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Kapitel 1

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Beate Lehndorf sah aus dem Fenster und fror. Die Heizung in ihrem neuen Büro funktionierte klaglos. Aber der Blick ging nicht mehr auf den Fehrbelliner Platz, auf den roten U-Bahnhof und das Parkcafé gegenüber. In ihrem alten Büro saß jetzt Wolfgang Menzel, ihr Kollege, inzwischen befördert und ihr gleichgestellt.

Vor zwei Tagen hatte sie ihren Dienst wieder aufgenommen, zwar im alten Team, der Mordkommission 115, aber nicht mehr als alleinige Leiterin.

„Sie müssen verstehen, Frau Lehndorf“, hatte Kampnagel gesagt, ihr Vorgesetzter im LKA 1, „aber mir blieb nichts anderes übrig, als den Kollegen Menzel zum Hauptkommissar zu ernennen und ihm die Leitung der Mordkommission zu übergeben. Sie müssen sich jetzt die Kompetenzen teilen und miteinander klarkommen. Aber Sie waren ja ein bewährtes Team, nicht wahr?“ Dass Wolfgang Menzel gleich ihr Büro übernommen hatte, wollte Kampnagel nicht kommentieren.

Sie stand noch am Fenster und sah den Schneeflocken zu. Es hatte lange gedauert, bis der Winter in Berlin eingezogen war. Aber nun, im Januar, lag eine Schneedecke auf den Straßen und Gärten und dämpfte die Geräusche. Berlin war stiller geworden.

Kampnagel hatte trotz der langen Zeit, die Beate krank geschrieben war, trotz des Aufenthalts in der Reha-Klinik Zweifel geäußert, ob sie wieder voll einsatzfähig sei. Ihre ärztlichen Atteste bescheinigten dies zwar, aber er hatte darauf bestanden, dass sie noch Termine bei einer Polizeipsychologin machte. Sie goss noch einen kräftigen Schluck Grappa in ihre Kaffeetasse. Das würde sie in den Griff kriegen müssen, vor der Psychologin und vor ihrem Team. Als sie nach der Reha wieder zu Hause war, alleine in der Wohnung, alleine in ihrem Leben, hatte sie angefangen sich mit Grappa zu trösten. Sie wollte aber nicht leere Flaschen verstecken und morgens Pfefferminzdrops lutschen. Sie wollte die alte Beate wieder entdecken.

Bei ihrem letzten Fall wollte ein mehrfacher Mörder sich mit ihr in einem Haus verbrennen. Die schweren Verletzungen hatten sie ein halbes Jahr gekostet. Nun waren wenigstens im Gesicht keine Spuren mehr zu erkennen, an den Beinen aber waren Narben von den Transplantationen geblieben.

Nicht alle Mitglieder ihres Teams waren erfreut über ihre Rückkehr. Menzel und die Sekretärin Isolde, genannt Leni, waren mehr als je ein Herz und eine Seele, weil endlich ein Mann an der Spitze stand. Aber Stefan Wondraschek, der junge Kommissar, hatte gestrahlt und sie herzlich begrüßt. Außerdem gab es noch eine Kommissaranwärterin, die der Gruppe zugeteilt worden war. Kira Worms war 28 Jahre alt, groß, schlank und mit langen, blonden Haaren gesegnet, die sie im Dienst meist zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Menzel war von ihr hingerissen und musste sich zusammennehmen, damit er das Einvernehmen mit Leni nicht störte. Die war zwar schon fast sechzig Jahre alt, gleichwohl eifersüchtig. Beate sah mit Genugtuung, dass Kira so viel Selbstbewusstsein hatte, den Avancen eines Mannes im Team nicht zum Opfer zu fallen.

Beate setzte sich an ihren Schreibtisch und griff nach den Akten. Aber es fiel ihr noch schwer, sich zu konzentrieren. Scheck, so wurde Stefan genannt, hatte ihr zugeredet, sich langsam wieder einzufinden. Bei den Lagebesprechungen würde sie die Fälle am besten kennenlernen. Sie dachte zurück an Weihnachten, das sie in Dresden bei ihren Eltern verbracht hatte. Die hatten nach ihrer Verletzung ihren Sohn Benjamin aufgenommen, der bis zum Sommer in Dresden auch zur Schule ging.

Wie immer in Dresden waren sie am Weihnachtstag nachmittags in der Christvesper gewesen, um danach ein bescheidenes Abendbrot zu essen, Würstchen mit Kartoffelsalat. Anschließend wurden noch ausgiebig Weihnachtslieder gesungen, im drei- oder vierstimmigen Satz. Seit Jahren feierte ein Freundespaar der Eltern mit, das kinderlos geblieben war, sodass genügend Stimmen da waren. Benjamin konnte gerade noch die Tenorstimme singen, die fast immer fehlte. Beates Altstimme war sehr willkommen. Sie tauchte in die alten Rituale ein wie bei einer Rückkehr in die Kindheit. Es tat ihr wohl. Benjamin freute sich, sie zu sehen, war aber scheu wie auch ihre Eltern angesichts der Verletzungen. Unausgesprochen hing die Frage in der Luft, ob sie diesen gefährlichen Beruf weiter ausüben wolle.

Ja, sie hätte sterben können, wäre verbrannt, wenn nicht René sie gerettet hätte, der Psychiater, den sie als Kleistkenner bei ihrem letzten Fall kennen gelernt hatte. Sie hatte sich in ihn verliebt.

René Beauchamps. Sie seufzte und schlang ihre Arme um die Brust. Anfangs hatte er sie noch besucht, in der Klinik und dann in der Reha-Klinik in Wismar, er war freundlich gewesen wie immer, aber auch distanziert nach ihrem Geständnis, dass sie ihn liebe. Dann erhielt er im September ein Angebot, als Gastprofessor in die USA zu reisen, für drei Monate. Anfangs hatte er noch aus Baltimore geschrieben, dann versiegten die Briefe. Er war wohl noch auf einer Rundreise durch die Staaten. Sie wusste nicht, wie es ihm ging, wie es mit ihnen ging. Sie fühlte sich alleine wie früher, noch schlimmer, seitdem Benjamin in Dresden war. Sie trank. Es klopfte. Scheck steckte den Kopf in den Türspalt. „Beate, kommst du mit? Es gibt eine Leiche.“

Der Gotteswagen

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