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2. Rechtsquellenhierarchie und Lückenschluss

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Die Bestimmung des auf die SE anwendbaren Rechts wird durch die allgemeinen Grundsätze der Rechtsquellenhierarchie vorgezeichnet. Aufgrund des Vorrangs des europäischen Rechts[5] sind zunächst die Regelungen der SE-VO zur Anwendung berufen, die in ihrem Anwendungsbereich als ranghöhere Normen das Recht der Mitgliedstaaten verdrängen.

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Die SE-VO selbst enthält jedoch nur in beschränktem Umfang sachrechtliche Regelungen, die sich vornehmlich mit der Gründung und der Leitung der SE befassen. Eine umfassende Kodifikation des Rechts der SE erfolgte nicht, da sich dies als politisch nicht durchsetzbar erwiesen hatte. Der europäische Gesetzgeber hat sich daher darauf beschränkt, ein Rahmenrecht zu schaffen, welches im Wege einer komplexen Verweisungstechnik durch Bestimmungen des nationalen Rechts aufgefüllt wird. Das nationale Recht wird hierbei durch partielle und generelle Verweisungen als Auffangregelung herangezogen, ohne dass das Gemeinschaftsrecht hierdurch sein Primat aufgegeben hätte. Vielmehr gelangt das nationale Recht nur aufgrund eines europarechtlichen Anwendungsbefehls zur Geltung.[6] Die SE bildet mithin ein mixtum compositum[7] aus Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht.

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Die Bestimmungen der SE-VO sind zwingend (Art. 9 Abs. 1 b SE-VO), soweit sie nicht ausdrücklich satzungsdispositiv ausgestaltet sind.[8] Satzungsbestimmungen, die auf satzungsdispositivem Recht der SE-VO beruhen, gehen als abgeleitetes Recht ebenfalls dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten vor.

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Es ergibt sich aus Art. 9 Abs. 1 SE-VO folgende Normenhierarchie, wobei ein Rückgriff auf nationales Recht nur insoweit zulässig ist, als dieser Bereich in der Verordnung nicht (Art. 9 Abs. 1 c Alt. 1 SE-VO) oder nur teilweise (Art. 9 Abs. 1 c Alt. 2 SE-VO) geregelt ist:

1. Zwingende Bestimmungen der SE-VO
2. Satzungsregelungen, soweit diese auf satzungsdispositivem europäischen Recht beruhen
3. Dispositive Bestimmungen der SE-VO
4. Spezielle Ausführungsgesetze des Sitzstaates, die auf der Grundlage der SE-VO und der SE-RL erlassen wurden
5. Zwingende Bestimmungen des nationalen Rechts des Sitzstaates
6. Satzungsregelungen, soweit diese auf satzungsdispositivem nationalen Recht beruhen
7. Dispositives nationales Recht des Sitzstaates.

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Das auf die SE anwendbare Recht scheint sich auf den ersten Blick klar aus der oben dargestellten Normenhierarchie und dem Verweisungssystem der SE-VO ablesen zu lassen. Im Detail kann die Verzahnung der SE-VO mit dem nationalen Recht jedoch erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten aufwerfen.

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Methodisch setzt der Rückgriff auf das nationale Recht auf der Grundlage der Verweisungsnormen zunächst eine planmäßige Regelungslücke in der SE-VO voraus. Dies bedeutet zugleich, dass ein Rückgriff auf nationales Recht nicht in Betracht kommt, wenn die Regelung der SE-VO abschließend und der Tatbestand der Verweisungsnorm somit gar nicht eröffnet ist. Es muss daher in jedem Einzelfall zunächst der materielle Gehalt und die Reichweite der Vorschriften der SE-VO – einschließlich der Verweisungsnormen – im Wege der Auslegung ermittelt werden.

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Bei der Ermittlung von Regelungslücken ist grundsätzlich auf die Auslegungsgrundsätze für sekundäres Gemeinschaftsrecht zurückzugreifen.[9] Allerdings können für die Auslegung der SE-VO zwei weitere Leitlinien aufgestellt werden, die sich aus der Verweisungskonzeption der Verordnung ableiten lassen: Aus der Existenz der Generalverweisung kann geschlossen werden, dass der Gesetzgeber selbst von der Lückenhaftigkeit des Verordnungstextes ausging. Bestimmungen, die für das Funktionieren der Rechtsform der SE unerlässlich sind, aber in der SE-VO nicht geregelt sind, müssen grundsätzlich über den Weg der Verweisung durch Rückgriff auf das Recht des Sitzstaates aufgefüllt werden.[10] Die Annahme einer Regelungslücke liegt gleichfalls nahe, soweit für den in der SE-VO nicht geregelten Bereich in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten einschlägige Regelungen bestehen; dies umso mehr, wenn es sich bei dem jeweiligen einschlägigen mitgliedstaatlichen Recht um harmonisiertes Recht handelt.[11]

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Im Falle planwidriger Regelungslücken kann ein Lückenschluss auch durch Analogie auf Ebene der Verordnung erfolgen, wobei allerdings sowohl die geringe Regelungstiefe der Verordnung als auch die grundsätzliche Entscheidung zur Lückenfüllung durch das Recht der Mitgliedstaaten dieser Vorgehensweise enge Grenzen setzt.[12] In Betracht kommt ein Analogieschluss zur Lückenfüllung insbesondere, wenn das nationale Recht für die Fragestellung keine analogiefähige Regelung bereithält. Derartige SE-spezifische Regelungslücken, die also Bereiche betreffen, die sich ausschließlich auf die Rechtsform der SE beziehen, können nicht durch Rückgriff auf das jeweilige nationale Recht geschlossen werden, da gewöhnlich keine Auffangregelungen zur Verfügung stehen. SE-spezifische Regelungslücken sind auf Ebene des Gemeinschaftsrechts im Wege der Rechtsfortbildung durch den EuGH zu füllen.[13]

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Die Feststellung einer Regelungslücke, die in der Regel zugleich eine Entscheidung über die Anwendung des nationalen Rechts des Sitzstaates ist, kann im Einzelfall schwierige Auslegungsfragen aufwerfen. Beispiele hierfür bilden das Konzernrecht und das Umwandlungsrecht.[14] In den meisten Fällen ist der Rückgriff auf das nationale Aktienrecht jedoch unproblematisch.

2II › 3. Das System der Verweisungsnormen der SE-VO

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