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Kapitel 5

ERSTES LEBEN

Es ist eines der größten Geheimnisse überhaupt: der Übergang von unbelebter Materie zum Lebewesen. Und das Ganze in einer Umgebung, die wir zwar wissenschaftlich rekonstruiert haben, uns aber in ihrer Exzessivität nicht wirklich vorstellen können.

Soviel wissen wir bisher: Durch das Abregnen des von außen eingetragenen Wassers entstehen gerade die Meere. Der Mond ist der Erde immer noch ziemlich nahe, nicht wie heute fast 400.000 Kilometer, sondern nur 60.000 bis 80.000 Kilometer von ihr entfernt. Deswegen ist die Anziehung zwischen den beiden Himmelskörpern noch viel stärker als heute, und es treten ausgeprägtere Gezeiten auf. Die auf- und abschwellenden Fluten wogen und brechen gegen die allerersten bereits erstarrten Gesteinsinseln, sogenannte Kratone. Das sind die winzig kleinen Kerne der späteren Kontinente, an die im Laufe der Zeit immer mehr Material aus der ozeanischen Kruste andockt. So wachsen die Kratone weiter an, brechen aber auch wieder auseinander. Es herrscht extremer Vulkanismus in einer knisternden Atmosphäre voller Spannung und Energie, von den ständigen Gewittern befeuert. Die Eruptionen sorgen für einen intensiven Eintrag von Elementen aus dem Erdinneren in die Atmosphäre. Sintflutartiger, wahrscheinlich essigsaurer Regen wäscht sie wieder aus.

In diesem turbulenten Gemisch aus Energie und Materie muss es nun passiert sein: die Bildung von ersten organischen Molekülen.

Zunächst waren es nur kleine organische Moleküle, sogenannte Monomere, in denen sich ein paar Kohlenstoffatome miteinander verbunden haben.

Kohlenstoff ist ein wunderbares Element, weil es gerne seinesgleichen sucht, um sich in Einfach-, Doppel- oder Dreifachbindung, sogar Vierfachbindung zusammenzufügen. Dabei entstehen Ketten oder Ringe, in die auch Wasserstoff und Sauerstoff eingebunden werden. Kohlenstoff ist einfach der ideale Verbindungsfachmann.

Aus den Monomeren wurden irgendwann Polymere, kompliziertere, größere Moleküle, an deren Rändern wiederum andere Elemente andockten. Die organische Küche startete ihren Betrieb.

Ab jetzt entwickelten sich immer wieder neue Moleküle, immer neue Varianten. Das war nur möglich, weil ausreichend Energie zur Verfügung stand. Leben kann nur auf einem Planeten entstehen, der genügend Energiequellen hat, damit ihm die Puste beim Experimentieren zwischendurch nicht ausgeht.

Manche der Bindungen brachen auf, und die Atome kombinierten sich wieder auf neue Art und Weise. Da es zu dieser Zeit noch keinen freien Sauerstoff in der Atmosphäre gab, konnte sich auch keine schützende Ozonschicht bilden. Deswegen spielten sich die Kombinationsversuche im Wasser ab. Das wenige Land, das es gab – die Kratone waren wirklich noch sehr klein –, war einem unerbittlichen Bombardement aus harter UV-Strahlung der Sonne ausgesetzt.

In dieser äußerst lebensfeindlichen Anfangssituation fanden sich Moleküle zu immer komplexeren Gebilden zusammen. Dabei kam es auch zur Ausbildung zweier verschiedener Seiten. Eine Seite – sie liebte das Wasser – war hydrophil, die andere hydrophob – sie hasste das Wasser. Ein solch eigensinniges Molekül muss sich immer ausrichten. Die hydrophile Seite strebt zum Wasser, die hydrophobe Seite vom Wasser weg.

Aus vielen dieser Moleküle bildeten sich kleine Bläschen, weil das für sie ein energetisch besonders günstiger Zustand ist. So entstanden erste Strukturen, die einen klar erkennbaren und wirksamen Rand hatten. In der Folge stellte sich das als eine ganz wichtige Eigenschaft heraus.

Heute wissen wir, woraus das Leben besteht: aus Zellen. Und Zellen haben Membranen. Also eine klar definierte Abgrenzung, die wiederum aus Molekülen besteht. Das war der Anfang des Lebens: Moleküle grenzten sich ab, sie profilierten sich.

Wenn die Prinzipien, die wir heute in der Naturwissenschaft kennen, damals schon gültig gewesen sind – und warum sollten sie nicht –, dann ist Leben, der Übergang von anorganischem, also von nicht lebendem Material, zu lebendem, organischem Material, dadurch entstanden, dass sich auf einmal Teile der Materie strukturiert haben.

Elementare Bausteine bilden immer komplexere … nennen wir sie einfach mal Dinge. Zum Beispiel eine Blase, sehr flach, aber durchaus gut getrennt von der Umgebung. Was könnte in dieser Blase sein? Nun, innen könnte etwas mehr oder weniger von dem sein, das auch außen etwas mehr oder weniger vorhanden ist: nur ein leichter Konzentrationsunterschied zwischen innerhalb der Blase und außerhalb, aber der ist der entscheidende Unterschied. Der macht das Leben aus!

Nehmen wir die Kohlenstoffatome meines Körpers oder das Wasser, das in mir drin ist – diese Anteile kann man richtig schön auflisten. Aber die Elemente allein, das ist nicht der Harald Lesch. Der ist die Verbindung dieser Bausteine in einer bestimmten Art und Weise. Und diese Verbindungen haben als kleine Bläschen angefangen, in denen geringe Unterschiede zur Umgebung herrschten. Diese haben dazu geführt, dass sich innerhalb der Bläschen eine andere Chemie abspielte als außerhalb.

Grundlegende physikalische Prinzipien entscheiden darüber, welche Moleküle – ob Ketten- oder Ringmoleküle – am stabilsten sind. Besonders lange Stabilitätsphasen ermöglichen aber auch die Ausbildung neuer Varianten.

Und genau das passiert andauernd. Warum? Weil es in der Nähe von freien Energiequellen ständig Reaktionen gibt, in denen sich Moleküle verändern. Und jedes Mal, wenn eine der Varianten besonders stabil ist und sich unter den gegebenen Umweltbedingungen besonders gut durchsetzt, werden immer mehr davon entstehen. Denn schon auf dieser Entwicklungsebene findet ein Prozess statt, den wir auch in der biologischen Evolution feststellen: Tatsächlich bleiben die Exemplare übrig, die am erfolgreichsten sind. Klingt nach einer Binsenweisheit, ist aber wichtig, wenn man evolutionäre Vorgänge betrachtet. Vor allem dann, wenn diese Evolution schon seit Milliarden Jahren am Werkeln ist.

Beim Aufbau von Molekülen zu immer größeren Molekülen entsteht irgendwann ein besonderes Molekül, das sich selbst reproduziert. Ich rede von der RNS und der DNS, die kennen Sie aus dem Biologieunterricht. Aber haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, ob Leben einfach nur die Addition von elementaren Bausteinen, von Elementarteilchen ist? Wir sind doch keine Elementarteilchen. Wir sind Verbindungen von Molekülen, von großen Molekülen bis hin zu komplexen Zellen. Wir reden hier von einer aufsteigenden Ursache-Wirkungs-Beziehung, einer Bottom-up-Kausalität. Der Prozess führt von elementaren Bausteinen über immer größere Agglomerate bis zu den komplexeren Strukturen.

Auf der anderen Seite wirken die globalen Bedingungen, unter denen das Ganze stattfindet. Die unterliegen einer Top-down-Kausalität. Wir können zum Beispiel nicht in einer Atmosphäre aus Ammoniak und Methan überleben. Wir brauchen Sauerstoff zum Atmen. Das heißt, wir sind extrem von den äußeren Bedingungen abhängig, damit Teile im Inneren ihre Funktionen ausüben können. Holen Sie jetzt mal tief Luft!

So war es auch am Anfang. Die äußeren Bedingungen zur Entstehung von elementaren Bausteinen, die dann zu Teilen größerer Strukturen wurden, die müssen gestimmt haben. Es lässt sich tatsächlich feststellen, dass unter den heutigen Bedingungen auf der Erde gar kein Leben entstanden wäre. Ist das nicht paradox?

Damals bildeten sich die allerersten, einfachen, biogenen Strukturen aus. Das war zwar noch kein richtiges Leben, aber es war schon etwas mehr als nur ein toter Stein oder eine einfache Flüssigkeit. Die Moleküle schlossen sich in protobiotischen, also vorbiologischen Systemen zusammen. Die molekulare Dynamik trieb das Leben über einen sehr langsamen Anfang in einen stetig schneller werdenden Wettbewerb immer neuer Strukturen, bis irgendwann das erste Bakterium da war.

Immer größere Mengen freier Energie wurden gebraucht, um die neuen Strukturen, die nicht im Gleichgewicht mit ihrer Umwelt waren, erhalten zu können. Leben ist – Achtung! – ein dissipatives Nichtgleichgewichtssystem. Das bedeutet, Leben ist weit weg von Gleichgewicht. Leben ist dissipativ. Energie wird verarbeitet, verbraucht, verteilt. Das meiste, was wir an Energie per Nahrung in uns aufnehmen, brauchen wir, um unsere Körpertemperatur zu erhalten. Auch und vor allem für das Denken, denn was der Körper für das Gehirn aufwendet, dient hauptsächlich dazu, das Gehirn warm zu halten. Das Gehirn ist eben kein Computer, sondern eher eine Dampfmaschine. Aber das ist eine andere Geschichte, auf die ich später noch zurückkommen werde.

Leben braucht Energie, Energiefluss, Energieunterschiede und Energie in der richtigen Form. Wärme allein reicht nicht aus. Es müssen Mineralien angeboten werden, es müssen Bausteine angeboten werden. Alles das stand damals im Regal. Das Leben konnte aus dem Vollen schöpfen.

Es gibt mindestens zehn verschiedene Szenarien, wie auf der Ur-Erde Leben entstanden sein könnte. Bei den hydrothermalen Schloten, den Black Smokern, in der Ursuppe, auf Kristalloberflächen, in Mineraloberflächen, im Eis, um nur einige zu nennen. Letzterer Geburtsort ist bei den damaligen Verhältnissen am unwahrscheinlichsten. Alle Varianten gehen davon aus, dass freie Energie zur Verfügung stand, die von den Molekülen verwendet werden konnte. Da niemand dabei gewesen ist, wird sich letztlich nie ganz klären lassen, dass ein Leben begann. Aber allen Modellen ist die Erkenntnis gemein, wie der Übergang von toter Materie zu Leben vonstattengegangen ist. Und das ist der Knackpunkt.


BLACK SMOKER

Auf dem wenige Grad Celsius kalten Meeresgrund tritt über 400 Grad Celsius heißes Wasser aus Thermalquellen. Durch die plötzliche Abkühlung des mineralreichen Wassers werden Sulfide und Salze von Eisen, Kupfer, Mangan und Zink ausgefällt. Eines von vielen Szenarien für eine Ursuppe.

Der Naturalismus, das ist die philosophische Grundposition des Naturwissenschaftlers, betrachtet die Welt nach dem Motto: Alles geht mit rechten Dingen zu. Das klingt wie eine Binsenweisheit, bedeutet aber, dass auch bei der Untersuchung sehr rätselhafter Ereignisse wie der Entstehung des Lebens, das wir im Nachhinein zwar als ein Wunder, als den Beginn eines rauschenden Festes betrachten können, trotzdem rein menschliche Verstandesquellen in Anspruch genommen werden. Alles muss plausibel und konsistent erklärbar sein, ohne auf übernatürliche Erkenntnisquellen zuzugreifen. Wir können es heute erklären. Wir können mit Physik, Chemie und Biologie verstehen und nachvollziehen, wie das Leben auf der Erde entstanden ist.

Wir können sogar verstehen, warum chemische Systeme in Kooperation getreten sind. Sie taten es, weil sie einen physikalischen Vorteil davon hatten: Sie wurden stabiler. Bei der Evolution geht es nicht nur um Wettbewerb, um Du oder Ich, sondern auch um die kooperative Vernetzung von chemischen Strukturen, die nun besser an die äußeren Bedingungen angepasst sind und so am Ende eher überleben als ein einsamer Single.

Auch für unsere Zukunft wird die Methode der besseren Anpassung durch Gemeinsamkeit eine große Rolle spielen. Die Evolution ist nicht nur Survival of the Fittest. Wobei zu fragen ist: Was ist fit? Was bedeutet es, in einer Welt anpassungsfähig zu sein, die zum Beispiel von 90-Grad-Winkeln bestimmt wird? Nehmen wir mal an, es gäbe so eine Welt. Da ist man als Kugel ziemlich schlecht angepasst, eckig wäre eindeutig besser. Die Fähigkeit, sich an die äußeren Bedingungen anzupassen, ist die Überlebensfähigkeit schlechthin. Ein Stein kann sich nicht anpassen. Ein Stein ist und bleibt ein Stein. Ein Lebewesen hingegen kann sich verändern. Anpassungsfähigkeit ist eine geniale Idee, sie ist der Funke, der das Leben in all seiner Vielfalt auf der Erde hervorgebracht hat.

Kurze Blende ins Heute: Die ersten Lebewesen auf der Welt, die Bakterien, die gibt es immer noch. Bakterien sind Zellen ohne Kern. Ihr Erbgut ist in der ganzen Zelle verteilt. Diese Lebewesen vermehren sich am schnellsten, manche verdoppeln sich innerhalb von 20 Minuten. Theoretisch könnte ein winziges Bakterium innerhalb von zwei Tagen, vorausgesetzt es steht genügend Nahrung zur Verfügung, durch Vervielfältigung mehr Biomasse erzeugen, als heute auf unserer Erde ist.

Wer schon einmal eine Bakterieninfektion hatte, der weiß, dass sich Bakterien explosionsartig vermehren können. Der Mensch kann diese uralten Mechanismen vom Anfang des Lebens aber auch nutzen, indem er die Stoffwechselprozesse der Bakterien manipuliert. Zum Beispiel in Biogas-Anlagen, in Kläranlagen, sogar beim Abbau von Kupfer werden Bakterien eingesetzt.


BAKTERIEN

Bakterien waren vor etwa 3,4 Milliarden Jahren die ersten Lebewesen auf der Erde.

Zur Erinnerung: Bakterien sind die ältesten Lebewesen auf der Erde. 3,4 Milliarden Jahre alt. Einige Hinweise lassen vermuten, dass es Leben vielleicht schon vor 3,8 Milliarden Jahren gab. 400 Millionen hin oder her – das bewegt nur die Spezialisten.

Wir Menschen nutzen heute die uralten Rezepte dieser Entwicklung zu unseren Gunsten. Inzwischen erzeugen wir unsere Nahrung selbst. Wir sind keine Jäger und Sammler mehr, wir sind Landwirte geworden, sogar Agraringenieure. Mit unseren Kenntnissen von den Entstehungsprozessen des Lebens dringen wir immer tiefer in die Struktur der biologischen Materie ein, bis auf das Niveau von Bakterien und zwingen sie dazu, genau das zu tun, was wir wollen.

Das machen wir nicht nur bei den Bakterien so, sondern auch bei unseren eigenen Genen. Wir untersuchen unser Erbgut sehr genau auf mögliche Schäden. Je tiefer wir in die Mechanismen und Strukturen der biologisch aktiven Materie eindringen, umso mehr Möglichkeiten tun sich auf. Wir wissen, wie Proteine erzeugt werden, wie unser Stoffwechsel funktioniert, wie das Erbgut abgeschrieben wird.

Der Homo sapiens weiß, dass er auf dem Planeten Nr. 3 innerhalb des Sonnensystems lebt. Er weiß, dass dieser Planet eine Kugel ist, die sich um einen Stern dreht. Er weiß auch, wie die Materie aufgebaut ist. Er weiß, welche Elemente und welche chemischen Möglichkeiten es gibt, diese Elemente miteinander zu verbinden. Er versteht die organischen Prozesse und kann damit sogar ein Lebewesen so manipulieren, dass es Produkte erzeugt, die wir essen können, oder dass es Metalle wie Kupfer abscheidet.

Um unseren unmäßigen Kupferbedarf weiterhin zu befriedigen und immer mehr Kupfer aus dem Erdboden herauszuholen, tauchen wir schon den Abraum einer Bergbaumine in ein Laugenbad. Darin befinden sich Bakterien, die Metalle sortieren. Wenn das Schule macht, werden überall riesengroße Laugenbecken entstehen, in denen Bakterien für uns arbeiten.

Deshalb haben all diese Vorgänge aus der frühen Urzeit des Lebens auch heute noch so eine große Bedeutung für uns Menschen und unser Handeln in der Welt. Wir manipulieren sogar die ältesten Lebewesen auf unserem Planeten, damit sie das tun, was wir wollen. So etwas gab es noch nie. Auch darin sind wir wirklich einzigartig.

Die Menschheit schafft sich ab

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