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2.1.1Die Ursprünge wissenschaftlicher Geographie: Länder- und Landschaftskunde

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Die Geographie hielt als wissenschaftliches Fach erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und damit im Vergleich zu anderen Disziplinen relativ spät Einzug in die Hochschullandschaft (Wardenga 1989). Den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Geographie markiert die Länder- und Landschaftskunde. Befruchtet durch die Tradition der großen Entdeckungen und der Kolonialisierung der Erdteile seit dem späten 15. Jahrhundert befriedigten Geographen als Erdbeschreiber (griech. gaia oder ge = Erde und graphein = schreiben, malen, einritzen) ein gesellschaftliches Bedürfnis nach Entdeckung und Kenntnis ferner Erdregionen und Kulturen. Aus der Tradition dieses Wissensbedürfnisses und aus dem tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Diskurs um den Nationalstaat im 19. Jahrhundert begründete Hettner (1927) in einer Auseinandersetzung mit den Fachgeschichten der Geographie und der Philosophie das Programm der wissenschaftlichen Länderkunde, das später erweitert, systematisiert und modifiziert wurde. Aufgabe der Geographie ist es demnach, die Welt gemäß ihrer Einteilung in „natürlich“ begrenzte Länder zu gliedern (Hettner 1927, IV. Buch; Werlen 1995 b) und in ihrer gesamten Komplexität zu beschreiben. Dabei hat der Landbegriff zunächst noch keine feste räumliche Größenordnung, sondern kann sich auf die ganze Erdoberfläche, Kontinente oder einzelne Orte beziehen. Erst später wird er zusehends auf nationalstaatliche Territorien angewendet.

Das länderkundliche Schema verleiht dem Verständnis Ausdruck, dass ein Land als Gesamtheit aller in ihm vorkommenden Phänomene das höchste Erkenntnisziel darstellt (Weigt 1961). Demnach sind Beschreibungskategorien wie Klima, Boden und Vegetation ebenso bedeutsam wie Bevölkerung, Siedlungen, Kultur, Religion und letztlich die Wirtschaft. Sie lassen sich als Schichten im Gesamtaufbau eines Landes denken und zunächst einzeln beschreiben. Die einzelnen Schichten, später als Geofaktoren bezeichnet, bilden in ihrer jeweiligen Einzelbetrachtung die Grundlage der allgemeinen Geographie (Uhlig 1970). Auch die Wirtschaftsgeographie ist in dieser Konzeption nur eine einzelne Disziplin im System der allgemeinen Geographie. Die Untersuchung der Geofaktoren ist der erste, manchmal sogar als propädeutisch bzw. vorwissenschaftlich bezeichnete Schritt, aus dem das komplexe Wirkungsgefüge der Landschaft erschlossen wird (→ Abb. 2.1). Die später formulierte Landschaftskunde verfolgt demgegenüber das Ziel, in der vergleichenden Betrachtung der Erdoberfläche aufgrund des Wirkungsgefüges einander ähnliche Landschaften in Gattungen zu ordnen (Bobek und Schmithüsen 1949).

Höchstes Ziel der Länderkunde ist es, über die landschaftstypischen Wirkungszusammenhänge hinaus alle Schichten der Landschaft so zu integrieren, dass ein ganzheitliches Verständnis des Landes – gleichsam dessen Totalcharakter – erschlossen wird. Diese Zusammenschau aller Schichten gleicht einer Sicht von oben auf übereinandergelegte Folien, die alle Einzelelemente gemeinsam zum Vorschein bringt. Im Gegensatz zur Landschaftskunde gilt die Länderkunde als idiographisch, d. h. sie begreift einen Erdaus­schnitt nicht als Raumtyp, sondern als einmaliges Raumindividuum mit einem einzigartigen „Schicksal“. Die idiographische und synthetische Zusammenschau der Erdoberfläche zu Ländern genießt in der Länder- und Landschaftskunde allerhöchste Priorität und steht an der Spitze einer hierarchisch gedachten Konzeption der Geographie, wie sie noch 1970 von Uhlig (1970) vorgestellt wurde (→ Abb. 2.1).


Abb. 2.1 Organisationsplan der länder- und landschaftskundlichen Geographie (nach Uhlig 1970, S. 28)

Wissenschaftshistorisch ist es wichtig hervorzuheben, dass dieser Organisationsplan nicht etwa den systematischen Ursprung, sondern das Ergebnis eines fast hundertjährigen Prozesses fortschreitender Konzeption, Kritik und Weiterentwicklung des Geographieverständnisses darstellt. Der Organisationsplan von Uhlig (1970) spiegelt daher nicht präzise die Hettner’sche Idee der Länderkunde wider, sondern veranschaulicht die Grundperspektive wissenschaftlicher Geographie, wie sie aus dem länderkundlichen Diskurs zahlreicher Autoren über mehrere Generationen hervorgegangen ist. Das daraus erwachsene Geographieverständnis erlangte bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts große Bedeutung. Aus der Betrachtung der Anzahl von Publikationen, die den Begriff „Landschaft“ im Titel tragen, wird die sprunghaft zunehmende Verbreitung der Länder- und Landschaftskunde deutlich (→ Abb. 2.2). Die große Verbreitung des Begriffs impliziert dabei auch eine zunehmende Differenzierung der dabei verwendeten Konzepte, so z. B. des Länder- und Landschaftskonzepts (Weigt 1961; Uhlig 1970), wie dies für jede paradigmatische Denkströmung typisch ist. Selbst Hettners gesamtes akademisches Werk steht nicht widerspruchsfrei für eine einzige Fassung der Länderkunde (Wardenga 1996) und ist im Verlauf des Diskurses in mancherlei Hinsicht reduziert und sogar missverstanden worden (Wardenga 1995, Teil I und III). Insgesamt zeigt die paradigmatische Analyse, dass sich länder- und landschaftskundliche Konzepte stets im raumzentrierten, naturalistischen und beschreibenden Denken bewegt haben und nur vereinzelt, nicht jedoch systematisch darüber hinausgingen.

Der historische Anstieg der Zahl der Publikationen mit dem Titelbegriff „Landschaft“ macht außerdem deutlich, dass die Entwicklung eines Paradigmas wie der Länder- und Landschaftskunde nicht nur innerhalb eines Fachs begründet liegt, sondern oft durch allgemeine gesellschaftliche Denkströmungen mit bedingt wird. So lässt sich eine Zunahme des Landschaftsbewusstseins nicht nur in der wissenschaftlichen Geographie (→ Abb. 2.2 a), sondern auch in anderen Disziplinen für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nachweisen (→ Abb. 2.2 b). Mit dem Beginn der methodologischen Revolution setzte jedoch seit den 1940er-Jahren eine zunehmende Kritik am länderkundlichen Denken ein (Hard 1973, 2. Teil).


Abb. 2.2 Veröffentlichungen der Jahre 1900 bis 1960 mit dem Begriff „Landschaft“ im Titel (nach Hard 1969, S. 253 ff.)

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