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2Zu einer relationalen Wirtschaftsgeographie 2.1Geographie im Paradigmenwechsel

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In diesem Kapitel legen wir die zentralen Argumente einer relationalen Sichtweise in der Wirtschaftsgeographie dar und unterscheiden ihre Grundperspektive von traditionellen wirtschaftsgeographischen Denkweisen. Hierzu werden neben der Bedeutung von Kontextualität, Pfadabhängigkeit und Kontingenz vier grundlegende Aspekte des Wirtschaftsprozesses in das Zentrum der Theoriebildung gestellt: Interaktion und Institution, Organisation, Evolution und Innovation. Damit soll ein fundiertes Verständnis der einzelnen Ansätze in einem größeren theoretischen Rahmen ermöglicht werden. Zuvor aber diskutieren wir die Idee von Paradigmenwechseln in allgemeiner Geographie und Wirtschaftsgeographie und illustrieren diese am Beispiel der Fachentwicklung in Deutschland.

Die Beobachtungen und Theorien, die Wirtschaftsgeographen formulieren, sind dabei stets geprägt von deren Fach- und Wissenschaftsverständnis. Wenngleich sich die Perspektiven einer Disziplin nicht sprunghaft ändern und sich meist auch nicht exakt datieren lassen, so ist es dennoch möglich, unterschiedliche Auffassungen, Methoden, Interessen und Vorgehensweisen charakteristisch von anderen zu unterscheiden. Auch die Theoriegeschichte der Wirtschaftsgeographie, so ein Argument dieses Buchs, kann einer solchen Unterscheidung unterzogen werden. Dies ist hilfreich, um einen kontextbewussten Zugang zu den Voraussetzungen und Inhalten ihrer Behauptungen zu schaffen und damit gleichsam eine differenzierte Kritik zu ermöglichen. Wir stellen daher zunächst das Konzept des Paradigmas vor und skizzieren anschließend eine wenn auch vereinfachte Unterscheidung der drei großen Paradigmen wissenschaftlicher Geographie. Um unsere Argumentation in Bezug auf die Paradigmen und Paradigmenwechsel in der allgemeinen Geographie und in der Wirtschaftsgeographie klar herauszuarbeiten, werden wir uns gezielt auf zentrale Aussagen ausgewählter Ansätze konzentrieren und andere nur verkürzt oder gar nicht darstellen. Dies hat vor allem didaktische Gründe.

Richtungweisend für die Konzipierung und Abbildung der Wissenschaftspraxis in Form von Paradigmen ist die Arbeit von Kuhn (1962) über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, die als Kritik aus der Idee eines linearen, kumulativen Erkenntnisfortschritts entstanden ist. Ein Paradigma kann danach definiert werden als eine Menge von wissenschaftlichen Leistungen, die ähnlichen Regeln hinsichtlich ihrer theoretischen Perspektiven, Basisbegriffe, Erklärungsansätze und Methoden unterliegen (Harvey 1969, Kap. 2). Ein Paradigma beschreibt eine sozial akzeptierte Forschungstradition, die Wissenschaftlern etabliertes Schulwissen bereitstellt (Kuhn 1962). Dabei strukturiert ein Paradigma nicht etwa nur Lösungsansätze, sondern gibt implizit in seinen Regeln auch die schulmäßigen Forschungsprobleme bzw. „Rätsel“ vor. Klassisches Beispiel eines herausragenden Paradigmas in den Naturwissenschaften ist die Newton’sche Physik, in der die Existenz kosmischer Kräfte in einem unveränderlichen, absoluten Raum angenommen wird. Im Gegensatz dazu setzte sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Relativitätstheorie Einsteins durch, in der Raum und Zeit nicht mehr absolut, sondern als veränderliche, relative Größen angesehen werden.

Die Phasen, in denen sich praktische Forschung paradigmatisch vollzieht, gelten als Phasen „normaler Wissenschaft“. Dem stehen die „wissenschaftlichen Revolutionen“ gegenüber, die bestehende Regelzusammenhänge durch neue Regeln, Bezüge und Begriffe ersetzen (Chalmers 1976). So erschütterte beispielsweise die Formulierung des kopernikanischen Weltbilds das grundlegende Verständnis des Kosmos. Die Erde wird darin nicht mehr als im Mittelpunkt der Welt stehend angesehen, sondern ist nur noch dezentraler Teil eines unendlich großen Universums. Das Selbstverständnis der Menschheit, religiöse Postulate sowie astronomische und physikalische Regeln und Interpretationsschemata wurden dadurch „revolutioniert“.

Unterschiedliche Paradigmen können hinsichtlich ihrer Forschungsperspektiven so weit auseinanderliegen, dass keine gemeinsame Kommunikation über den Sachzusammenhang mehr möglich ist. Solche Paradigmen nennt man inkommensurabel. Die Probleme und Lösungen der einen Perspektive sind dann nicht mehr in der Sprache der anderen zu formulieren. Insofern können inkommensurable Paradigmen einander nicht widerlegen und auch nicht zu einem linearen Erkenntnisfortschritt beitragen. Die Idee der Inkommensurabilität ist allerdings nicht unumstritten. So argumentiert Toulmin (1983), dass neue Paradigmen sehr wohl in einen argumentativen Diskurs mit alten Paradigmen treten können und dass Vertreter eines alten Paradigmas nicht zufällig, sondern wohlbegründet einen Paradigmenwechsel zu einem neuen Paradigma vollziehen. Die Dynamik wissenschaftlichen Denkens muss daher weder linear-kumulativ noch revolutionsartig geschehen. Vielmehr können wissenschaftliche Programme in Dialog treten, Perspektiven verhandeln und dabei gleichzeitig fortbestehen. Gerade vor diesem Hintergrund sind die nachfolgenden Diskussionen über Paradigmenwechsel in der Geographie und Wirtschaftsgeographie zu verstehen.

Die paradigmatischen Möglichkeiten der Wirtschaftsgeographie kreisen, ebenso wie die der allgemeinen Geographie überhaupt, um das Verhältnis von bestimmten Gegenstandsbereichen zum Raum. In der Wirtschaftsgeographie gilt es, eine spezifische Perspektive auf die Beziehung von ökonomischen Phänomenen zum Raum als Forschungsinteresse einzunehmen. Gerade die Auffassung des Begriffs Raum sowie der Beziehung zwischen Raum und Wirtschaft ist in der Entwicklung des Fachs verschieden definiert worden. Hier liegt der Ursprung für die Formulierung unterschiedlicher Paradigmen (wirtschafts-)geographischer Forschungsprogramme. Wir unterscheiden im Folgenden die Paradigmen der Länderkunde, der Raumwissenschaft und einer sozialtheoretisch revidierten Geographie, die fachhistorisch aufeinanderfolgen, heute jedoch zum Teil parallel weiterexistieren (Glückler 1999).

Die Details eines wissenschaftshistorischen Diskurses sowie individueller Konzepte werden in einer paradigmatischen Perspektive bewusst vernachlässigt, um stattdessen die Charakteristika einer weitgehend geteilten Grundperspektive oder einer fachspezifischen Weltsicht zu identifizieren. Paradigmen sind nicht unbedingt als solche historisch eindeutig identifizierbar, sondern sie sind ein Produkt des Wissenschaftsdiskurses. Sie werden zumeist erst im Nachhinein konstruiert, um von einer Weltsicht Abstand zu nehmen, die zuvor nicht einmal notwendigerweise bewusst reflektiert wurde (Wardenga 1996). In diesem Sinne ist unsere Unterteilung der Geographie in Paradigmen eine Konstruktion, die wir vornehmen, um den Übergang zu einer neuen Grundperspektive zu skizzieren. Paradigmen sind keineswegs „wahre Geschichte“, sondern in die Vergangenheit gerichtete Konstruktionen grundlegender Anschauungen und Überzeugungen.

Mit dieser Perspektive zielt dieses Buch darauf ab, aus einer umfassenden Kritik des Paradigmas raumwirtschaftlichen Denkens neue Positionen zu diskutieren und Argumente für eine veränderte Grundperspektive zu entwickeln. Die von uns vorgezeichnete relationale Perspektive der Wirtschaftsgeographie schließt traditionelle Positionen jedoch keineswegs aus. Vielmehr schlagen wir eine Transition des raumwirtschaftlichen Ansatzes in Richtung einer stärker sozialwissenschaftlich informierten Rahmenkonzeption vor, ohne ökonomische Positionen aufzugeben. Es handelt sich hierbei nicht um eine lineare Erweiterung traditioneller Konzepte, sondern um eine Fortentwicklung, die mit einer veränderten Grundperspektive verbunden ist.

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