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Kainsfeld

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Wenn Priese das Haus verließ, nahm er den mit Ginsterbüschen eingefassten Weg zur Straße hin, der an die 30 Meter lang war und hielt sich den Mantel zu, wenn es regnete und stürmte, oder er ging aufrecht im Hemd, wenn die Sonne schien, und es warm war. Das Grundstück, auf dem er lebte, hatte gewaltige Ausmaße: da waren die 30 Meter vor dem Haus, aber es gab auch noch 60 Meter dahinter, und zur Seite hin waren es auch noch jeweils 40 Meter. Es hatte das Haus und das Grundstück von seinem Vater geerbt und lebte mit seiner Familie auf dem Land, da waren seine Frau Emily und seine Kinder Benny und Alice, 12 und 13 Jahre alt, er selbst war 42 und seine Frau 40 Jahre alt. Hans-Peter Prieseck war sein wahrer Name, aber alle, die ihn kannten, nannten ihn nur Priese. Das Prieseck-Anwesen lag ein Stück außerhalb von Kainsfeld, Kainsfeld war eine mittelgroße Stadt mit ungefähr 25000 Einwohnern im Norden Deutschlands.

Die Kinder hatten ihre Schule in Kainsfeld und Emily hatte dort den Kreis ihrer Freundinnen und ihren Sport, sie ging ins Fitnessstudio und spielte Tennis. Emily war sehr zufrieden mit ihrem Leben und fühlte sich als Hausfrau keineswegs gelangweilt wie einige ihrer Freundinnen, die schon morgens vor dem Fernseher saßen, weil sie nicht wussten, wie sie sich sonst die Zeit vertreiben sollten.. Natürlich hatte Emily ihre hausfraulichen Verpflichtungen zu erfüllen, aber nach dem Saubermachen und Aufräumen setzte sie sich oft in ihren Wagen und fuhr nach Kainsfeld zu ihrem Sport. Die Kinder kamen mit dem Bus nach Hause und hatten jeder einen Hausschlüssel. Meistens war Emily dann aber zu Hause und setzte sich mit den Kindern an den Tisch, wenn sie aßen. Priese war Oberstudienrat am Städtischen Gymnasium, er unterrichtete die Fächer Mathematik und Deutsch. Er wurde von den Schülern und auch von seinen Kollegen gemocht, weil er immer freundlich und aufrichtig war. Sicher stritt er sich schon mal mit einem Schüler um die Note unter einer Klausur oder mit einem Kollegen um die Bestrafung eines Schülers für dessen Vergehen. Aber im Grunde verlief sein beruflicher Alltag immer reibungslos und war keine besondere Herausforderung für Priese. Priese und Emily hatten für ihr Alter gute athletische Figuren, weil sie beide auf ihre Ernährung achteten und Sport trieben. Bei Priese zeigte sich aber schon ein Kränzchen auf seinem Kopf, das er durch einen Schnäuzer wettzumachen suchte.

Er war etwas über 1.80 Meter groß und entsprach damit dem bundesdeutschen Durchschnitt bei der Größe der Männer. Wenn er über den Schulhof lief und bei den Mädchen der Oberstufe vorbeikam, warfen die schon mal einen Blick auf ihn. Er wusste aber, dass er in dem Alter war, in dem man in deren Augen als gesetzt und altersweise galt und machte sich deshalb keinerlei Hoffnungen. Auch die Kinder fühlten sich rundherum wohl und oft waren die Freundinnen und Freunde von Benny und Alice zu Hause bei ihnen, und sie spielten zusammen. Sie kamen meistens mit ihren Fahrrädern, wenn es das Wetter zuließ, so wie Benny und Alice auch bei gutem Wetter mit ihren Rädern zur Schule fuhren.

Eines Morgens im Sommer, Priese hatte das Grundstückstor zur Straße geöffnet und ging zurück zu seinem Wagen, um mit ihm zu seiner Schule zu fahren. Auch Benny und Alice besuchten das Städtische Gymnasium, sie liefen ihrem Vater aber so gut wie nie über den Weg. Priese fuhr ganz in Gedanken in die Stadt, und als er das Gymnasium erreichte und auf den Lehrerparkplatz fuhr, sah er seine Kollegen mit ernstem Gesicht zum Schulgebäude stürmen.

„Was wäre, wenn ich heute einmal nicht in den Unterricht ginge, wenn ich auch nicht nach Hause und stattdessen irgendwo hin führe und meinem Alltag ade sagte?“, fragte sich Priese. Ein solcher Gedanke war ihm noch nie in seiner gesamten Zeit als Lehrer gekommen, und er war leicht konsterniert. Und noch ehe er sich wieder besann, startete er den Motor seines Wagens und verließ den Lehrerparkplatz wieder. Er fuhr einfach los, verließ Kainsfeld und steuerte die Autobahn an. Er nahm die A 1 nach Hamburg und fuhr nach St. Pauli zu den Landungsbrücken. Dort setzte er sich auf eine Bank und dachte nach. Es war kein zielgerichtetes Denken das ihn befiel, vielmehr beschlich ihn eine Art Tagträumen, und er wähnte sich weitab von allem. Es war inzwischen beinahe Mittag geworden und man würde in seiner Schule nach ihm fragen, aber das kümmerte ihn nicht. Priese war drauf und dran, sich zumindest für eine Zeit von allem zu verabschieden. Zwischen Emily und ihm war zwar alles in Ordnung, das Feuer, das einmal gebrannt hatte, war aber bei ihm längst erloschen.

„Das kann es doch nicht gewesen sein!“, sagte er zu sich, und je länger er da saß, desto fester wurde sein Entschluss zu fliehen, ja zu fliehen, so kam ihm das jedenfalls vor, er wollte einfach ausbrechen aus den Zwängen seines Alltags. Er wusste, dass sie ihn zu Hause vermissen würden, dieser Trennungsschmerz würde aber nur wenige Tage anhalten, davon war er überzeugt, danach würden alle ganz normal ihre Wege gehen, auch ohne ihn.

Priese erregte auf seiner Bank bei den Landungsbrücken kein Aufsehen, er saß ganz einfach gemütlich da, und kaum jemand von den vorbeieilenden Leuten nahm überhaupt Notiz von ihm. Nachdem er bestimmt 2 Stunden so dagesessen hatte, bekam er langsam Hunger und holte sich an einem der Verkaufswagen ein Fischbrötchen, setzte sich wieder auf seine Bank und aß in aller Ruhe. Sein Blick schweifte während des Essens über die Elbe und fixierte eigentlich nichts Besonderes. Lediglich ein Containerschiff aus Shanghai fiel ihm auf, das im Begriff war, den Hafen zu verlassen. Er beobachtete dann, wie Schlepper das riesige Schiff durch Drücken und Ziehen auf der Elbe in die Fahrtrichtung bewegten, bevor es durch ganz langsames Drehen seiner Schrauben Fahrt aufnahm. Priese versuchte, Menschen an Bord zu entdecken, aber das gelang ihm zunächst nicht, bis er aber auf der Brücke drei Personen ausmachen konnte, von denen eine mit Sicherheit ein Lotse war - Priese geriet ins Schwärmen, als er das Containerschiff sehr langsam vorbeifahren sah, er hatte schon viel von Shanghai gehört. Kolleginnen und Kollegen waren schon dort und haben in höchsten Tönen die Sehenswürdigkeiten von Shanghai hervorgehoben, viele haben ihren Urlaub mit einem Besuch von Peking kombiniert und sind auch nach Xian gefahren.

Plötzlich merkte Priese, wie ihm die Augen zufielen, und er in einen Schlaf geriet, in dem er von Shanghai träumte.

Priese

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