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Auf Prosper-Haniel
ОглавлениеPriese fand sich in der Kaue von Prosper-Haniel in Bottrop sitzen, unter den Kumpeln waren Steiger, Hauer und Knappen, die ihre Schicht beginnen wollten. Er sah in die angespannten Gesichter der Zechenarbeiter, die sich auf ihre Schicht konzentrierten und dabei waren, sich umzuziehen. Priese hat vom Reviersteiger Jens Holdorf Arbeitskleidung, Helm und Grubenlampe bekommen und war gerade damit beschäftigt, die Sachen anzuziehen. Natürlich fragten ihn die Kumpel, wer er wäre, und was er dort auf ihrer Zeche wollte, und Priese gab sich als Mitarbeiter der WAZ aus, der er nicht war, aber für die Kumpel musste er sich eine Notlüge überlegen. Was hätte er auch sagen sollen, warum er mit ihnen zusammen in der Kaue saß, er wusste ja selbst nicht einmal, wie er dort hingekommen war.
„Ich habe von meiner Zeitung den Auftrag bekommen, etwas von der Stimmung unter den Bergleuten im letzten Jahr der Steinkohlenförderung auf Prosper-Haniel einzufangen“, sagte er und bemerkte, wie einige von den Kumpeln verständnislos ihren Kopf schüttelten..
„Komm nur mit runter, da unten wirst Du schon mitbekommen, wie sich die Kumpel fühlen, einige haben ganz schön zu knacken!“, sagte einer von ihnen.
Priese zog die Schnürsenkel seiner Arbeitsschuhe stramm, überprüfte den Akku seiner Grubenlampe und lief mit den anderen zum Förderkorb. Als sie vor dem martialisch anmutenden Schutzgitter standen, konnten sie das laufende Stahlseil sehen, an dem der Förderkorb hing, der die Kumpel nach oben brachte, die die Bergleute, mit denen Priese zusammen war, ablösen sollten. Es wurden unter den Kumpeln nicht viele Worte gemacht, gerade einmal „Glück auf!“ sagten sie den Ankommenden, nachdem sich das Stahlgitter mit einem infernalischen Krach geöffnet hatte, und die Kumpel an den Förderkorb traten. „Glück auf!“, schallte es den Wartenden entgegen. Jeder hatte seinen Helm auf dem Kopf, und man konnte die ernsten Mienen sehen, die alle aufgesetzt hatten.
„Was muss dem Einzelnen wohl durch den Kopf gehen?“, fragte sich Priese, und er erhoffte sich dazu Aufschluss dadurch, dass er unter Tage mit den Kumpeln ins Gespräch kommen wollte.
Der Förderkorb brachte Priese und die Bergleute auf eine Tiefe von 1200 Meter, und es stellte sich eine Temperatur ein, die deutlich über der über Tage lag. Unten wartete ein sehr schmaler und niedriger Zug auf die Arbeiter, in dem sie nur hintereinander sitzen konnten, und jeder setzte sich in die kleinen Waggons. Dann ging die Fahrt in dem Zug, der natürlich elektrisch betrieben war, los bis sie eine Fördergegend erreichten, die ungefähr 20 Minuten vom Förderschacht entfernt lag. Dort waren sie vor der Kohle, das heißt, dass sich dort ein riesiger Kohlehobel ins Gebirge fraß und große Kohlebrocken herausbrach. Priese war noch nie in seinem Leben unter Tage gewesen, und ihm waren die Umgebung und der Lärm, der inzwischen herrschte, fremd. Allmählich gewöhnte er sich aber an die Bedingungen unter Tage, besonders auch an das dämmrige Licht, jeder hatte inzwischen seine Helmlampe eingeschaltet. Priese stand noch weit vom Kohlehobel entfernt und hatte Mühe, sich verständlich zu machen. Gleichzeitig konnte er sehen, wie versucht wurde, der immensen Mengen Kohlenstaubes Herr zu werden, indem man Wasser auf die Schnittstellen des Hobels leitete, das brachte aber nur mäßigen Erfolg. Man konnte einfach nicht vermeiden, dass man schon nach kurzer Zeit voll und ganz schwarz war. Die Kohle wurde auf Förderbänder geworfen und zum Füllort am Förderschacht gebracht, von wo sie mit sogenannten Skips nach oben gebracht wurde. Wenn man die Gesamtfördermenge auf jeden Kumpel umlegte, kam man auf 6 Tonnen pro Beschäftigten. Gemessen an früher, als die Kohle noch von Hand mit der Spitzhacke oder später mit dem Presslufthammer abgebaut wurde, war das eine beachtliche Menge. Bis weit in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein wurde ein Großteil der geförderten Kohle als Hausbrand verbraucht. Die Bergleute bekamen sogenannte Deputatkohle geliefert, das heißt, dass sie pro Jahr ungefähr 5 Tonnen Kohle frei Haus geliefert bekamen. Im Zuge der Ausstattung der Häuser mit Öl- oder Gasheizung oder mit alternativer Wärmeerzeugung entfiel der Hausbrand und Kohle wurde fast ausschließlich nur noch für die Kohlekraftwerke und die Kokserzeugung für die Eisenverhüttung gebraucht.
Aus zwei weiteren Richtungen wurde Druck auf die Kohleförderung erzeugt: die Menge von produziertem Stahl stagnierte bzw. war rückläufig, weil Stahl aus dem Ausland, zum Beispiel aus China, auf den deutschen Markt geworfen wurde und zum Zweiten gab es mehr und mehr Importkohle. Und obwohl die Importkohle um die halbe Erde, zum Beispiel aus Australien, nach Europa verschifft wurde, in Rotterdam auf Binnenschiffe verladen und über den Rhein nach Duisburg-Ruhrort transportiert wurde, war sie dort billiger als die heimische Kohle. Die Kohle aus dem Ruhrgebiet war in ihrer Qualität vielleicht unerreicht, es blieb aber das Preisargument, heimische Kohle lag in ihren Förderkosten um 100 % über der Importkohle. Diese Faktoren bedingten das allmähliche Zechensterben in Deutschland, in diesem Jahr verschwanden Prosper-Haniel und Ibbenbüren als letzte verbliebene Zechen und die Steinkohleförderung gingen zu Ende.
Den Kumpeln war das auch klargemacht worden, und sie nahmen das Ende ihrer Zeche teils gelassen auf, teils waren sie aber auch tief betroffen, wenn es sich um Kumpel handelte, die schon älter waren und ihre Ausbildung auf Prosper-Haniel absolviert hatten. Für sie ging ein Stück Leben verloren, wenn „Hängen im Schacht“ war, die Zeche bot ihnen mehr als nur einen Arbeitsplatz, sie bot ihnen ein Stück Identität. Für die jungen Kumpel war das natürlich etwas anderes, für sie spielte sich das Leben außerhalb der Zeche ab, sie wussten zu trennen zwischen Arbeitszeit und Freizeit. Priese wandte sich einem neben ihm stehenden Kumpel zu und fragte ihn:
„Geht es Dir sehr nahe, wenn die Zeche zum Jahresende schließt?“ Der Befragte schaute Priese an, als hätte er mit allem gerechnet, nur nicht mit so einer Frage. Er zählte zu den jungen Kumpeln und antwortete:
„Die da oben kümmern sich für einen um Ersatzarbeitsplätze, von daher ist es uns um die Zeche egal.“
„Was machst Du so in Deiner Freizeit?“, fragte Priese weiter.
„Ich habe Sky zu Hause und sehe mir alle Fußballspiele an, die von Interesse sind. Das gefällt meiner Frau zwar nicht immer, wenn ich Stunde um Stunde vor dem Fernseher sitze, das ist mir aber egal. Und am Samstag fahre ich mit meinen Freunden nach Schalke, und wir sehen uns das Spiel von unserem Verein an. Klar, dass wir uns hinterher ordentlich einen hinter die Binde kippen. Am Sonntag unternehmen meine Frau und ich schon mal was mit den Kindern, das kommt aber nicht so oft vor.“ Priese nahm die Befragung mit dem Diktaphon von seinem Smartphone auf, er schaltete das Gerät dann ab. Dann ging er zu einem älteren Kumpel, dem der Kohlenstaub das ganze Gesicht eingeschwärzt hatte, sodass nur seine Augenschlitze zu sehen waren. Sein vom Schweiß verklebtes Haar schaute unter dem Helm hervor, und Priese stellte ihm die gleichen Fragen wie seinem Kumpel zuvor, er entschuldigte sich aber für seine Direktheit.
„Du fragst mich, ob mir die Zechenschließung nahegeht?“ Er nahm den Helm vom Kopf und wischte sich den Schweiß mit dem Hemdsärmel von der Stirn.
„Lieber Freund, ich bin seit 40 Jahren auf Prosper-Haniel, ich habe damals meine Lehre auf der Zeche gemacht und Höhen und Tiefen des Bergbaus hier erlebt. Natürlich geht mir die Zechenschließung nahe, sehr nahe!“ Priese sah, wie sein Blick auf den Kohlehobel, seine Kumpel und durch den ganzen Streb ging und fragte anschließend:
„Werden sie Dich abfinden, oder wirst Du auf eine andere Stelle versetzt?“
„Mir wird es wie allen hier gehen, die Mitte 50 sind, der Bergbau zahlt uns aus und schickt uns in Rente, finanziell sind wir abgesichert, aber darum geht es nicht. Das Ende meiner Beschäftigungszeit auf Prosper-Haniel ist wie eine Scheidung, ja, man kann sagen, dass ich mit der Zeche verheiratet war, und diese Ehe geht nun zu Ende. Frag die Kumpel, die in meinem Alter sind und hier angefangen haben, die werden Dir das Gleiche erzählen!“
„Was machst Du in Deiner Freizeit?“, fragte Priese weiter. Der alte Kumpel kratzte sich am Kopf und antwortete:
„Wenn meine Frau mich lässt, gehe ich zu meinen Tauben, füttere und kümmere mich um sie, oder ich helfe meiner Frau bei der Gartenarbeit, die sie sehr gerne macht. Wenn es aber zum Beispiel darum geht, ein Stück Land umzugraben, muss ich ran. Am liebsten bin ich aber bei meinen Tauben. Viele wissen gar nicht, wie intelligent sie sind, ich setze mich regelmäßig zu ihnen und rede mit ihnen, dann sitzen sie auf ihren Stangen, heben die Köpfe und hören zu. Ich habe auch Reisetauben, die bis nach Barcelona gebracht werden und wieder nach Hause finden, eine unglaubliche Leistung!“
Der Kohlehobel und das Förderband waren inzwischen sehr laut geworden, und Priese und die Befragten hatten Mühe, ihre Stimmen gegen den Lärm zu behaupten. Priese bewegte sich ein Stück weiter weg und kam zu einem Mann, dessen Bewegungsmöglichkeiten ganz offensichtlich eingeschränkt waren, er war auch mit Aufgaben betraut, die nicht in direkter Verbindung zum Produktionsprozess standen. Er überwachte vielmehr das Schaffen von Mensch und Maschine. Priese sprach ihn an und stellte ihm die gleichen Fragen wie den Kumpeln zuvor:
„Geht Dir die Schließung der Zeche sehr nahe?“
„Ich arbeite schon sehr lange auf Prosper-Haniel und mir geht die Schließung des Bergwerkes schon allein deshalb sehr nahe. Allerdings bin ich, wie Du sehen kannst, körperlich beeinträchtigt, und mir und meiner Gesundheit kommt ein Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess sehr entgegen. Ich war Opfer der Schlagwetterexplosion, die sich vor 20 Jahren auf Prosper-Haniel zugetragen hatte. Man wollte mich ursprünglich krankschreiben und von der Arbeit freistellen, ich habe aber so lange gebettelt, bis man mir die Überwachungsaufgabe gegeben hat.“
„Was versteht man unter einer Schlagwetterexplosion?“, wollte Priese wissen. Er wusste natürlich in etwa, was eine Schlagwetterexplosion war, wollte es aber einmal aus berufenem Mund hören. Der Kumpel sah Priese an, als wunderte er sich darüber, dass es jemanden gab, der nicht wusste, was eine Schlagwetterexplosion war. Danach erklärte er Priese, worum es dabei ging:
„Oftmals treten bei der Kohleförderung Grubengase auf, die zu sehr hohen Teilen Methan sind. Methan ist giftig, nicht riechbar, nicht sichtbar und hochexplosiv. Wenn in der Umgebung eine hohe Konzentration von Methan vorhanden ist, reicht schon ein kleiner Funke, den zum Beispiel eine Maschine erzeugt, um eine Explosion herbeizuführen.
Früher haben die Bergleute Kanarienvögel mit unter Tage genommen, wenn die Vögel tot im Käfig lagen, musste man schnellstens die Förderstelle verlassen.
Heute gibt es natürlich Gaswarnanlagen, in meinem Fall ist das Gas aber so plötzlich gekommen und explodiert, dass eine schnelle Reaktion nicht möglich war. Es sind damals 3 Kumpel ums Leben gekommen!“
„Das ist ja furchtbar!“, antwortete Priese und nach einer kurzen Pause fragte er nach:
„Womit verbringst Du Deine Freizeit?“, und der Kumpel sagte:
„Ich gehe sehr gerne mit meiner Frau spazieren, und wir unternehmen sogar kleine Wanderungen. Da wir schon die gesamte Umgebung erwandert haben, fahren wir oft mit unserem Wagen in das weitere Umland und laufen dort. Wir haben hier bei uns mehrfach den „Tetraeder“ und die Bergehalden der Nachbarzechen bestiegen. Natürlich gehen wir nicht jeden Tag auf Wanderschaft, aber so 2mal pro Woche mindestens und an den Wochenenden ohnehin. Wir planen schon unseren nächsten Wanderurlaub.“ Priese ging bis zum Feierabend noch herum und befragte die Kumpel aus der Schicht, und er erfuhr eine Menge von deren Ansichten über das Leben. Als er zum Feierabend mit den Kumpeln im Förderkorb wieder nach oben fuhr, kam er gar nicht erst oben an, in der kurzen Zeit des Aufwärtsfahrens döste er vor sich hin und fand sich am Ende in einer großen Wüste.
Priese hat versucht, auf Prosper-Haniel etwas über die Lebensauffassung der Kumpel in Erfahrung zu bringen und dabei sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Es war bei den Älteren durchgängig so, dass sie ihrem Leben außerhalb der Zeche Tiefe abzugewinnen versuchten, wenngleich die Zeche Teil von ihnen zu sein schien. Die Jungen hingen einem Leben nach, das konsumorientiert und oberflächlich war.