friedliebende Bayern blieben über Nacht in Dortmund und feierten sogar mit den Dortmundern zusammen. Borussia Dortmund hatte nach diesem Spiel 3 Punkte mehr auf seinem Konto und lag nun ebenso viele Punkte hinter dem FC Bayern München, der auf dem 2. Platz blieb. Die Freude war bei den Dortmundern natürlich riesig und es wurde in den Kneipen in Stadionnähe ordentlich gefeiert, und auch die wenigen friedlichen Münchner freuten sich. Für Priese war ein ereignisreiches Bundesliga-Spiel zu Ende gegangen, weniger vom Spielerischen her, als mehr von den Aktionen unter den Zuschauern her. Er war eigentlich gar kein so großer Fußball-Fan, fand aber seinen Aufenthalt in der Signal-Iduna-Park-Arena sehr spannend. Ihm stellte sich die Frage, wie sich Menschen so gehen lassen konnten, wie es die Bayern und Dortmunder aus den Fan-Blöcken getan hatten. Er war Zeuge, wie Beteiligte aufeinander losgingen, völlig ungehemmt, mit verwirrtem Blick, scheinbar zu allem entschlossen. Das Stadion bot die Kulisse für eine sanktionierte gewaltsame Auseinandersetzung, die vollkommen eskaliert wäre, hätte es den Einsatz der Polizei nicht gegeben. Priese schloss sich einem Pulk von Dortmundern an, die 3 Bayern in ihre Mitte genommen hatten und mit ihnen in die Kneipe zogen.

Er stellte sich neben die Bayern und bekam mit, wie sie sich mit den Dortmundern verbrüderten, dass sie einander zuprosteten und sich anschließend umarmten. So ging das bestimmt 2 Stunden lang, und es wurde ein Bier nach dem anderen bestellt. Am Ende waren alle so abgefüllt, dass niemand mehr in der Lage war, gerade zu stehen, geschweige denn ein vernünftiges Wort über seine Lippen zu bringen. Der ganze Kneipenaufenthalt endete damit, dass Taxis bestellt wurden und die 3 Bayern bei 3 Dortmundern unterkamen und die Nacht bei ihnen verbringen konnten. Priese stand noch eine Zeit lang mit wenigen Dortmundern an der Theke und erzählte ihnen, was er in dem Gang zwischen den Fan-Blöcken gesehen hatte.

„Das ist völlig normal“, sagte ein Dortmunder, „es gibt doch kein Spiel, bei dem nicht die Fetzen fliegen!“

„Du meinst, es gibt jedes Mal eine solche Gewalt, bei der man sich mehr an einen Krieg als an ein Fußballspiel erinnert fühlt?“, fragte Priese zurück. Sein Gegenüber sah ihn an, als hätte er einen Alien vor sich, er fragte:

„Ja gehst Du denn nie in ein Stadion?“

„Ich bin eigentlich kein so großer Fußball-Fan und sehr mir zu Hause schon mal ein Spiel im Fernseher an“, antwortete Priese.

„Im Fernseher bekommst Du doch das, was im Stadion so läuft, gar nicht mit. Das, was Du da gesehen hast, bekommt der Fernsehzuschauer doch gar nicht vor seine Augen!“, sagte der Dortmunder. Priese dachte sich seinen Teil, besonders dachte er daran, wie gewalttätig die Zuschauer des Fußballspiels miteinander umgingen. Er hatte während seine Stadionaufenthaltes kaum einmal einen Blick auf das Spielgeschehen geworfen, sondern besonders in der 2. Spielhälfte seine ganze Aufmerksamkeit auf die Fangruppen gerichtet. Für ihn war völlig klar geworden, dass das Fußballspiel den Rahmen abgab für gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den an sich friedlichen Fans der gegnerischen Mannschaften, bei denen Triebe geweckt wurden, wie sie im Alltagsleben unterdrückt bleiben mussten. Ehe Priese so recht zu Sinnen kommt, findet er sich am Gare du Nord in Paris.

Priese ist Zeuge eines Fußballspieles geworden, das stellvertretend für viele andere steht und vielen Zuschauern die Gelegenheit gegeben hat, ihre Triebe auszuleben, die sie sonst immer im Zaume halten müssen. Die Brutalität, mit der sie zu Werke gehen, hat Priese überrascht und mehr an eine Kriegerische als an eine sportliche Auseinandersetzung erinnert.

Priese

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