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Sphäre (1)

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Priese befand sich in einer Art Milieu, das sich dadurch auszeichnete, dass man sich nicht in ihm verorten, sondern irgendwann überall sein konnte, darüber hinaus auch noch gleichzeitig. Das Medium war eine Sphäre, in der er sich selbst als Akteur und als Beobachter erscheinen konnte. So sah er sich einmal als Jugendlicher, der zu Hause bei seinen Eltern lebte und das Gymnasium besuchte. Sein Äußeres war sehr auffällig: er trug langes Haar, das aber nicht an den Seiten herabfiel, sondern vom Kopf weg abstand, weil es so fest war. Seine Hosen waren, wenn nicht Jeans, sogenannte Hit-Hosen, die eine sehr weit ausgestellte Kellerfalte am Hosenbeinende hatten. Alle seine Klassenkameraden hatten etwas an sich, das sie nach außen hin auffällig erscheinen ließ, bei den Lehrern eckten sie damit durchaus an. Sie waren aber bereit, das in Kauf zu nehmen und sahen ihr Erscheinungsbild als Protest gegen alles Althergebrachte an.

Zu Hause hielten sich die Eltern längst mit Kommentaren zu Prieses Äußerem zurück, nur die Nachbarinnen sagten schon mal:

„Deine Haare möchte ich haben!“ Priese fuhr samstags in die Stadt zu seinen Freundinnen, er rief vorher von der Telefonzelle aus an und verkündete seinen Besuch. Am Sonntag trug Priese in seiner frühen Jugendzeit einen Anzug und parfumierte sich mit „Tabac“, das machte man so. Mit seinen Freundinnen ging er in der Stadt spazieren oder auch ins Kino, mit der ersten Freundin war er auch in der Tanzschule. Das Größte war es immer, sich mit den Freundinnen zu küssen und sie zu umarmen, mehr war nicht drin. Priese verließ sein Beobachtungsfeld wieder und begab sich in seine Studentenzeit. Sein Antriebsmotor waren seine Gedanken, mit deren Hilfe er sich in ein Beobachtungsfeld seiner Wahl in der Sphäre begeben konnte. Dabei befand er sich zwischen den Feldern und traf auf alte Bekannte, auch solche, die schon tot waren oder die er aus den Augen verloren hatte. Er wurde sofort in die Zeit versetzt, in der er Kontakt zu ihnen gehabt hatte. So traf er seinen alten Nachbarschaftsfreund Rudi wieder und kam gleich mit ihm ins Gespräch:

„Na Rudi, lange nicht gesehen, wo treibst Du Dich denn im Moment herum?“ Sie befanden sich also in der Zeit nach dem Gymnasium und Rudi antwortete:

„Ich lebe im Moment bei München und mache in Sachen Medien.“ Rudi hatte aber keine Zeit, stieg in seinen Wagen und Fuhr davon. Priese sah sich im Folgenden in die Wohngemeinschaft versetzt, in der er während seiner Studienzeit gelebt hatte:

„Ich fahre zum Globus einkaufen!“, sagte er seinen Kommilitonen, stieg in seine Ente und fuhr los. Der Globus war ein großer Supermarkt, in dem man für wenig Geld gute Produkte kaufen konnte. In der Wohngemeinschaft wechselte man sich mit dem Kochen ab, wer kochte, musste auch einkaufen. Das Studium kam nicht zu kurz, und es wurde viel verlangt. Das hielt einen aber nicht davon ab, abends in die Kneipe zu gehen und ordentlich Bier zu trinken. Natürlich lernte Priese auf diese Weise auch Mädchen kennen und lieben, die Beziehungen endeten aber meist nach kurzer Zeit wieder, und Priese konzentrierte sich auf sein Studium. Ein weiteres Mal begab er sich in das Beobachtungsfeld Hollandaufenthalt, wo er bei seinem Bruder eine Arbeit bekam. Klaus hatte in Vlissingen einen „Aanemingsbedrijf“, das war ein Betrieb, der alles um den Hausbau erledigte, und den er von seinem Schwiegervater geerbt hatte. Klaus hatte seinem Bruder die Möglichkeit eröffnet, 3 Wochen lang während seiner Semesterferien in dem Betrieb zu arbeiten. Sein Lohn lag mit 10 Hfl/h pro Stunde sogar noch über dem Lohn der Stammbelegschaft, worüber Priese aber Stillschweigen bewahren sollte. Während er bei seinem Bruder arbeitete, hatte er einen Getriebeaustausch an seiner Ente bewerkstelligt, so versiert war er damals gewesen, er hatte sich das Austauschgetriebe auf einem Schrottplatz in Zeeroskerke besorgt. Priese traf zwischen den Beobachtungsfeldern auf seine Eltern:

„Wir haben gehört, dass Du bei Klaus arbeitest“, sagte Prieses Mutter.

„Ja“, antwortete Priese, „ich werde 3 Wochen lang bei ihm arbeiten und danach wieder zurückfahren.“

„In Anschluss werden wir nach Vlissingen fahren und dort 3 Wochen Urlaub machen.“ Priese baute in Vlissingen sein neues Getriebe ein und fuhr nach 3 Wochen abwechslungsreicher Arbeit wieder nach Hause. Er schwebte merkwürdigerweise unterwegs zu seiner Großmutter:

„Na ,Oma, alles klar bei Dir?“, fragte er sie, als sie in der Küche im Korbsessel saß.

„Du weißt doch, dass mir immer die Treppen so zu schaffen machen, mein Herz!“, antwortete sie.

„Sollen wir eine Runde Skat spielen?“

„Jau!“, rief sie vor Freude aus, ihr Herzproblem war vergessen, und sie setzte sich an den Küchentisch zu Prieses Mutter. Priese schwebte durch die Sphäre, in der er sich befand, immer auf der Suche nach neuen (alten) Beobachtungsfeldern, und er machte Halt bei seiner Referendarzeit, wie er sich gerade mit seiner Freundin in Goch eine Wohnung in der Bahnhofstraße einrichtete. Die Wohnung lag unter dem Dach und war schön groß, die paar Möbel, die sie hatten, waren schnell gestellt.

„Sollen wir etwas essen gehen?“, fragte Priese seine Freundin, und sie antwortete:

„Sehr gern, ich habe richtigen Hunger bekommen.“ Und so liefen die beiden die Bahnhofstraße entlang in den Ort, kamen durch das „Steintor“ und gingen zu „Haus Hoek“, einem ortsansässigen Restaurant, in dem viele Gocher essen gingen. In ihrer ersten Zeit in Goch mussten sich Priese und seine Freundin zuerst an den Singsang im Gocher Dialekt gewöhnen, das ging aber schnell. Als der Seminarbetrieb und die Arbeit von Prieses Freundin anfingen, wurden auch bald Freundschaften geschlossen, es gab Referendare, die auch in Goch wohnten, und mit denen verbrachten die beiden viel gemeinsame Zeit. Sie lernten auch Gocher Freunde kennen, die keine Referendare waren und gingen mit denen oft in die Kneipe im Ort. Prieses Freundin musste zu ihrem Krankenhaus immer nach Wesel fahren, das war sehr weit, ließ sich aber bewerkstelligen. Priese musste zu seinem Gymnasium nach Rheinberg, was auch sehr weit war, was er aber hinbekam. Priese mochte die Referendarzeit nicht missen, sie hatte 2 Jahre gedauert und seine Freundin und er hatten eine Menge erlebt. Das hatte auch damit zu tun, dass man endlich einmal Geld in den Fingern hatte, das mehr war, als das Bisschen BAFöG, das man in der Studienzeit bekam. Dennoch fiel Priese auf, dass er als Referendar sehr bescheiden war, und auch seine Freundin stellte keine großen Ansprüche an das Leben.

Ein weiteres Beobachtungsfeld war der Südamerikaurlaub, der sich an die Referendarzeit anschloss, und den die beiden mit zwei Freunden unternahmen. Mit den Freunden haben sie während der Referendarzeit viel angestellt, sie wohnten in Goch in der Nachbarschaft und man hatte sich dort oft getroffen. Sie hatten sich gemeinsam überlegt, nach Peru zu fliegen und sich das Land anzusehen, danach wollten sie nach Ecuador und auf die Galapagosinseln, nach Kolumbien, Venezuela und von Barbados aus wieder nach Hause fliegen. Priese beobachtete, wie sie sich Lima ansahen und mit dem Zug in die Anden fuhren. Sie absolvierten das übliche Touristenprogramm und gingen am Ende im Streit auseinander, sie konnten sich aus ihm nicht lösen und trennten sich. Prieses Position als Beobachter erlaubte ihm keinen Zugriff auf das Geschehen, sonst hätte er den Streit vielleicht abwenden können. Er merkte, wie komfortabel seine Position war, zwar konnte er keinen Einfluss auf das Geschehen nehmen, aber sich örtlich und zeitlich so bewegen zu können, wie einen die Gedanken trieben, das war schon was! Priese dachte und schwebte, so konnte man es wohl am besten beschreiben, wie seine Situation aussah, es war nicht einzuordnen, wann er sich wo befand. Immer wieder traf er auf alte Bekannte, so auf Ulla und Jutta von der anderen Straßenseite bei seinem Elternhaus, mit denen er als Kind die Wiese gegenüber in Band gesteckt hatte, sein Bruder war auch dabei. Sie bekamen den Brand nicht mehr unter Kontrolle, sodass die Feuerwehr ausrücken und löschen musste. Das war für alle ein einschneidendes Erlebnis und Priese musste lächeln, als er die Szenerie beobachtete. Priese genoss es, wenn er Einblicke in sein zumeist früheres Leben erhielt. Er musste in diesem Augenblick an seine Südeuropafahrt nach dem Abitur mit seinem Klassenkameraden denken.

Er sah sich gleich darauf mit ihm in einem alten VW 1500 sitzen und nach München fahren. Beide sahen sie sehr verwegen aus mit ihren langen Haaren, und sie steuerten den Englischen Garten an, in dem sie übernachten wollten.

„Lass uns doch in dem Biergarten am Chinesischen Turm noch ein paar Maß trinken!“, schlug Priese vor.

„Ist gut, das machen wir!“, antwortete sein Freund, und sie setzten sich an einen Biertisch, aßen Brezeln und tranken Bier. Als es langsam dunkel und der Biergarten immer leerer wurde, gingen sie zu ihrem Auto und holten die Schlafsäcke. Die legten sie auf die Wiese hinter ein Gebüsch, damit sie nicht so schnell gesehen werden konnten und schliefen. Am nächsten Tag ging es durch Österreich nach Jugoslawien, die Küstenstraße entlang bis nach Albanien. Sie fuhren landeinwärts nach Skopje und von dort nach Griechenland.

„Sollen wir nicht auch nach Kreta übersetzen?“, fragte Priese.

„Warum nicht, da waren wir beide noch nicht!“, antwortete sein Freund. Also ließen sie ihren Wagen im Athener Hafen stehen, nahmen die Nachtfähre und fuhren nach Kreta. Von Athen aus ging es die griechische Küste hoch nach Istanbul, wo sie im „Pudding Shop“ Menschen aus aller Herren Länder trafen, die weiter nach Asien fuhren. Die beiden fuhren über Bulgarien nach Rumänien und langsam nach Österreich zurück. In Wien schliefen sie mitten in der Stadt auf dem Grün einer Verkehrsinsel.

„Sollen wir von hier aus wieder nach Hause fahren oder einen Schlenker über Paris machen?“, fragte Priese.

„Ich bin dafür, dass wir über die Schweiz nach Paris fahren sollten!“, antwortete sein Freund. Und so fuhren sie wie verabredet in die Schweiz und durchquerten Frankreich bis nach Paris. Nachdem sie sich dort ein paar Tage aufgehalten hatten, war für sie aber die Reise beendet – nach 11000 Kilometern! Priese fand großen Gefallen daran, sich in seinen Gedanken durch die Sphäre bewegen zu können und machte auch reichlich Gebrauch davon, er begab sich auf einen Gedankenflug in den Schwarzwald, wo er als Kind sehr oft Urlaub mit dem Bruder und den Eltern gemacht hatte. Bei den Wirtsleuten in Bleibach waren sie sehr willkommen, und sie hatten ein herzliches Verhältnis miteinander.

„Na, da sind ja unsere Essener wieder!“, sagte Frieda, die Wirtsfrau, hocherfreut, und das war ehrlich gemeint.

„Freu Dich nicht zu früh, wir bleiben 3 Wochen!“, erwiderte Prieses Mutter, aber Friedas Freude wurde dadurch nur noch gesteigert. Auch Franz, ihr Mann, zeigte sich hocherfreut über seine Gäste und holte die Schnapsflasche aus dem Schrank, und Prieses Eltern tranken gern ein Kirschwasser mit.

„Lass uns unser Badezeug anziehen und zur Elz gehen!“, rief Prieses Bruder, der ein Jahr älter war als Priese, und schnell waren die beiden verschwunden und gingen zur Elz schwimmen. Priese erinnerte sich, dass die Luft im Schwarzwald die pure Gesundheit war, die Wiesen standen voll mit guten Kräutern und Wildpflanzen. Die drei Wochen Urlaub, die Priese bevorgestanden hatten, würden ihm und seiner Familie guttun.

Priese genoss seine Gedankenflüge durch die Sphäre, die ihm keine Grenze in örtlicher oder zeitlicher Hinsicht setzte. Er mochte es sehr, sich als Jungen oder Jugendlichen zu sehen, und er freute sich auch, wenn er sich selbst als Erwachsenen begegnete. So eine Reise durch die Sphäre war etwas ganz Besonderes, wie es nie jemand sonst erlebte, weil sie so irreal war, von Priese aber als völlig real wahrgenommen wurde. Er labte sich in dem jeweiligen Beobachtungsfeld, in dem er gleichzeitig sowohl Akteur als auch außenstehender Beobachter gewesen war. Er sog das jeweilige Zeitkolorit in sich auf. Es übertrug sich auf ihn in all seinen Facetten. Spielarten der Wahrnehmung, wie er sie längst verschüttet glaubte, sie wurden wiederbelebt.

Priese

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