Читать книгу Die Toten am Kleistgrab - Harro Pischon - Страница 2

1 Sonntagmorgen 10. Juni

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Als Isabel aus dem Bahnhof trat, läutete es von irgendeinem Kirchturm fünf Uhr. Über dem Wannsee lag noch Nebel, aber der Himmel war klar. Es würde ein schöner Tag werden. Doch sie würde, zuhause angekommen, die Vorhänge zuziehen und Schlaf suchen, Vergessen. Wütend stieß sie den Schlüssel ins Fahrradschloss, warf das Schloss in den Korb und fuhr vom S-Bahnhof hinunter zur Königstraße, vorbei am Gartenlokal und der Schiffsanlegestelle.

Da hatte sie stundenlang mit Alex geredet, gescherzt, geflirtet - und dann kam diese Blondschnecke, diese Hungerharke, klimperte ihn ein paarmal mit ihren künstlichen Wimpern an und verschwand mit ihm. Der Teufel soll sie beide holen!

Sie überquerte die Königstraße und bog in die Bismarckstraße ein, blieb auf dem Gehweg, um das Kopfsteinpflaster zu vermeiden, näherte sich den vornehmen Ruderclubs und dem dazwischen eingezwängten Kleistgrab. Letztes Jahr hatte sie darüber ein Referat halten müssen. „Sie wohnen doch in derselben Straße, Isabel“, hatte Markwart gesagt, “da bietet es sich doch an, über Kleists Ende und seine Grabstelle zu berichten.“ Die Todessehnsucht und Todesseligkeit Kleists waren ihr fremd geblieben. So fremd wie die Liebe und der autosuggestive Selbstmord Penthesileas. Auf der Lektüre dieses Dramas hatte Markwart bestanden. Ein wenig meinte sie nach dem Referat verstanden zu haben: Mit 34 Jahren glaubte Kleist, für ihn sei „auf Erden nichts mehr zu lernen und zu erwerben übrig“. Er hatte den Eindruck, dass alles, was er unternehme, scheitert. Bis er schließlich der unheilbar kranken Henriette Vogel sagte, „ihr Grab sei ihm lieber als die Betten aller Kaiserinnen der Welt.“

Isabel hatte ein nachgestelltes Bild gezeigt, wie die beiden in einer Erdkuhle liegen. Sie seufzte – und bremste scharf ab. Sie stand unmittelbar an dem Schild „Zum Kleistgrab“. In Gedanken hatte sie hinübergeschaut zu dem kürzlich renovierten Grab, das nun von der Straße aus gut zu sehen war. Was war das? Am Gitter der Umrandung lehnte etwas Weißes und etwas Schwarzes. Pennten da welche am Grab? Sie ließ ihr Fahrrad stehen und näherte sich vorsichtig. Tatsächlich, da lagen eine weißgekleidete Frau und ein Mann im schwarzen Anzug, fast genauso wie Kleist und die Vogel. Isabel sah sich um, niemand sonst war zu sehen, nicht auf der Straße, nicht auf den Wegen, nicht auf dem Wasser. Die beiden hatten sich nicht bewegt. Der Mann war über den Schoß der Frau gebeugt, in einer obszönen Pose. Isabel sah auf der linken Brust der Frau einen tiefroten Fleck.

Sie schienen beide tot.

Isabel ging ein paar Schritte zurück, atmete schnell. Dann kramte sie ihr Handy hervor. Was wählte man in einer solchen Situation? 110 – die Polizei? Oder die Feuerwehr? Sie wählte 110 und berichtete atemlos, wo sie war und was sie sah. Nachdem sie ihren Namen gesagt hatte, wurde ihr bedeutet, sie solle bleiben und auf die Streife warten, die gleich vorbeikomme.

Die Toten am Kleistgrab

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