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KAPITEL 1 Die Kirchenverfassung § 2Die Gestaltwerdung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 1.Gebiet
ОглавлениеVon wenigen früher hinzugekommenen Gebieten abgesehen (Grafschaft Wolfstein mit Sulzbürg-Pyrbaum 1740, Herzogtum Neuburg mit Sulzbach 1777, Pflegeämter Velden und Hersbruck 1792) war das Kurfürstentum Bayern bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts ein rein katholisches Land. Dies änderte sich erst, als Bayern infolge des Friedens von Lunéville (1801) und des Reichsdeputationshauptschlusses (1803) u. a. die Reichsstädte Kaufbeuren, Kempten, Memmingen, Nördlingen, Rothenburg ob der Tauber, Schweinfurt, Dinkelsbühl, Weißenburg und Windsheim erhielt. 1805 folgten aufgrund des Friedens von Preßburg die beiden Reichsstädte Augsburg und Lindau, außerdem die evangelische Grafschaft Ortenburg in Niederbayern. 1806 wurde das seit 1791 preußische Markgrafentum Ansbach von Frankreich an Bayern weitergegeben und die Reichsstadt Nürnberg mit verschiedenen weiteren fränkischen und schwäbischen evangelischen Herrschaftsgebieten, insbesondere den Grafschaften Oettingen-Oettingen, Schwarzenberg, Hohenlohe-Schillingsfürst, Castell, Pappenheim und Thüngen, eingegliedert. Den – bis zum Anschluss des Freistaates Coburg an Bayern im Jahr 1920 – vorläufigen Abschluss bildeten 1810 das Markgrafentum Bayreuth und die evangelische Reichsstadt Regensburg, 1814 jeweils mit evangelischer Diaspora das Großherzogtum Würzburg und das Fürstentum Aschaffenburg sowie 1816 die gemischtkonfessionelle Rheinpfalz.
Diese Entwicklungen bewirkten, dass der katholische Landesherr entsprechend der damals vorherrschenden, aus der Territorialgewalt begründeten Auffassung von der Oberhoheit des Staates über die Kirchen (Territorialismus) die äußere Aufsicht über das evangelische Kirchenwesen (die Kirchenhoheit) übernahm. Zusätzlich wurde er unter dem Titel des landesherrlichen Kirchenregiments auch in den inneren Kirchenangelegenheiten zum „obersten Bischof“ seiner evangelischen Untertanen (Summepiskopat).
Exkurs:
Als landesherrliches Kirchenregiment wird die kirchenleitende Funktion eines Landesherrn bezeichnet, die dieser als oberster Bischof (summus episcopus) in seinem Territorium ausübt. Davon zu unterscheiden ist die staatliche Kirchenhoheit, bei der der Landesherr nur eine äußere Aufsicht über die Kirchen ausübte. Obwohl katholisch, war der bayerische König aus dem Hause der Wittelsbacher summus episcopus der protestantischen Kirche Bayerns und nahm somit für diese kirchenleitende Verantwortung in Anspruch. Gegenüber der katholischen Kirche bestand nur die staatliche Kirchenhoheit, aber kein landesherrliches Kirchenregiment.
Das landesherrliche Kirchenregiment geht auf die Reformation zurück: Mit Billigung der Reformatoren wurde den Landesherren die Neuordnung des Kirchenwesens übertragen, aber lediglich als „Notbischofsrecht“ aufgrund ihrer Eigenschaft als „hervorgehobenes Kirchenglied“ (praecipuum membrum ecclesiae), nicht jedoch kraft ihrer weltlichen Machtstellung und Teil ihrer Landeshoheit. In der Folgezeit hat das landesherrliche Kirchenregiment folgende staatsrechtliche Begründungen erfahren:
–Nach der Theorie des Episkopalismus begründeten sich die landesherrlichen Rechte in Kirchensachen durch den Wegfall der Jurisdiktionsgewalt der katholischen Bischöfe und den aus dem Augsburger Religionsfrieden (1555) hergeleiteten Übergang der bischöflichen Rechte auf die evangelischen Landesherren.
–Demgegenüber sah die im Zeitalter des Absolutismus entstandene Theorie des Territorialismus Religion und Kirche als genuinen Teil der öffentlichen Ordnung und insoweit der Staatsgewalt unterstehend.
–Die im Zuge der Aufklärung entwickelte Theorie des Kollegialismus führte zu einer Beschränkung des im Territorialismus beanspruchten umfassenden Herrschaftsanspruches der Landesherren über die Religion. Kirche und Religion wurden nunmehr verstanden als „collegium“ und der allgemeinen Vereins- und Korporationsautonomie unterfallend angesehen. Danach wurde unterschieden zwischen der äußeren Kirchenaufsicht (iura circa sacra) auf der Grundlage der Innehabung der Staatsgewalt und der inneren Kirchenleitung (iura in sacra) aufgrund der Übertragung bischöflicher Rechte gegenüber der evangelischen Kirche im Zuge der Reformation.1
1816 gab es im rechtsrheinischen Bayern bei einer Gesamtbevölkerung von 3,16 Mio. Einwohnern rund 752.000 evangelische Christen, die in 774 Pfarreien von 911 Geistlichen seelsorgerlich betreut wurden. Sie lebten schwerpunktmäßig in Ober- und Mittelfranken sowie in Schwaben.