Читать книгу Die Toten am Kleistgrab - Harro Pischon - Страница 13
10 Donnerstag
ОглавлениеBeate stand am Fenster des Besprechungsraums für die Lage im Präsidium. Mit leiser Sehnsucht blickte sie auf das Parkcafé gegenüber, wo am Vormittag schon Menschen bei einem späten Frühstück saßen, Zeitung lasen, plauderten. Der Blick wanderte weiter zum U-Bahnhof. Der rote Eingangspavillon sah aus wie eine Popartplastik. Er war ein Fremdkörper innerhalb der grauen Bürogebäude rings um den Platz.
Sie war absichtlich die erste des Teams in der Rolle des Platzhirschs, vor allem gegen Menzel, dessen Ehrgeiz keine Frau über sich duldete. Wenigstens empfing sie ihre Leute im Besprechungsraum. Sie seufzte. Keine Rede war bisher von einem Ermittlungserfolg in den ersten 48 Stunden, den angeblich wichtigsten. Mal sehen, was die beiden Männer herausgefunden hatten. Sie selbst würde von einem Besuch im Hause Dehmel in der Klopstockstraße berichten und von einem weiteren Gespräch mit der Frau des Opfers, die immer noch als verdächtig galt, da vorerst noch kein Motiv außer Eifersucht bekannt war.
Beate dachte zurück: Vom Bahnhof Krumme Lanke war sie ein Stück die Argentinische Allee hinuntergelaufen, bis sie in einen Fußweg bog, der ins „klassische Viertel“ führte, den Goethe- und Schillerstraßen, aber auch den nach Klopstock und Kleist benannten. Beate staunte über die schiere Größe der Prachtvillen und über die hohen Hecken und Zäune, ebenso wie die burgartigen Häuser. Am liebsten wäre sie geradeaus weiter zum Schlachtensee gelaufen, in dessen klarem Wasser sie gerne schwamm.
Dann stand sie vor der Dehmel'schen Villa und klingelte. Zur Eingangstür führten etliche Stufen.
Nach einer Weile öffnete sich die Tür und Melanie Mattwey-Dehmel sah auf Beate hinunter. Sie verschwand erst einmal wieder und der Türöffner summte. Auf den Stufen begegnete Beate ein etwa dreißigjähriger Mann mit langen Haaren. Er trug eine Aktentasche. Beim Vorbeigehen musterte er Beate neugierig ohne zu grüßen. „Haben Sie schon einen Haftbefehl, Frau Hauptkommissarin?“, empfing sie die Mattwey-Dehmel. Beate reagierte nicht darauf. Wer in einem solchen Haus wohnte, zu dem man hinaufsteigen musste, der trainierte jeden Tag die Herablassung.
„Ein Gesangsschüler?“, fragte Beate.
„Rudolf? Oh, das ist einer meiner Liebhaber,“ antwortete die Hausherrin mit glitzernden Augen, wobei sie die Hand vor den Mund hielt, als wäre sie ertappt worden. „Aber Sie sind sicher nicht gekommen, um mein Privatleben zu durchleuchten.“
„Frau Mattwey-Dehmel, können wir sachlich miteinander sprechen? Ich habe zwei Morde aufzuklären.“
Melanie sah Beate an und nickte anerkennend. „Kommen Sie herein.“ Sie überließ es Beate, die Tür zu schließen und rauschte voran, durch eine Eingangshalle mit einer geschwungenen Treppe ins Obergeschoss. Melanie betrat ein Zimmer im Erdgeschoss mit einem Flügel. Sie setzte sich auf den Klavierhocker und blickte Beate erwartungsvoll an. Die ließ diesmal die Tür geöffnet, registrierte die Variante einer Machtposition, wie ein Dienstbote zu stehen. Es war so aufgesetzt und durchsichtig, dass es wie schlechtes Theater wirkte. Unbeirrt fragte Beate nach dem Arbeitszimmer von Richard Dehmel.
„Ach ja, natürlich, Sie suchen ja nach Spuren.“
„Nun, nach Spuren nicht gerade, aber nach Hinweisen“, korrigierte Beate.
„Gehen Sie ruhig die Treppe hinauf, das erste Zimmer links und sehen Sie sich um. Sie brauchen mich dabei ja nicht. Ich muss ein Konzert vorbereiten“, sagte Melanie Mattwey-Dehmel und begann in einem Klavierauszug zu blättern.
Langsam stieg Ärger in Beate hoch: „Frau Mattwey-Dehmel, ich würde vorher schon gerne wissen, was Sie von der Arbeit und den Vorhaben Ihres Mannes wissen. Sie sprachen neulich von einer großen Sache, an der er dran gewesen sei. Vielleicht kann ich gezielter suchen, wenn ich etwas weiß.“
„Frau Hauptkommissarin“, sie würdigte Beate nicht Ihres Namens, „mehr weiß ich auch nicht, sonst hätte ich es Ihnen gesagt. Mein – Mann und ich, wir haben uns nicht jedes Detail unserer Arbeit erzählt. Und wir haben nicht kontrolliert, wo sich der andere jeweils mit wem gerade befand.“
„Führten Sie eine offene Ehe?“
„Wenn Sie so wollen, aber mit Niveau und Diskretion. Dieses Bühnenflittchen, mit dem er sogar verreist ist, entsprach in jedem Falle nicht diesen Voraussetzungen.“
“Eine Reise hatten Sie noch gar nicht erwähnt.“
„Ich könnte jetzt sagen: 'Sie haben mich nicht danach gefragt.' Aber in Wahrheit gab es nur bei uns nur noch wenig Gelegenheit für derartige Unterhaltungen.“
„Und Sie tun alles, um ein Gespräch zu verhindern oder zu erschweren.“
„Soll ich Sie jetzt bemitleiden?“
„Nein, sagen Sie mir lieber, wohin diese Reise ging.“
„Ich weiß nur, dass Richard in die Schweiz gefahren ist. Und soweit ich die Biografie Kleists kenne, war er in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts in der Schweiz, am Thuner See.“
„Was hat er da gemacht?“
„Nun, er wollte wohl Bauer werden, hat aber dann doch lieber geschrieben, was, weiß ich im Augenblick nicht.“
„Vielen Dank“, sagte Beate, „ich gehe dann nach oben.“ Melanie wedelte zustimmend mit der Hand und blätterte wieder in dem Klavierauszug.
Als Beate nach oben ging, atmete sie tief ein und aus. Sie war zu Beginn noch gelassen gewesen, aber diese Frau machte sie wütend. Trotzdem dachte Beate, dass die Kränkung Melanie mehr beeinflusste als ihre Arroganz. Sie schien sich in ihre Arbeit zu stürzen und auf ihre Weise Anerkennung zu suchen, vielleicht auch durch jüngere Männer wie Rudolf. Und Beate hielt die Ehefrau immer weniger für eine Mörderin. Dazu wütete sie zu offen.
Richard Dehmels Arbeitszimmer wurde von Büchern dominiert. Ein ausgeklügeltes Regalsystem reichte bis zur Decke, überspannte die Türen und war in den unteren Teilen mit Glas bedeckt, wo offensichtlich wertvolle Folianten standen. Der Schreibtisch war modern und verfügte über einen Computerarbeitsplatz. Beate griff nach dem Kalender, der vor der Schreibunterlage stand, blätterte kurz und steckte ihn ein. In einer Schublade fand sie noch einen Kalender vom Vorjahr. Das luxuriöse Notebook mit 17-Zoll-Bildschirm sollte auch überprüft werden, ob es relevante Daten enthielt. Die Schubladen enthielten außer Schreibkram auch einige USB-Sticks, die Beate an sich nahm. Vielleicht sollte sie einen Kleist-Spezialisten zur Unterstützung hinzuziehen, der besser die Bedeutung von Dateien bestimmen konnte als sie. Sofort dachte sie an René Beauchamps und ertappte sich bei einem Lächeln. Sie schüttelte unwillig den Kopf und sah sich weiter um. Es herrschte eine penible Ordnung, nirgends waren Blätter oder Entwürfe zu sehen, auch nicht in einigen Stapeln von Papieren auf dem Schreibtisch. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass in den Bücherreihen Geheimnisse verborgen waren. So ging Beate wieder nach unten, informierte Melanie über den mitgenommenen Kalender und die USB-Sticks und verabschiedete sich.
Beate hörte Schritte auf dem Flur im Präsidium und das zu laute Kichern ihrer Sekretärin. Isolde Riesendahl, insgeheim „Leni - Der Triumph des Willens“ genannt, nach der Filmregisseurin Riefenstahl, war 58 Jahre alt, gut und gerne 1,80 m groß, trug eine blondierte und haarlackgefestigte Dauerwelle, eine schwarz gefasste Brille und hielt wenig von weiblichen Vorgesetzten in der Kriminalpolizei. Sie hätte lieber Menzel als Chef gehabt. Doch Beate wusste, sie würde keine andere Sekretärin bekommen. Bislang konnte sie immerhin den offenen Konflikt vermeiden und sich nachdrücklich bei Isolde durchsetzen.
Menzel öffnete schwungvoll die Tür, um Isolde hereinzulassen, und verstummte, als er Beate sah. Auch Isolde hörte schlagartig auf zu kichern. „Ach, du bist schon da“, sagte Menzel.
„Wie du siehst. Hallo, Isolde. Ah, Stefan ist auch da!“ Als Letztes betrat Scheck den Raum, dem die vorherige Giggelei von Menzel und Riesendahl sichtlich peinlich war. Er spürte, wie er sacht errötete. Als alle Platz genommen und sich mit Getränken versorgt hatten, begann Beate von ihrem Besuch bei Melanie Mattwey-Dehmel zu berichten. Sie kam zu dem Schluss, dass zwar eine Eifersuchtstat nicht völlig auszuschließen, aber in diesem Fall aus verschiedenen Gründen unwahrscheinlich war.
„Und die wären?“, provozierte Menzel.
„Nun, wie schon erwähnt, ist die Durchführung der Inszenierung am Fundort für eine Frau mehr als schwierig. Und dass sie einen unbekannten Liebhaber als Helfer engagiert hat, halte ich für konstruiert. Außerdem äußert sie ihre Eifersucht und ihre Kränkung derart unverblümt und voller Affekt, dass die kühl geplante Ausstellung der Morde auch nicht passt.“
„Donnerwetter, Frau Hauptkommissarin entwickeln sich zur Psychologin“, ironisierte Menzel. Beate ließ ihn ins Leere laufen und informierte über den Inhalt des Kalenders von Richard Dehmel: „Ich fasse die auffälligen Ergebnisse zusammen, nicht Termine mit der Kleistgesellschaft oder dem Verleger. Mit Kürzeln vermerkt sind Treffen mit Cy, das ist vermutlich Katharina Czerny. Vor allem zu erwähnen ist eine Fahrt in die Schweiz an Ostern dieses Jahres, im Kalender sind zehn Tage eingetragen unter der Bezeichnung „Thun“. Rätselhaft sind etliche Termine mit der Bezeichnung „Hbg“. Das kann Hamburg bedeuten, aber von Reisen nach Hamburg ist nichts bekannt.“
Außerdem erwähnte sie noch kurz die USB-Sticks, die sie zunächst an einen Spezialisten der Kleistgesellschaft weitergegeben habe. Menzel zog nur eine Augenbraue hoch. Dann berichtete er von Czernys Lebensgefährten Weninger, von dessen Eifersucht und von seinem Auto, das durchaus als Transportmittel hätte dienen können. Er sprach auch über die Reise der Czerny mit Dehmel in die Schweiz und über das rätselhafte alte Foto an der Wand ihres Zimmers. „Das war bestimmt das Kleisthaus in Thun“, platzte da Scheck dazwischen. „Woher willst du das wissen?“, wies ihn Menzel zurecht, „du kennst das Bild doch gar nicht.“ Scheck errötete noch mehr, fing fast an zu stottern und erzählte dann, dass ihn der Verleger auch auf die Schweiz aufmerksam gemacht habe, eben auf das Kleisthaus am Thuner See und dass Dehmel angeblich einer Sensation auf der Spur gewesen sei. Er, Scheck, habe dann im Büro recherchiert und sofort unter „Kleisthaus“ mehrere Bilder gefunden, auch dass es heute nicht mehr stehe, dass aber Kleist einige Monate dort gelebt und an Dramen geschrieben habe. Er sei sich sicher, dass diese Sensation mit seinem Aufenthalt zu tun haben müsse.
„Sieh an, unser Musterschüler will bei der Frau Lehrerin Eindruck machen. Bestimmt kriegst du jetzt einen Smiley in dein Notizbuch, weil du so fleißig warst“, höhnte Menzel. So leicht würde er sich das Eifersuchtsmotiv nicht nehmen lassen. Und er wiegelte ab: Die Reise eines Literaturwissenschaftlers in die Schweiz sei ja nichts Außergewöhnliches. Dass er dabei seine junge Geliebte mitgenommen habe, könne man verstehen. Und dass er von einer Sensation geredet habe, nun ja. „Was für eine Sensation soll das denn gewesen sein? Dass er ein Buch mit einer neuen Erkenntnis in Fachkreisen veröffentlichen wollte? Woher wissen wir, was diese Herren unter einer Sensation verstehen? Oder weißt du Genaueres, Scheck?“
„N-n-nein, das nicht“, stotterte Scheck, „aber das muss man eben ermitteln.“
„Genug jetzt, Menzel“, fuhr Beate dazwischen. Selbst der Sekretärin war es peinlich, dass Menzel den jungen Kommissar versuchte zu demontieren. Der galt ihr noch als Lehrling und sie hegte fast mütterliche Gefühle für den jungen Scheck. Aber so weit, den in ihren Augen wirklichen Chef zu kritisieren, ging sie doch nicht. Beate fasste zusammen: „Wir haben noch kein eindeutiges Ermittlungsergebnis, das wir verfolgen können. Manches scheint auf ein Eifersuchtsmotiv hinzudeuten, auch die Ausstellung der Opfer am Fundort. Wir sollten uns genauer mit den beiden einschlägigen Verdächtigen beschäftigen und ihren Hintergrund ausleuchten, also mit Frau Mattwey-Dehmel und mit Weninger. Isolde, bitte kümmre dich darum. Außerdem lässt sich nicht übersehen, dass Dehmel einer Sache auf der Spur war, die mit Kleist vielleicht auch mit seinen Dramen zu tun hatte. Dabei konzentriert sich die Ermittlung auf den Aufenthalt Kleists in Thun. Mit Dehmel beschäftige ich mich und halte den Kontakt zur Kleistgesellschaft. Wolfgang, mach bitte einen Termin mit Thorsten Wolters in der Kleistgesellschaft, er soll mit Dehmel heftig konkurriert haben. Stefan, du solltest dich mit der Universität in Verbindung setzen und bei Kleist nachlesen. Isolde, hast du alles mitgeschrieben? Ich unterschreibe dann das Protokoll für den Direktor.“
Alle außer Beate standen auf und verließen den runden Tisch. Sie blieb noch sitzen und versuchte sich zu beruhigen. Das Gezänk machte ihr zu schaffen. Und sie glaubte zu wissen, dass es anders wäre, säße an ihrer Stelle ein Mann. Er hätte nicht diese Sehnsucht nach Ergänzung durch einen Partner, er hätte nicht die Melancholie der Verlassenen. Oh, sie verstand Melanie Mattwey-Dehmel, und sie bewunderte insgeheim deren Methode, mit Aggression und Arroganz den Schmerz zu bekämpfen. Beate drohte eher in Melancholie zu fallen. Doch die Arbeit hielt sie aufrecht, die Arbeit und ihr Junge. Sie stand auf.