Читать книгу Der Gotteswagen - Harro Pischon - Страница 10
Kapitel 5
ОглавлениеBeate hatte Rufdienst. Da sie keine Lust hatte, im Kino oder bei Freunden im Gespräch durch das Handy herausgerissen zu werden, saß sie zu Hause bei einem Buch. Damit ihre Wohnung nicht allzusehr Einsamkeit ausdünstete, hatte sie eine CD aufgelegt, ein Geschenk von René, als sie an der Ostsee war: „Gently Disturbed“ hieß das Album, von einem Bassisten Avishai Cohen. Sie bewegte sacht den Kopf zu der ruhigen Musik, die Stehlampe hinter dem alten Ledersessel schnitt einen warmen Lichtkegel in die Dunkelheit des Zimmers. Sie las John Baileys „Elegie für Iris“, den Bericht über die Alzheimererkrankung der Dichterin Iris Murdoch. Da spielte ihr Handy den Anfang der 4. Symphonie von Mendelssohn-Bartholdy. Gottlob war Scheck dran. Menzel hatte den Abend frei. „Che...Beate, wir haben einen Einsatz in Lichtenberg. Willst du alleine hinfahren oder soll ich dich abholen?“ Beate nahm das Angebot abgeholt zu werden dankbar an. Scheck wusste, wo sie wohnte. Sie zog sich in Ruhe warm an.
Als Scheck ankam, stand sie schon vor dem Haus. Sie stieg hinten ein, auf dem Beifahrersitz saß Kira, die Kommissaranwärterin. Scheck fuhr los, auf der Alboinstraße setzte er das Blaulicht aufs Dach und beschleunigte. Kira teilte mit, dass jemand am Prenzlauer Volkspark eine Tote gefunden habe – in einem Altkleidercontainer. „Wir werden wahrscheinlich die ersten am Fundort sein. Bis die KT losgefahren ist, wird länger dauern, als bei uns. Der Pathologe war in einem Konzert.“ Beate mochte die sachliche, knappe Art der jungen Polizistin, die in dieser Dreierkonstellation viel offener wirkte.
Nach einer halben Stunde kamen sie in der Maiglöckchenstraße an, die Streifenpolizisten hatten schon abgesperrt und einen Scheinwerfer auf den Container gerichtet. „Ich wusste gar nicht, dass hier ein Park ist“, staunte Kira. „Das ist der Prenzlauer Volkspark, hier ist auch der einzige Berg im Ortsteil Prenzlauer Berg, 91 m hoch. Aber der Name stammt eigentlich von einem urgeschichtlichen Höhenzug, dem Barnim. Die alten Berliner wohnten ja in einem Urstromtal und die nördlichen Dörfer waren viel höher“, dozierte Scheck. „Genug davon, an die Arbeit“, mahnte Beate. Sie ließ sich von dem uniformierten Kollegen Bericht erstatten. „Eine ältere Dame aus den Wohnhäusern hier am Park wollte eine Plastiktüte mit Altkleidern in den Container werfen, da sah sie im Licht der Straßenlaterne einen Arm aus den Kleiderbündeln ragen. Sie ist sofort nach Hause gelaufen und hat angerufen. Ich hab sie in der Wohnung gelassen. Sie ist völlig mit den Nerven fertig.“ „Gut gemacht, wir können sie ja noch befragen, Sie haben ja die Anschrift.“ Beate ging zu dem Container. Die Kollegen hatten inzwischen die Vorderfront abgenommen, sodass sie an den Inhalt des Containers herankonnten. Zwischen den Mülltüten, aus denen Kleidungsstücke quollen, lag die Leiche eines Mädchens oder einer jungen Frau. Durch das gewaltsame Ablegen im Container sah man Schürfwunden an Armen, Beinen und am Rumpf. Das Mädchen, Beate schätzte sie auf höchstens 16 Jahre, trug ein einfaches weißes Nachthemd aus einem groben Leinenstoff, sie war blass, die Haut war fahl und sie war außergewöhnlich dünn. „Sieht ganz ähnlich aus wie die Tote in Rummelsburg“, flüsterte Scheck. Beate, die Handschuhe angezogen hatte und die Leiche oberflächlich begutachtete, nickte und sagte: „Ja, ich kann auch keine besonderen äußeren Verletzungen erkennen. Es sieht tatsächlich aus, als hätte sie jemand weggeworfen.“ Sie wendete sich an Kira: „Komm, wir besuchen die Frau, die sie gefunden hat. Scheck wartet auf die KT und den Pathologen.“
Auf der anderen Straßenseite standen zwei dreistöckige Wohnblöcke, vermutlich aus den späten zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Sie waren mit Klinkerversatzsteinen optisch klar gegliedert und wirkten schlicht und funktional. An einem der Hauseingänge suchten sie das Klingelschild mit Barczewski. Sie klingelten, drückten die Haustür auf und gingen in den zweiten Stock. Eine etwa fünfundsiebzig Jahre alte Frau öffnete ihnen. Sie war geschmackvoll gekleidet, in einem dunkelgrauen Kleid mit einer lila Weste darüber. Ihr Gesicht war sehr blass. „Ah, Frau Kommissarin und ihre junge Kollegin, kommen Sie doch herein.“ Sie führte die beiden in eine Wohnküche und bot ihnen einen Stuhl an. „Möchten Sie einen Tee trinken“? Beate lehnte dankend ab und fragte: „Frau Barczewski, können Sie uns noch einmal erzählen, wie sie das Mädchen gefunden haben?“
„Ach Gott ja, das arme Ding! Wissen Sie, ich wohne ja seit über vierzig Jahren hier und fünfzehn Jahre bin ich schon alleine. Mein Rudolf hat den Ruhestand nicht ertragen, vier Monate später war er schon tot. Aber das interessiert Sie ja alles gar nicht, entschuldigen Sie, ich bin noch ganz durcheinander.“ Frau Barczewski tupfte sich den Schweiß von der Stirn und schüttete einen Schluck Weinbrand in ihren Tee. Es war offensichtlich nicht der erste. „Also, ich hörte, wie die Klappe in dem Behälter mehrmals hin- und her bewegt wurde. Danach fuhr ein Auto weg. Das erinnerte mich, dass ich ja auch noch einen Sack mit Kleidern wegbringen wollte. Und so ging ich hinunter.“
„Haben Sie das Auto noch gesehen?“
„Ja, ich bin als erstes ans Fenster gegangen, weil da so ein Krach war. Und ich habe einen weißen Lieferwagen gesehen, wie er abfuhr.“
„Aber Fahrer oder Beifahrer haben Sie nicht gesehen?“
„Nein, wenn das zwei waren, waren sie schon eingestiegen.“ Kira schaltete sich ein: „Können Sie sich vielleicht an das Kennzeichen oder einen Buchstaben davon oder eine Zahl erinnern?“ Die alte Frau hob ihre Hände zur Decke: „Um Himmelswillen, an so etwas habe ich gar nicht gedacht!“
„Frau Barczewski, ist Ihnen sonst etwas aufgefallen? Jede Kleinigkeit kann für uns wichtig sein.“
„Nein, eigentlich nicht. Aber warten Sie, es bedeutet ja wahrscheinlich nichts, aber ich kann mich an ein Zeichen erinnern auf der Hecktür des Lieferwagens. Es war ein Fisch!“
„Ein Fisch oder eine Robbe?“
„Nein, keine Robbe. Sie meinen die Autovermietung, die haben ja immer lustige Robben auf ihren Autos. Nein, es war ein stilisierter Fisch!“ Frau Barczewski malte zwei Linien auf den Tisch. „Man sieht es manchmal an Autos, aber ich weiß nicht, was es soll.“ „Damit dokumentieren Autobesitzer ihre religiöse Gesinnung“, sagte Beate, „die scheint ja hier nicht vorhanden zu sein. Aber trotzdem vielen Dank, Sie haben uns sehr geholfen.“ Beate und Kira gingen wieder nach unten zum Fundort der Toten.
Dr. Josef Traber beugte sich über die Leiche. Er blickte auf: „Ich habe schon Ihren jungen Kollegen gefragt, wer hier in Berlin Mädchen wegwirft. Auch dieses junge Mädchen hat keine nennenswerten äußeren Verletzungen und ich würde sagen, sie musste ebenfalls schwere Mangelerscheinungen wie Hunger und Durst erleiden. Auch war sie sichtlich eingesperrt und hatte wenig Licht in ihrem Gefängnis.“
Beate seufzte: „Bestimmt wird sie ebensowenig vermisst wie das andere Mädchen. Die Presseinformation brachte leider kein Ergebnis. Es gibt auch keinen älteren Entführungsfall oder etwas Ähnliches.“ Traber richtete sich auf. „Tja, Frau Hauptkommissarin, das ist Ihre Arbeit, Licht ins Dunkel zu bringen. Meine Arbeit ist da gewiss überschaubarer. Viel Erfolg!“