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ОглавлениеKapitel 12
DAUMEN HOCH
An dieser Stelle muss ich Sie doch mal fragen: Ist Ihnen bewusst, von welchem zeitlichen Ausmaß, um nicht zu sagen Übermaß wir hier sprechen? Die kosmische Evolution umfasst Milliarden von Jahren. Millionen von Jahren dauerte es, bis unser Planet entstanden war und immer noch Milliarden Jahre, bis das Phänomen Leben in Erscheinung trat. Ein unfassbarer Zeiten-Raum.
Als der Mensch langsam begann, Einfluss auf seine Umwelt zu nehmen, grob vor 150.000 Jahren, gab es möglicherweise noch andere Arten der Gattung Homo. Hinweise lassen vermuten, dass der Homo sapiens damals nur eine relativ kleine Gruppe, eine Untergruppe der Primaten darstellte. Aber mit dieser Spezies war eine neue Art entstanden von – ja, von was eigentlich? Von Mensch? War dieses Wesen schon menschlich? Auf jeden Fall war es ein Produkt der Evolution und damit ein Modell, das nicht völlig unabhängig von allen anderen in seiner Umgebung entwickelt worden ist, sondern die meisten Fähigkeiten von den Vormodellen übernommen hat.
Das klingt irgendwie nach Autoindustrie, meinen Sie? Aber ja, Ihr Auto hat vier Räder, vier Türen und so weiter, wie die Vorgängermodelle seiner Marke, aber vielleicht fährt es mit einer neuen Antriebsart – elektrisch gar? Und dieser neue Mensch, der Homo sapiens, ging aufrecht, wie es seine Ahnen auch schon manchmal ausprobiert hatten. Damit hatte er die Hände frei, konnte sie viel öfter als seine Vorfahren für andere Dinge als die Fortbewegung einsetzen.
Seine Hände verfügten zudem bereits über eine besondere Funktionalität, von der gleich noch die Rede sein wird. Schließlich waren es nicht zuletzt die Hände des Homo sapiens, die neben anderen Besonderheiten zu seinem beispiellosen Erfolg beigetragen haben und die andere, zeitgenössische Menschenmodelle in der Mottenkiste der Geschichte verschwinden ließen.
DIE VERBREITUNG DES HOMO SAPIENS ÜBER DIE ERDE
Die Verbreitung des Homo sapiens über die Erde begann in Afrika.
Archäologische Befunde und die Genlinien belegen: Zuerst wanderten die Menschen in den Nahen Osten (90.000 bis 55.000 Jahren) dann nach Südasien und vermutlich vor etwa 50.000 bis 60.000 Jahren nach Australien. Dabei folgten sie, wie schon in Afrika, dem Verlauf der Küsten.
Erst später (30.000 bis 10.000 Jahre) wurden Zentral- und Ostasien, Nord- und Südamerika sowie Europa besiedelt. Bis vor wenigen tausend Jahren teilten die modernen Menschen dabei ihren Lebensraum mit weiteren Arten aus der Gattung Homo, in Europa etwa mit den Neandertalern.
Die früher verbreitete Ansicht, wonach Homo sapiens sich auf mehreren Kontinenten getrennt voneinander aus Homo erectus entwickelte („multiregionaler Ursprung des modernen Menschen“), kann heute als widerlegt gelten.
Der Homo sapiens besiedelte nicht nur alle Kontinente, sondern ihm gelang es in einzigartiger Weise, fast alle Ökosysteme der Erde zu erobern. Ein Universallebewesen, das sich selbst unter harschen, lebensfeindlichen Bedingungen behaupten konnte: Ob im ewigen Eis des Nordens, in den tropischen Regenwäldern rund um den Äquator, ob in der Sahara oder im australischen Outback, im Hochland der Anden und des Himalaya oder auf den Inseln des Südpazifiks.
Wir haben es hier mit einer völlig neuen Qualität von Lebewesen zu tun. Die Diskrepanz gegenüber den hominiden Artgenossen brachte den einen oder anderen Bestseller-Autor auf die Idee, wir könnten von Außerirdischen abstammen. Tatsächlich aber ist der Homo sapiens aus der erdeigenen evolutionären Entwicklung entstanden, unter den damaligen Rand- und Anfangsbedingungen auf unserer Erde und dem Diktat der Naturgesetzlichkeiten.
Dieses Wesen ist ein Wunder, betrachtet man es in fertiger beziehungsweise heutiger Form. Im Grunde genommen aber ist seine Entstehung einfach nur folgerichtig. Unter anderen Bedingungen, auf anderen Planeten, zu anderen Zeiten passiert wieder etwas ganz anderes.
Schauen wir von heute 10.000 Jahre zurück, stellen wir fest, dass bereits sämtliche anderen Hominiden außer dem Homo sapiens ausgestorben waren. Über die Gründe gibt es verschiedene Theorien. Vielleicht haben sie sich gegenseitig umgebracht, vielleicht war ihre Geburtenrate zu gering. Oder hat der Homo sapiens etwa alle anderen umgebracht? Wir wissen es nicht. Aber irgendetwas Fatales muss passiert sein, wenn von mehreren unterschiedlichen Gattungen am Ende nur noch eine übrig bleibt.
Tatsächlich ist erdgeschichtlich etwas sehr Wirkungsmächtiges passiert: Es gab eine Eiszeit. Als diese letzte Eiszeit begann, war der Homo sapiens nur eine Art unter vielen. Aber ihn zeichneten Eigenschaften aus, die ihn in jener Zeit verschärfter Umweltbedingungen zur absoluten Nummer 1 werden ließen.
Was macht nun unseren Homo sapiens so besonders? Diese Menschenart muss irgendwie schlauer sein als die anderen Spezies seiner Gattung. Sie kann offenbar unter härteren äußeren Bedingungen besser überleben. Warum können die anderen das nicht? Möglicherweise, weil sie einfach an nichts anderes denken als … eben, nichts. Woher können wir wissen, ob und was die damals dachten? Hatten sie eine Sprache? Eine Denksprache? Oder praktizierten sie nur eine sensorielle Sprache? Stellen wir uns vor, einem Hominiden wird kalt. Wie reagiert er darauf? Er zieht sich zurück in eine Höhle. Das war’s. Andere saßen aber schon am wärmenden Lagerfeuer. Zwar konnte Homo erectus schon vor 1,7 Million Jahren mit Feuer umgehen, aber erst der Mensch machte aus dem Feuer ein Werkzeug. Mithilfe dieses Werkzeugs kann er sich vor seinen Feinden in kältere Gebiete in Sicherheit bringen. Er sucht geradezu die Kälte, verlässt sogar den wärmeren Kontinent Afrika. Das ist ihm nur möglich, weil er das Feuer beherrscht. Er kann sogar Nahrung mit Hilfe des Feuers aufbereiten, praktisch vorverdauen, sich somit viel besser ernähren als seine Zeitgenossen und folglich seine Population vergrößern.
Selbst der Neandertaler mit seinem größeren Gehirn hatte keine Chance gegen die Geschicklichkeit und die Intelligenz des Homo sapiens. Dieser erste Mensch hat seine Fähigkeiten immer mehr und mehr perfektioniert. Vielleicht ist genau dieser Drang, Dinge besser zu machen, auch ein wesentlicher Grund dafür, weshalb der Homo sapiens sich anstelle des Neandertalers durchgesetzt hat.
Es ist übrigens unlängst eine interessante Nachricht veröffentlicht worden – nur mal so am Rande: Schimpansen spielen lieber mit Werkzeugen als Bonobos. Das ist bemerkenswert. Der Grund liegt in ihrer Abstammungsgeschichte. Die Bonobos gehören zu einer anderen Art, die einfach nicht eine so ausgeprägte Neugier wie die Schimpansen entwickelt hat. Denken Sie nicht, Tier ist Tier! Nein, wir sehen schon am Anfang der Entwicklungslinie der Hominiden, der Menschenartigen, dass da etwas ganz Neues passiert sein muss. Die Anlage von Neugier gehörte dazu. Später führte genau diese Eigenschaft – im Zusammenspiel mit der ganz besonderen Hand des Homo sapiens – dazu, dass die Generationen dieser Entwicklungslinie Dinge immer weiter perfektionieren konnten.
Kommen wir nun zum Daumen. Sie glauben gar nicht, welche Bedeutung diese zwei Finger vor allen anderen acht Fingern haben. Zum einen ist der Daumen des Menschen länger als der der Primaten, zum anderen kann er durch das Sattelgelenk auf eine Weise bewegt werden, die Dinge besonders gut greifen und festhalten lässt. Mit dieser neuen Greiftechnik lässt sich ein Objekt sehr genau anschauen, im wahrsten Sinne des Wortes begreifen. Dabei kann der Daumen mit anderen einzelnen Fingern zusammenarbeiten und, noch besser, wir können alle fünf Finger dazu benutzen, Dinge zu manipulieren. Die außergewöhnliche Beweglichkeit unseres Daumens und seine Interaktion mit den übrigen Fingern macht es möglich, Dinge so zu verformen, dass daraus Werkzeuge entstehen.
Auf diese Weise tritt der Mensch in den Dialog mit der Natur: Aha, so sieht das aus – das könnte vielleicht für irgendwas verwendet werden. Im begreifenden Dialog mit der Natur erwachsen dem frühen Menschen Erfahrungen, die allen anderen Hominiden verwehrt bleiben – er lernt! Mit was lernt man? Genau, mit dem Kopf. Möglicherweise kann das Erlernte im Laufe vieler Generationen schließlich als Know-how im Gehirn abgespeichert werden. Es wird irgendwann einfach da sein, einfach zur Verfügung stehen.
Aber auch auf einer ganz anderen evolutionären Ebene kann die Erfahrung innerhalb einer Gruppe weitergegeben werden, – über die Sprache. Der Kehlkopf des Menschen befindet sich an einer Stelle im Hals, die es ihm möglich macht, Töne so differenziert zu modulieren, dass sie als Informationsmedium für die Artgenossen verwendet werden können.
Fassen wir zusammen: Eine veränderte klimatische Situation übt auf den Homo sapiens einen enormen Anpassungsdruck aus, was zu einer Verbesserung seiner Fähigkeiten führt. Er hat einen Daumen, der es ihm ermöglicht, Werkzeuge zu entwickeln, und er beherrscht das Feuer. Er geht aufrecht, was ihm die Freiheit seiner Arme beschert. Die besondere Beweglichkeit seiner Hände und Finger lässt ihn Erfahrungen machen, die die Entwicklung seines Gehirns beeinflussen. Währenddessen verlässt er sogar seinen angestammten Kontinent. Weil er sich besser ernährt, steigt seine Vermehrungsrate an.
Und damit kommen wir zum springenden Punkt, an dem sich das Schicksal des ganzen Planeten entscheidet: Immer mehr Menschen verändern ihre Umgebung immer mehr. Noch nicht als Landwirte, das werden sie erst viel später. Aber bereits als Jäger und Sammler beeinflussen sie ihre direkte Umwelt. Je größer die Gruppe, um so größer ihr Erfolg.
Eine kleine Randbemerkung, jetzt mal nur so unter uns: Damals ist wahrscheinlich so richtig tief im menschlichen Gehirn verankert worden, dass Wachstum etwas Positives ist. Das erschüttert Sie? Mich auch, das können Sie mir glauben, aber das musste mal so deutlich gesagt werden. Wachstum ist für uns außerordentlich positiv besetzt und das selbst wider besseres Wissens. Dabei kann es gar kein grenzenloses Wachstum geben, schon aus physikalischen Gründen. Aber was sollen wir machen, die Gier nach Wachstum ist evolutionär in uns angelegt.
Eine größere Gruppe vermittelt mehr Sicherheit für den Einzelnen. Mehr Gruppenmitglieder und mehr Jagdbeute lässt ihn ruhiger schlafen. Sicherheit, heute könnte man auch von Gottvertrauen sprechen, bedeutet, dass ich mich nicht jede Sekunde um mein Überleben kümmern muss. Und je sicherer sich die Individuen einer Gruppe fühlen, umso mehr haben sie Muße, ihrer Neugier freien Lauf zu lassen. Wenn man sich die ganze Zeit nur Sorgen macht, wo man Wasser herbekommt, wo man was zu essen herkriegt, kann man keine neuen Erfahrungen machen, solche Erfahrungen, die den Menschen in seiner Entwicklung weiterbringen. Neugier ist der Luxus der beschützenden Gruppe.
Das Sicherheitsbedürfnis auf der einen, die anregende Spannung der Neugier auf der anderen Seite, das ist das Alleinstellungsmerkmal, das den Homo sapiens auszeichnet. Dadurch wird er zum wirkungsmächtigsten Lebewesen des Planeten, das sogar die Fähigkeit haben wird, das Klima des gesamten Globus zu verändern.
Es gibt auch noch eine andere interessante Entwicklung. Die hat mit den Zähnen zu tun. Weil die Nahrung durch das Feuer schon vorverdaut war, kam es zu einer Rückbildung der Kaumuskulatur, sodass es nicht mehr nötig war, das harte Zeug zu zermalmen, aus dem immer noch die Nahrung der anderen Hominiden-Gruppen bestand. Der Rückgang der Kaumuskulatur, die Schrumpfung der gesamten Kieferarchitektur hat dem Gehirn erst den Platz im Schädel bereitgestellt, den es zum Wachstum nutzen konnte.
Am Anfang stand das Phänomen des Lernens. Die Individuen, die lernfähiger waren als andere, haben sich durchgesetzt. Sie verfügten aber nicht nur über kognitive Fähigkeiten, sondern bildeten auch die sozialen Fähigkeiten aus, die für das Überleben der Gruppe als Ganzes von Vorteil waren. Für soziales Verhalten ist wiederum die Sprachfähigkeit unerlässlich. Heute wissen wir, dass die Sprachfähigkeit mit dem Gehirn rückgekoppelt ist. Das bedeutet, je mehr ich spreche, je mehr ich sozial interagiere, umso aktiver ist mein Gehirn. Das ist sogar messbar. Sie wissen, was mit Ihrem Muskel passiert, wenn Sie ihn intensiver benutzen? Genau, er wächst und wird stärker. So arbeitet auch das Gehirn. Nur wer es benutzt, stärkt seine Funktionalität.
Übrigens können wir heute unsere mentalen Aktivitäten mit der Positronenemissionstomographie messen, während wir mit anderen interagieren. Die Bibel (Neues Testament, Apostelgeschichte 20,35 LUT) hat es schon viel früher gewusst als diese Untersuchungstechnik: Geben ist seliger denn nehmen. Es ist tatsächlich im Gehirn ablesbar, dass der Mensch sich mehr freut – in Form eines hormonellen Ausstoßes –, wenn er etwas gibt, als wenn er etwas nimmt. Kein Kommentar.
Zurück zur Zeit vor 70.000 Jahren. Ich darf Ihnen die Geschichte mit dem Supervulkan nicht unterschlagen. Das bringt uns jetzt zwar ein bisschen aus dem Erzählfluss unserer großen Vorgeschichte, aber es könnte sein, dass es ein entscheidender Moment in der Menschheitsgeschichte gewesen ist, und deshalb müssen Sie davon erfahren.
Bei der Untersuchung unserer genetischen Ausrüstung haben wir festgestellt, dass wir von sieben Mutterlinien abstammen. Hat es damals wirklich nur sieben Mütter gegeben? Kommt Ihnen das auch zu wenig vor? Angesichts der Tiefe der Zeit von einigen Hunderttausend Jahren haben sogar die Anthropologen viel mehr Mutterlinien erwartet.
Für diejenigen, die sich wundern, wie man so was herausfinden kann, hier das Stichwort zum Nachschlagen: die Mitochondrien-DNA, auch RNA genannt. An dieser Stelle nur so viel: Mitochondrien, Teile unserer Zellen, besitzen ein eigenes Erbgut, das sich auf der Mutterlinie nachverfolgen lässt. Anhand seiner Variationen können wir feststellen, woher wir kommen. Es gibt nur sieben Variationen, die in ihrer Vielfalt nur in Äthiopien zu finden sind, in Feuerland dagegen kommen die wenigsten vor. Daraus können wir schließen, dass Amerika zuletzt kolonisiert worden ist und dass der Mensch in Ostafrika seinen Ursprung hat.
Warum haben wir nur sieben Mutterlinien? Das könnte an einem Ereignis liegen, das sich auf die Entwicklung des Menschen als sogenannter Flaschenhals ausgewirkt hat: der Ausbruch des Supervulkans Toba. Vor ungefähr 72.000 Jahren explodierte er in Indonesien, was in der Folge der belebten Welt einen ganz erheblichen Schaden zufügte. Die Explosion muss so gewaltig gewesen sein, dass sich das Klima über viele Jahrzehnte in einem Ausmaß abkühlte und damit zum Aussterben wesentlicher Teile der Fauna und Flora führte. Heute müssen wir davon ausgehen, dass der Ursprungsstamm der Menschheit nur aus wenigen Tausend, vielleicht sogar nur aus wenigen Hundert Individuen bestand. Das müssen Sie sich mal vorstellen: Diese kleine Gruppe war der Initiator einer der erfolgreichsten Besiedelungen des Planeten Erde und seiner totalen Vereinnahmung.
Was passierte nun als nächstes? Was geschieht in der Zeit zwischen 70.000 und 10.000 vor unserer Zeitrechnung? Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass sich der Mensch die lokale Natur immer mehr untertan machte. Wir haben ein 35.000 Jahre altes Kultobjekt gefunden – die Venus vom Hohlefels – das uns vermuten lässt, dass der damalige Mensch sogar eine Vorstellung von einer anderen Welt hatte. Vielleicht konnte er sich ein Leben an einem anderen Ort vorstellen, nicht nur hier auf der Erde. Vielleicht dort, wo seiner Erfahrung nach der Ursprung so mancher Naturkräfte lag – im Himmel? Hatte der frühe Mensch schon eine Vorstellung von Gott? Woher kommt die Fähigkeit des Gehirns, zu extrapolieren, Wirklichkeit zu simulieren? Evolutionstheoretiker haben dazu ganz unterschiedliche Ideen. Eine, die ich besonders interessant finde, hat wieder mit der Hand zu tun.
DIE VENUS VOM HOHLEFELS
Die Venus vom Hohlefels, eine etwa sechs Zentimeter hohe, aus Mammut-Elfenbein geschnitzte Venusfigur. Sie wurde im September 2008 bei Ausgrabungen in der Karsthöhle Hohler Fels im Süden der Schwäbischen Alb entdeckt.
Ihr Alter wird auf 35.000 bis 40.000 Jahre geschätzt. Damit ist sie neben der etwa gleich alten Venus vom Galgenberg die älteste figürliche Darstellung des menschlichen Körpers, das älteste figürliche Kunstwerk der Welt.
Da muss ich gerade an diese Science-Fiction-Filme denken, in denen irgendwelche Außerirdischen über die Leinwand tentakeln. Nur, mit Tentakeln hältst du keinen Lötkolben. Im Übrigen bin ich überzeugt, wenn wir Außerirdische finden oder wenn die Außerirdischen uns finden, werden wir feststellen, dass die sogar noch ein paar Finger mehr haben als wir. Auf jeden Fall werden sie aber so was Ähnliches wie einen Daumen besitzen, den Schlüssel zum Erfolg. Denn schließlich gelten die Naturgesetzlichkeiten auch für Außerirdische.
Die menschliche Hand kann nicht nur halten und manipulieren, sie kann sogar werfen. Diese Fähigkeit führte zu größerem Jagderfolg, zunächst nur mit Hilfe von Steinen, später kam ein Speer dazu. Je besser die Flugeigenschaft der Waffe, umso länger lebt der Jäger, kann er doch in sicherer Entfernung zum Beutetier bleiben.
Es kam aber noch etwas hinzu, das die Denkfähigkeit des Homo sapiens auf eine neue Art und Weise herausforderte. Stellen Sie sich doch mal vor, Sie wollten eine Antilope jagen. Nun ist dieses Tier von Haus aus sehr schnell. Wenn Sie gerade Ihren Speer geworfen haben, ist die Beute schon ein ganzes Stück weiter gelaufen. Ihr Speer wird das Tier so nicht treffen. Da hilft nur, sich vorzustellen, wo das Tier in absehbarer Zeit sein wird, und genau da werfen Sie den Speer hin. Ihre Chancen, die Antilope zu treffen, werden immer größer, je besser Sie deren Aufenthaltsort antizipieren können.
Noch besser: Ich stehe am Fluss und sehe einen Fisch. Genau da steche ich rein mit meinem Speer. Und? Hab ich ihn? Wohl eher nicht, denn durch die Lichtbrechung des Wassers steht der Fisch nur scheinbar da, wo ich hinziele. Tatsächlich steht er ein bisschen weiter rechts oder auch links. Das bedeutet für mich, ich muss mir Gedanken darüber machen, was das Medium, durch das ich mit meinem Speer durch muss, mit den Lichtstrahlen macht.
Sie sehen, dass scheinbar einfache Alltagsüberlegungen des Jägers und Sammlers, bereits eine enorme Abstraktionsfähigkeit verlangen. Will der Mensch erfolgreich sein, muss er zum Visionär werden, und das meine ich hier nur in einem unmittelbaren zeitlichen Sinn. Er muss in der Lage sein, sich etwas vorzustellen, seine Erfahrungen als Basis für Extrapolationen zu verwenden. Wo willst du hin? Welche Ziele möchtest du erreichen, und wie kannst du das am besten tun? Solche Überlegungen sind für uns heute geradezu trivial, aber für die ersten Menschen bedeuteten sie eine Revolution. Ihr Gehirn entsprach nach damaligen Maßstäben quasi einem Hightech-Rechner.
Das größere und leistungsfähigere Gehirn, das sich auch noch sozial verhalten konnte, das zur Sprache fähig war und damit Erfahrung und Wissen innerhalb der Gruppe verteilte, hat schon damals in einer Art und Weise auf die Welt gewirkt, wie das vorher und nachher noch bei keinem anderen Lebewesen möglich war.
Es gibt kaum so etwas wie einen Transport von komplexen Erfahrungen zwischen einfachen Lebewesen, denn dafür braucht man auch komplexe Informationswege, man braucht eine komplexe Sprache. Wir Menschen haben diesen Evolutionsweg erfolgreich weiterverfolgt, denken Sie nur an die Unmengen von Informationen, die wir heute digital verarbeiten. Mithilfe der Sprache hat der damalige Mensch aber nicht nur viele grundlegende, ja existenzielle Informationen, die den Alltag betreffen, das Jagen, Essen oder Sammeln, in seiner Gruppe weitergegeben. Er begann offenbar auch von den eigenen inneren Welten zu erzählen. Höhlenmalereien berichteten von Träumen, Ängsten und Hoffnungen womöglich ganzer Stämme, die sich dort immer wieder trafen. Und natürlich wurde davon gesprochen, es wurden Geschichten erzählt. Auf Angst und Furcht wird tröstend und vertrauenerweckend eingegangen worden sein: Mach dir keine Gedanken, wir helfen dir. Auf diese Weise begann sich das gesamte Instrumentarium emotionaler und sozialer Kompetenzen auszubilden. Alles das, was wir unter Menschlichkeit verstehen, wie wir uns um andere kümmern, wenn wir sie leiden sehen, unsere Bereitschaft, elternlose Kinder aufzuziehen, uns um die Enkelkinder zu kümmern, alles das sind die Früchte eines evolutionären Prozesses, der vielleicht nur wenige 10.000 Jahre gedauert hat. Angelegt wurde er aber schon weit in den zeitlichen Tiefen der Primatenentwicklung.
Der Homo sapiens ist angesichts all der Fähigkeiten, die andere nicht hatten, schlicht und einfach das Premiummodell. Aber wie das bei Premiummodellen so ist, sie haben einen relativ hohen Energieverbrauch. An anderer Stelle habe ich es schon mal gesagt: Unser Gehirn nimmt volle 20 Prozent unseres gesamten Energiehaushalts in Anspruch, und das obwohl es nur 1,5 Kilogramm wiegt. Wenn unsere Zentrale ausfällt, fehlen uns wesentliche kognitive Fähigkeiten, und wir sind völlig wehrlos, aber auch hilfsbedürftig. Dazu passt unsere Hilfsbereitschaft, die ganz tief in uns angelegt zu sein scheint.
Das ist die eine, die gute Seite unserer Sozialität. Die andere legt schon eine härtere Gangart vor. Als Säugetiere sind wir geradezu dazu verdammt, ständig unsere Perspektiven für einen Aufstieg innerhalb unserer Gruppe zu erkunden. Im Gegensatz zu Insekten, die auf die Welt kommen und ihrer vorher schon festgelegten Bestimmung folgen. Eine Arbeiterbiene wird immer eine Arbeiterbiene bleiben, eine Drohne eine Drohne; die haben keine Chance, da jemals rauszukommen. Säugetiere aber können durch den Erwerb neuer Fähigkeiten innerhalb ihrer Gruppe große Erfolge feiern. Die können sogar bis zur Spitze aufsteigen, bis zum Chef. Allerdings ist der Preis für diese Erfolgschance durchaus hoch – nämlich der andauernde Wettbewerb mit den Anderen.
Dieser kontinuierliche Wettkampf um Status in der eigenen Gruppe, aber auch in der Konkurrenz zu anderen Gruppen oder Stämmen wird umso wichtiger, je weiter sich der Mensch der Vorzeit über den Planeten ausbreitete. Vor allem auch bei der vor grob 10.000 Jahren datierten neolithischen Revolution, die sich kurz nach dem Ende der letzten Eiszeit einstellte. In ihrem Wirkungsfeld wurde die Entwicklung der Menschheit noch einmal außerordentlich stark beschleunigt und verbessert. In dieser Zeit haben sich die ersten Kulturen gebildet – Vorkulturen, die sich durch eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Geschichten, Nahrungsvorlieben und anderes auszeichneten. Daran haben sich ihre Mitglieder erkannt und sich einem bestimmten Sprach- und Geschichtenraum zugehörig und in ihm sicher gefühlt.
Kennen Sie die Venus von Willendorf? Eine kleine Figur aus der jüngeren Altsteinzeit, die schon früh den wichtigsten Faktor für die Stabilität einer Gruppe symbolisiert: die Fruchtbarkeit der Frau. Gleichzeitig spielt diese archaische Frauenfigur auf Nahrungssicherheit (die Venus ist ziemlich kräftig gebaut) und auf die Sicherheit an, die für die Aufzucht des Nachwuchses notwendig ist. Denn nur in einer gesicherten Umwelt waren die frühen Menschen zu mehr Wachstum fähig, Wachstum in jeder Hinsicht, körperlich und geistig. Aber auch räumlich, zum Beispiel trauten sie sich innerhalb ihrer Sprachräume immer größere Entdeckungsreisen zu, wodurch sie wiederum mehr Erfahrungen gewinnen konnten.
DIE VENUS VON WILLENDORF
Symbol für die Fruchtbarkeit der Frau. Die 11 Zentimeter hohe Skulptur aus Kalkstein, die 1908 gefunden wurde, ist auf ein Alter von 29.500 Jahren datiert.
Somit hatte die Entwicklung der Menschheit in der Zeit der letzten Eiszeit bis zu ihrem Ende vor 10.000 Jahren die Voraussetzungen geschaffen für das, was anschließend passierte: den Übergang von der Jäger- und Sammler-Gesellschaft hin zur Sesshaftigkeit. Fruchtbares Land wurde zu Eigentum erklärt und damit der kulturelle Raum erschlossen. Siedlungen und Städte bildeten sich, Kulturen begründeten sich, verfestigten und stabilisierten sich teils für lange Zeiträume und schafften so sichere Rückzugsräume für Entdecker. Diese Kulturen konkurrierten und führten Eroberungskriege. Sicherheit im eigenen Kulturraum erzeugte auf der anderen Seite die Neugier, Grenzen welcher Art auch immer zu überschreiten; vor allem bei steigender Populationsgröße. Die pure Lust an der Eroberung neuer Lebensräume und Ressourcen machten die frühe Zeit des Neolithikums zu einer revolutionären Phase der Menschwerdung.
Stellen wir uns mal für einen winzigen Moment vor, wir müssten in der Eiszeit eine Hütte bauen. Der Wind weht uns kalt um die Ohren, die Kinder schreien, unser entzündeter Zahn bringt uns um, und der Säbelzahntiger umschleicht uns. Aber wir, Sie und ich und 20, 30 andere Leute sind in der Lage, eine schützende, wärmende Hütte zu bauen. Alle anderen erfrieren.
Durch die Fähigkeit, schützende Strukturen aufzubauen, fand eine weitere Verstärkung der kulturellen Entwicklung statt. Nicht nur die nomadisch lebenden Jäger und Sammler waren vereinzelt dazu in der Lage, sondern es haben sich kulturelle Gruppen untereinander verständigt. Dieser Moment, der tatsächlich aber einige Zigtausend Jahre dauerte, markiert den eigentlichen Anfang der Geschichte des Menschen. Wir haben noch keine schriftlichen Überlieferungen aus dieser Zeit, aber wir können schon so weit und so klar zurückblicken, um festzustellen: Nun ist die Urzeit des Menschen abgeschlossen.
Die kontinuierliche Verbesserung aller Qualitäten und Eigenschaften, sowohl der kognitiven wie auch der handwerklichen, haben eine soziale Struktur entstehen lassen, in der der Mensch sich als Mitglied der Gruppe selbst stabilisiert. Er lernt unablässig, denn ständig liefern er und alle anderen Gruppenmitglieder neue Informationen aus Umgebung und Stamm. Damit einhergehend wurde nicht nur die Umgebung immer besser erforscht, sondern die Nutzung der natürlichen Umwelt wurde immer weiter optimiert. Das Ergebnis des allmählichen Lernens waren die Stabilisierung und Vergrößerung der Gruppe. Und je größer die Gruppe, umso intensiver kann sie die Ressourcen nutzen. Der Rest ist sozusagen Paleo Ökonomie – wirtschaftliches Denken im Sinne einer evolutionären Entwicklung. Je besser sich diese Gruppen angepasst haben, umso stärker haben sie sich durchgesetzt, und vor allem die Zahl der Gruppenmitglieder ist konstant gestiegen.
Damit aber auch große Gruppen auf Dauer stabil bleiben konnten, bedurfte es gewisser Steuerungsmittel, nicht nach außen, sondern intern. Und die Funktion solcher, ich will mal sagen Zügel, die das tierische Verhalten im Zaum halten konnten, übernahm die Kultur. Die kulturellen Regeln sorgen bis heute weitestgehend dafür, dass wir uns nicht wie wilde Tiere verhalten, sondern eben wie Menschen.
Die kulturelle Menschwerdung war der wesentliche Schritt hin zum modernen Menschen. Vor 10.000 Jahren wurde er sesshaft und begann, Landwirtschaft zu treiben. Nun konnten die Ressourcen dieses Planeten in einem Ausmaß genutzt werden, wie das bis dahin kein anderes Lebewesen vermocht hatte. In der Zeit von 70.000 bis 10.000 Jahren vor unserer Zeitrechnung wurden erste kulturelle Instrumente entwickelt. So haben wir 40.000 Jahre alte Musikinstrumente gefunden. Und vor 30.000 Jahren, so belegt durch Funde, hat der Mensch mit dem Zählen angefangen. Oder denken Sie nur an die Höhlenzeichnungen in Südfrankreich.
Auerochsen, Pferde und Nashörner, eines von mehr als 400 Wandbildern in der Höhle von Chauvett in Südfrankreich. Das Alter der Wandmalereien wird auf 25.000 bis 30.000 Jahre geschätzt.
Wir stellen fest, dass in dieser Zeit eine deutliche Stabilisierung von Gruppen stattgefunden hat, unterstützt durch vielerlei Instrumentarien, die im engeren und weiteren Sinn etwas mit Kultur zu tun haben.
Sie meinen, Kultur ist vor allem Musik und Tanz, Malerei und Bildhauerei? Richtig! Malerei, Musik, Kunst in allen Formen zeichnet den Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen aus. Der Mensch kann über sich hinausgehen – er wird übernatürlich.
Sicher, er ist ein Teil der Natur – keine Frage – er ist ein Produkt der natürlichen Evolution. Aber er kann Instrumente entwickeln, die genau genommen unnatürlich sind. Eine Flöte ist unnatürlich, bestimmte Malereien hat es so noch nie gegeben oder einen Tanz. Das alles fügt der Mensch hinzu zu dem, was schon ist. Und genau das ist Kultur!
Wenn ich eines Tages einen Außerirdischen treffe, werde ich ihn nicht nach den Naturgesetzen fragen, die in seiner Heimat gelten. Das sind nämlich die gleichen wie bei uns. Ich frage ihn, welche Musik er hört, welche Bilder er malt und welche Geschichten er seinen Kindern erzählt. Und ich möchte wissen, an welche Götter er glaubt. Alles das, was seine Kultur ausmacht, zeichnet auch einen Außerirdischen aus, es macht ihn zu etwas Besonderem. Das gilt für den Außerirdischen genauso wie für den Frühmenschen.