Читать книгу Die Toten am Kleistgrab - Harro Pischon - Страница 9
7 Dienstag
ОглавлениеBeate genoss den Vormittag zu Hause. Benni war in der Schule. Die Kollegen im Amt hatten Bereitschaft. Um 11 Uhr sollte sie in der Kleistgesellschaft sein, um mehr über Richard Dehmel zu erfahren. Versonnen blickte sie über die Vorgärten in der Eythstraße. Gerne hätte sie wieder in einem eigenen Garten gepflanzt und gegraben. Aber das eigene Haus und der Garten waren Vergangenheit. Seit sechs Jahren wohnte sie mit Benni in der Mietwohnung, nachdem sie seinen Vater verlassen hatte. Dessen ständige Beziehungen zu jüngeren Frauen, die er geheim zu halten versuchte, wollte sie irgendwann nicht mehr erdulden. Seitdem fürchtete sie das Verlassenwerden und ließ sich nicht auf eine Beziehung ein. Selten landete ein Mann in ihrem Bett, den sie aber auf Abstand zu halten wusste oder gleich wieder ausbootete.
Sie lief zum S-Bahnhof Priesterweg, vorbei an der ausgedehnten Schrebergartenkolonie. So viel Zeit, um ein Koloniegärtchen zu bewirtschaften, würde sie nie haben. Um in die Georgenstraße zu kommen, war die S-Bahn bequemer als das Auto. Sie konnte mit zwei Linien direkt zur Friedrichstraße fahren. Die S2 kam, nach einer Weile tauchte sie in den Tunnel und hielt wenig später in der Friedrichstraße. Wer von den Fahrgästen hatte noch Erinnerungen an den ehemaligen Kontrollpunkt? Längst hatten die Imbissläden den Bahnhof erobert und der frühere Tränenpalast bildete sich langsam zum Museum zurück. Beate fröstelte immer ein wenig, wenn sie durch den Bahnhof ging, als ob sie der Wirklichkeit nicht traute und jeden Augenblick ein graugrün Uniformierter hinter einer Säule hervorkommen könnte.
Beate lief an der S-Bahn entlang in Richtung Kupfergraben, bis sie das Gebäude erreichte, in dem die Kleistgesellschaft untergebracht war. Das Anton-Tschechow-Theater war nur einen Steinwurf entfernt.
Am Empfang zeigte sie ihren Dienstausweis. Die fünfzigjährige, stark geschminkte Sekretärin seufzte: „Schrecklich, die Geschichte mit Herrn Dehmel. Ja, Herr von Bramstedt erwartet Sie im zweiten Stock.“
Beate fuhr mit dem Fahrstuhl und trat in das Büro des Vorsitzenden. Der groß gewachsene Sechzigjährige mit kunstvoll gewellten grauen Haaren ging auf sie zu:
„Frau Kommissarin, ich begrüße Sie und bedaure den Anlass zutiefst. Die Anrede ist korrekt?“
„Nicht ganz, aber das geht schon in Ordnung“, lenkte Beate ab. „Erzählen Sie mir etwas von Herrn Dehmel. Womit hat er sich beschäftigt, was war seine Rolle hier in der Kleistgesellschaft?“
„Wie Sie sicher schon herausgefunden haben, Frau äh, Hauptkommissarin? - , war er mein Stellvertreter und gehörte zum engeren Kreis des Vorstands.“
Beate nahm den Ablenkungsversuch des Herrn von Bramstedt zur Kenntnis und ermahnte sich, nicht darauf einzugehen.
„Die Tätigkeit in einer Gesellschaft wie der unseren bietet nicht sehr viel Nahrung für Eitelkeit und Konkurrenzgebaren. Wir ernten keine Lorbeeren für unseren Dienst an Kleist. Insofern sind wir alle gleichberechtigte Diener und Beförderer einer Sache.“
„Und was hat Herr Dehmel befördert?“
Der Vorsitzende hob die buschigen grauen Augenbrauen.
„Herr Dehmel hat sich besonders um die Dramen Kleists bemüht, das war sein Forschungsschwerpunkt.“
„Hat er in der letzten Zeit an etwas Besonderem gearbeitet oder eine bestimmte Publikation vorbereitet?“
„In der Tat, Frau Kommissarin. Ich weiß nicht, inwieweit Sie über die dramatischen Arbeiten Kleists....“
„Gehen Sie am besten vom Stand der Unschuld aus“, versuchte Beate zu scherzen.
„Also noch Jungfrau, was Kleist angeht“, setzte Bramstedt noch eins drauf und fand seinen Witz überaus köstlich. „Dehmel kümmerte sich in letzter Zeit vor allem um eine Tragödie, die nur als Fragment überliefert ist: „Robert Guiskard“.
„Und wer war das?“
„Robert Guiskard war der Herzog der Normannen, die ja am Anfang des zweiten Jahrtausends in Sizilien herrschten. Er wollte Konstantinopel erobern und belagerte die Stadt.“
„Eine Tragödie geht immer schlecht aus...“
„Ja, ja, am Schluss liegen alle tot auf der Bühne“, lachte der Vorsitzende. „Aber da das Ende nicht erhalten ist, wissen wir nicht, ob er auch an der Pest starb, die im Lager der Normannen grassierte.“
„Und weshalb blieb der Text Fragment?“
„Nun, das ist eine komplizierte Geschichte. Kleist selbst hat jedenfalls erklärt, er habe das Manuskript verbrannt und hat später nur einige Szenen in einer Zeitschrift veröffentlicht.“
„Einen Zusammenhang mit der Inszenierung am Kleistgrab sehen Sie nicht?“
Von Bramstedt sah Beate verwundert an.
„Das ist eine ganz andere Geschichte, das Ende mit Henriette Vogel. Nein, ich sehe zu seiner Arbeit keinen Zusammenhang. Und offen gestanden kenne ich auch die Frau nicht, die bei ihm gefunden wurde. Wie hieß sie noch gleich?“
„Czerny, Katharina Czerny.“
„Ja, doch, gewiss, die Schauspielerin von gegenüber. Ich habe sie als Käthchen leider nicht gesehen. Tja, es sieht ja alles nach einer Eifersuchtsgeschichte aus, nicht wahr?“
„Oder es soll so aussehen.“
„Frau Hauptkommissarin, Sie erstaunen mich. Aber so hinterhältig müssen Kriminalbeamte wohl denken. Sie wollen sich also mit dem Eifersuchtsmotiv nicht zufriedengeben?“
„Es ist ein nahe liegendes Motiv, aber nicht das einzige oder wichtigste. Deshalb ermitteln wir ja.“
„Sehr gut, sehr gut, ich bin beeindruckt. Nun, Frau Hauptkommissarin, kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein?“
„Ich würde gerne einen Eindruck von den Räumlichkeiten der Kleistgesellschaft gewinnen und vor allem vom Zimmer oder vom Schreibtisch des Herrn Dehmel.“
„Oh, da muss ich Sie enttäuschen. Dehmel hat zwar eine kleine Präsenzbibliothek bei uns, aber geschrieben hat er nur auf seinem Notebook. Und das hat er immer mit nach Hause genommen. Aber ich zeige Ihnen gern die Bibliothek, vielleicht treffen Sie ja noch einige Mitglieder. Ich glaube, Herr Wolters müsste noch da sein, der kannte Dehmel wohl am besten.“
Sie gingen eine Etage hinunter, durch einen Saal, in dem etwa sechzig Plätze für kleinere Veranstaltungen waren, in die Bibliothek. Als von Bramstedt die Tür öffnete, schlüpfte ein etwa 40-jähriger Mann hastig in sein Jackett, als hätte er die beiden kommen hören, und signalisierte Aufbruch.
„Herr Wolters, haben Sie einen Augenblick, hier ist Frau....“
„Tut mir leid, ich habe einen Termin in der Universität, ich muss jetzt gleich....“
Beate versuchte zu lächeln: „Herr Wolters, nur zwei Minuten fürs erste. Können Sie mir etwas sagen über die letzten Arbeiten von Herrn Dehmel? Wenn es länger dauert, mache ich gerne einen Termin mit Ihnen.“
Thorsten Wolters atmete scharf ein und runzelte die Stirn. „Nein, nein, das muss nicht dauern. Ich kann Ihnen gar nichts sagen. Richard hat über „Guiskard“ mit niemandem geredet. Ich weiß, dass er daran gearbeitet hat, mehr auch nicht.“
„Und privat kannten Sie ihn auch nicht genauer?“, versuchte es Beate.
„Nein, tut mir leid, wir hatten privat nichts miteinander zu tun. Sie entschuldigen mich jetzt.“ Eilig verließ Wolters den Raum.
„Tja, weg ist er“, kommentierte von Bramstedt, „ich habe noch einige Telefonate zu erledigen. Vielleicht wollen Sie sich noch umsehen. Da drüben sitzt auch Herr Beauchamps, wenn Sie mit jemand reden möchten.“
Der Vorsitzende verabschiedete sich und ließ Beate alleine.
In der Bibliothek standen einige Tische, aber auch bequeme Sessel. In einem saß ein fünfzigjähriger, schlanker Mann mit randloser Brille. Er trug Jeans und ein weißes Baumwollhemd mit hochgekrempelten Armen. Am Hals trug er eine hellbraune Halskrause. Neben ihm lehnten zwei Krücken. Er hatte die Szene beobachtet und lächelte amüsiert. Beate fand ihn sympathisch. Sie ging auf ihn zu.
„Guten Tag, ich bin Beate Lehndorf.“
„Von der Mordkommission. Danke.“
„Wofür danke?“
„Dass Sie mir Ihren Namen verraten. Sie hätten ja auch amtlich bleiben können: 'Hauptkommissarin Lehndorrf vom Landeskrriminalamt und werrr sind Sie?'“, schnarrte der Mann satirisch.
„Und wer sind Sie?“, gab Beate zurück und dachte, dass dies heute der erste Mann sei, der Humor hatte.
„René Beauchamps“, sagte der Mann, „und bevor Sie sich wundern, ich bin kein Franzose, sondern ein Spross Berliner Hugenotten.“
Beate blickte zu den Krücken und wunderte sich über ihre Direktheit: „Und die hier? Krankheit oder Unfall?“
„Verkehrsunfall, ein betrunkener Autofahrer hat mich vor zwei Monaten gerammt. Neues Hüftgelenk, Beine gebrochen, Schleudertrauma. Deshalb habe ich noch Zeit, um mich einem Hobby zu widmen.“
„Sie sind also kein Literaturwissenschaftler?“
„Nein, nein. Ich bin Psychiater. Es dauert noch etwas, bis die Schmerzen wieder erträglich sind und ich voll arbeiten kann. Kleist interessiert mich seit meiner Jugend.“
Beate hatte sich in den benachbarten Sessel gesetzt, ohne an die Privatheit dieser Geste zu denken. „Und gibt es etwas, womit Sie sich im Augenblick besonders beschäftigen?“
„Doch, ja. Wissen Sie, Kleist war Anfang des 19. Jahrhunderts zweimal in der Schweiz – in Thun. Das erste Mal wollte er am liebsten in der Schweiz bleiben und Bauer werden: Ein Haus bauen, einen Baum pflanzen, ein Kind zeugen. Er war in allen drei Dingen recht unbegabt. Aber es war eine interessante Zeit. Er wohnte auf einer Insel in der Aare am Ende des Thuner Sees. Ich bin sicher, er hat damals angefangen, sich mit Robert Guiskard zu beschäftigen.“
„Ach, Sie wissen, dass das der Schwerpunkt von Richard Dehmel war?“
„Natürlich, das weiß jeder. Er ist doch überall hingefahren und hat recherchiert. Wo immer Kleist auch sich mit Guiskard beschäftigt hat: Thun, Weimar, Dresden, Paris.“
„In Dresden auch?“
„Ja, Sie kommen aus Dresden?“
„Hört man das immer noch?“
„Ein bisschen, aber es könnte auch Leipzig sein oder Halle.“
„Wie gut kannten Sie Richard Dehmel?“
„Zurück zum Dienst, Frau Hauptkommissarin. In Ordnung.“ René setzte sich aufrecht.
Beate errötete.
„Also, ich kannte ihn nicht privat. Bis auf unser gemeinsames Interesse für Kleist leben wir in verschiedenen Welten. Ich habe ihn ein paarmal im Theater gesehen, zuletzt auch mit der Czerny. Es schien, als laufe da etwas. Ansonsten fand ich ihn sehr ehrgeizig und vor allem in maßloser Konkurrenz zu Wolters, den Sie gerade noch gesehen haben.“
„Konkurrenz?“
Er beugte sich vor und sagte in verschwörerischem Ton: „Ich halte Wolters für einen Neidhammel erster Güte. Ich kann mir gut vorstellen, dass er Dehmel das entstehende Buch über Kleists „Guiskard“ nicht gönnte, dass er es selbst hätte schreiben wollen. Er ist der typische Brutus.“
„Der mit dem Dolch im Gewande.“
„Ja, obwohl diese Formulierung aus der „Bürgschaft“ von Schiller ist.“
„Aber das reicht noch nicht aus, um einen Mord zu begehen, oder?“
„Für Mordmotive sind Sie die Spezialistin, angeblich werden ja Menschen aus geringfügigen Anlässen ins Jenseits befördert. Aber ich verstehe vor allem die Inszenierung am Kleistgrab nicht, wenn Neid und Konkurrenz die Motive sein sollten. Da winkt jemand mit dem Zaunpfahl der Eifersucht. Ich beneide Sie nicht um Ihre Aufgabe.“
Beate mühte sich aus dem Sessel.
„Gut, dass Sie mich daran erinnern. Ich habe einen Arbeitsplatz.“
Sie zog eine Visitenkarte aus der Tasche und bevor Sie noch etwas sagen konnte, lachte René: „Und jetzt kommt der Klassiker: 'Sie können mich gerne anrufen, wenn Ihnen noch etwas einfällt.'“
Beate lachte mit und sagte beim Gehen: „Aber noch nicht jederzeit. Vielen Dank für das Gespräch. Ich habe einiges erfahren.“
„Auf Wiedersehen, Frau Lehndorf“, sagte René ernst.
Auf dem Weg zum Bahnhof dachte Beate, dass sie sich lange nicht mehr in einem Gespräch so wohl gefühlt hatte.