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Kapitel 6

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Ich hab's geschafft. Ich bin abgehauen. Sicher ist der Winter nicht der beste Zeitpunkt. Aber ich konnt es nicht länger aushalten. Im Frühjahr wäre ich wohl auch schon tot gewesen, tot wie vermutlich Amira und Emilia.

Es war eigentlich nicht schwer. Die Wächter waren ja uns gegenüber sorglos, schwache ausgehungerte Mädchen dachten sie, was können die schon tun. Sie haben nicht mit meinem abgrundtiefen Hass gerechnet. Ich wollte verdammt nochmal nicht sterben, nicht verrecken. Also habe ich mich hinter einer Tür versteckt und als der Kerl mit einer Flasche Wasser hereinkam, hab ich ihm die Eisentür an den Schädel geknallt. Dann noch einmal den Kopf auf den Boden, damit er erst mal liegenbleibt. Schlüssel abnehmen und weg! Vor dem Ausgang hing noch ein dunkler, schwerer Mantel. Den griff ich mir und dann noch über die Mauer. Ich rannte besinnungslos durch die Straßen, nur weg, möglichst weit weg. Ein S-Bahn-Schild tauchte auf, ich lief darauf zu und dann die Treppen hinunter zum Bahnsteig. Es war die Ringbahn, eine S 42 kam zuerst, ich stieg ein und setzte mich immer noch keuchend. Die Anstrengung machte mich schwindlig. Der Wagen war nur wenig besetzt. Jemand setzte sich neben mich. Plötzlich war ein feistes Gesicht dicht vor meinem. „He, Mädchen, ist dir nicht gut? Du bist ganz außer Atem. Ich möchte dir gerne helfen.“ Die einschmeichelnde Stimme lockte mich, dass ich mitkommen solle, mich ausruhen und etwas essen. „Lass mich in Ruhe!“, schrie ich, „hau ab!!“ In beleidigter Pose wandte sich der Typ ab. „Das hat man davon, wenn man sich kümmern will.“ Er wollte nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen und ging davon. Kurz vor dem Bahnhof Gesundbrunnen hörte ich eine andere Stimme: „Die Fahrausweise bitte!“ Ich ging zur entferntesten Tür und wartete auf das Einfahren in den Bahnhof. Der Kontrolleur kam immer näher und war schon bei mir, als der Zug hielt. Ich drückte verzweifelt auf den Knopf zum Öffnen, der Kontrolleur fragte schon: „Und Sie, junge Frau?“ Da öffnete sich die Tür und ich rannte los. Er schrie noch hinter mir her, lief mir wohl auch ein paar Schritte nach, aber ich stürmte schon die Rolltreppe hoch zu den Geschäften. Von allen Seiten drängten die Schilder und die Auslagen der Fressgeschäfte in meinen Kopf. Aber ich hatte nichts, kein Geld, nicht einmal eine Münze in dem Mantel. Und wo konnte ich bleiben? Draußen würde ich erfrieren. „Geh doch zur Polizei und stell dich in ihren Schutz“, flüsterte eine Stimme in mir. „Bist du bescheuert?“, antwortete eine andere. „Woher weißt du, dass sie dich nicht wieder ausliefern? Woher weißt du, dass du nicht an einen Wächter gerätst? Sie sind überall, in Hostels, in Supermärkten, bei der Polizei. Sogar in Kirchen. Du weißt, dass sie dich jagen und einfangen wollen. Für sie darfst du nicht überleben, du weißt einfach zu viel.“

Vor einem Laden mit belegten Brötchen blieb ich stehen. Wie gebannt starrte ich auf die üppig bestückten Teile. Ich konnte nicht weitergehen und schluckte andauernd das Wasser hinunter, das mir im Mund zusammenlief. „Sie wünschen, bitte?“ Ich deutete auf eines der Brötchen. „Einmal Hühnerbrust mit Ei, das macht drei Euro neunzig.“ Die Bedienung packte das Brötchen in eine Tüte und hielt sie mir hin. Ich riss ihr die Tüte aus der Hand und rannte weg. Gesichter flogen an mir vorbei, ich bog mehrmals ab, hinter mir verflog langsam die Stimme: „Halt, Sie müssen... halten Sie sie doch auf!“ Auf einmal stand ich wieder auf einem Bahnsteig, auf dem gerade ein Regionalexpress einfuhr, nach Wittenberg. Ich vermutete, dass er über den Hauptbahnhof fuhr, stieg ein, fiel in einen Sitz und verschlang das Brötchen. So etwas Himmlisches hatte ich schon lange nicht mehr geschmeckt. Meine Ohren waren gespitzt und ich war in jeder Sekunde fluchtbereit, falls wieder ein Kontrolleur sich nähern sollte. Ich verschwand in der Toilette, wusch mir Gesicht und Hände und trank gierig das Wasser, konnte endlich auch pullern. Dann kündigte der Zugbegleiter schon den Hauptbahnhof an. Dieser Konsumtempel und Menschenumschlagplatz war zwar für mich hochgefährlich, denn da würden sie mich bestimmt auch suchen, aber ich musste versuchen unsichtbar, also unauffällig zu sein. Sicher würde ich irgendwo auch Obdachlose finden, die mir einen Tipp geben konnten, wo ich bleiben sollte. Als ich ausstieg, war ich auf der untersten Ebene. Irgendwo musste ich noch eine Mütze herkriegen, um meine auffälligen, fast weißen Haare zu verbergen. Ich fuhr zwei Rolltreppen hoch und schlenderte an den Läden entlang, bis einer Wollmützen in einem Wühltisch feilbot. Ich blickte mich kurz um, schaute in den Laden, keiner achtete auf mich. Ich nahm schnell eine Mütze und ging ruhig weiter. Nichts geschah. Ebenso leicht konnte ich mir noch eine Sonnenbrille mopsen. Es gab genug affige Weiber, die auch im trüben Licht des Bahnhofs mit Sonnenbrillen flanierten, weil todschick. Ich fiel also nicht auf. Mit Mütze, Brille und hochgestelltem Mantelkragen ging ich für eine gelangweilte Touristin durch. Nur auf die Füße durfte mir niemand schauen. Meine abgeschabten Turnschuhe passten gar nicht. Aber Schuhe kann man nicht klauen. Ich fuhr wieder zum Erdgeschoss hinunter und schaute mich am Südausgang um. Von weitem glotzte mich mit hängenden Mundwinkeln das Bundeskanzleramt an. Nichts Interessantes außer knipsenden Touristen. Drinnen war eine Station der Bahnhofsmission. Viel zu gefährlich. Aber davor lungerten einige Obdachlose herum. Ich ging wie zufällig näher heran und suchte mir bewusst den hässlichsten, armseligsten Typen, dessen Gesicht von Alkohol und Drogen zerstört war, mit wenigen Zähnen noch und verfilzten Haaren unter einem Hut, der auf einer Motorradmütze thronte. Der Mund verschwand in einem wuchernden Bart.

„Hey, du!“, sprach ich ihn leise an.

„Redest du mit mir, junge Frau?“, gab er zurück. Ich war überrascht, wie angenehm seine Stimme klang und mit welcher Sicherheit er sich ausdrückte.

„Ja, kannst du mir bitte helfen?“

„Wie denn? Ich hab kein Geld, wenn du schnorren willst.“

„Ich will nicht schnorren, ich brauch einen Platz zum Schlafen – und nicht in der Mission. Ich muss aufpassen, ich werd' nämlich verfolgt.“

„Au, das kenn ich, das hat ein Kumpel von mir auch. Der hat keine ruhige Minute mehr.“

„Hältst du mich für verrückt?“

„Nein, nein, du hast deine Gründe, ganz klar.“ Natürlich hielt er mich für bekloppt. Aber er war so rücksichtsvoll, es mich nicht spüren zu lassen.

„ Was das Schlafen angeht, ich bin im Winter oft in einem blinden Tunnel am Potsdamer Platz. Wenn du willst, kannst du mitkommen. Ein paar Decken kratzen wir dort noch zusammen, da schlafen etliche Kumpels von mir.“

Wenig später liefen wir durch einen geräumigen, aber ansonsten leeren Tunnel. Immer wieder blakten Petroleumlampen, da und dort auch eine Fackel, seltener eine Taschenlampe. „Batterien sind teuer, wenn auch leicht zu 'beschaffen'“, meinte Otto, mein Begleiter. Der Tunnel hatte ein bemerkenswertes Gefälle. „Wenn wir weiterlaufen, kommen wir bis unter die Philharmonie.“

„Wofür sollte dieser Tunnel sein?“, fragte ich. „Den haben sie damals beim Ausbau des Potsdamer Platzes gegraben, falls mal eine U-Bahn-Linie vom Alex nach Westend fährt. War aber zu teuer.“

An einer Stelle lagen ein paar Männer, eingehüllt in mehrere Lagen Kleidung, versehen mit Decken, Zeitungspapier und anderen Isoliermaterialien. Otto begrüßte alle mit Handschlag und wechselte ein paar Worte, auch über mich. Jeder rückte etwas heraus, sodass ich schließlich eine Schlafstätte bauen konnte. Otto reichte mir aus seinem Rucksack eine Flasche. „Hier, nimm noch 'n kleinen Schlaftrunk.“ Es war ein billiger Rotwein vom Discounter, Dornfelder lieblich. „Trinkt ihr nicht meistens billigen Wermutwein?“ Otto lachte: „Ja, liest man immer wieder. Der dröhnt auch am meisten, hat knapp 20% Alkohol. Inzwischen ist aber ein Rotwein von Aldi oft billiger und hat auch seine 13-14%.“ Ich setzte die Flasche an den Hals, und ließ einen Viertelliter in die Kehle rinnen. Meine Anspannung ließ nach und ich überließ mich meiner ersten Nacht in der Freiheit.

Das ging einige Tage so. Tagsüber versuchte ich mit Betteln an Geld zu kommen. Ich streifte durch den Bahnhof und das Sony Center, blieb immer in Bewegung und sprach leise Leute an, ob sie mir einen Euro geben. Aber die meisten gingen unwillig weiter. Ich hatte ständig Todesängste, dass man mich entdecken und aufgreifen könnte. Außerdem brüllte der Hunger in meinen Eingeweiden, er ließ sich mit Alkohol nur notdürftig betäuben. Oft wachte ich in der Nacht auf und krümmte mich vor Schmerzen. Wie an Geld kommen? Eine stinkende, verwahrloste Pennerin hatte keine Chance einen Aushilfsjob zu finden. Außerdem war es zu gefährlich. Nicht einmal als Straßennutte hatte ich eine Chance. Wer sollte mich in diesem Zustand haben wollen? Ich fragte Otto, wo ich denn mal duschen könnte und meine Klamotten waschen. Er ging zu einem Berber und machte etwas mit ihm aus. „Geh morgen mal mit Ralf. Der kommt in ein Hotel, da kannst du in einer Mitarbeitergarderobe duschen.“ Also trabte ich am nächsten Tag mit Ralf los. Über eine Tiefgarage kamen wir in den Keller eines Hotels und durch einige Türen gelangten wir in einen Umkleideraum mit Metallschränken. Dahinter gab es auch Toiletten und Duschen. „Guck mal, oft haben welche ihr Duschzeug liegen lassen. Und mach schnell!“ Ich knackte ein Schloss mit einem Schraubenzieher, den ich immer bei mir trug, als Werkzeug und Waffe. Da hing echt ein Zimmermädchenkostüm – schwarzes Kleid und weißes Schürzchen, leider keine Unterwäsche. Ich griff es mir rasch, verschwand in der Dusche, wo noch eine Flasche mit einem Rest Shampoo lag und seifte mich ein. Dann zog ich die Zimmermädchenkluft an, warf meine alten Sachen in einen Papierkorb, zog meinen Mantel drüber und verschwand mit Ralf wieder. Ich fühlte mich wie ein neuer Mensch. „Danke, Ralf, wenn ich zu Geld komme, geb ich dir was ab. Du hast was gut bei mir.“

„Lass gut sein, Mädel. Mach's gut.“ Ich dachte, mit diesem Kostüm müsste ich an einen Freier kommen. Am Ende der Kurfürstenstraße, in respektvoller Entfernung von den osteuropäischen Nutten, stellte ich mich an die Straße und öffnete meinen Mantel, wenn ein Autofahrer vorbeikam, wie ein Exhibitionist. Aber unter meinem Mantel steckte ja ein Zimmermädchen mit weißem Schürzchen. Nachdem ich einige Male in ein Autofenster geflüstert hatte: „Für zwanzig blas ich dir einen“, ließ mich einer in seinen Passat einsteigen. Er fuhr in eine stille Seitenstraße, parkte und öffnete seine Hose. Ich ließ mir erst das Geld geben, holte dann sein Glied heraus und stimulierte es mit der Hand, bis es steif genug war, um ein Kondom überzuziehen. Dann beugte ich mich über ihn. Als er fertig war, zog ich das Kondom ab und stieg aus. Das ging noch dreimal so und am Abend hatte ich achtzig Euro in meiner Manteltasche. An einem Baum gelehnt musste ich kotzen. Einer hatte mich so fest im Genick gepackt, dass mir der Hals wehtat. Noch einmal würde ich das nicht schaffen, diese stöhnenden Kerle mit ihren stinkenden Schwänzen zu bedienen.

„Alles ok mit dir?“, fragte eine Stimme hinter mir. „Geht schon wieder“, sagte ich und sah mich um. Hinter mir stand ein schlanker Junge mit schwarzer Lederjacke und mit einem langen, dicken Schal um den Hals. Er hatte ein freundliches Gesicht und widerspenstige schwarze Haare. Über der Schulter hing eine Sporttasche. „Muckibude?“, fragte ich und nickte mit dem Kopf in Richtung Tasche. Er grinste: „Nee, ich treff mich mit paar Kumpels für 'ne kleine Action.“ „Was für 'ne Action?“, fragte ich weiter. „Is illegal und geheim“, grinste er wieder. „Dann haben wir ja was gemeinsam“, sagte ich, plötzlich leichtsinnig geworden. „Wie?“, meinte er. „Ich bin auch illegal und geheim“, erklärte ich.

„Erzähl kein' Quatsch.“

„Nee, ehrlich.“

„Wie meinste das jetzt, willste nich erzählen?“

„Erst mal brauch ich was zu essen, ich sterbe vor Hunger. Komm, lass uns da vorne reingehen.“ Ich zeigte auf einen Imbiss mit vegetarischem Döner. „Und du sagst mir auch, was du Geheimes vorhast. Ich lad dich ein.“ Wir machten uns über zwei üppige Döner her, ich zahlte mit einem Zwanziger. Er sah mich merkwürdig an, sagte aber kein Wort.

„Erschtt du“, sagte ich mit vollem Mund und er rückte damit heraus, dass er zu einer Gruppe von Sprayern gehörte, die nachts auf S-Bahn-Gleisen und Bahnhöfen herumturnten. „Wahnsinn“, sagte ich, meine Lebensgeister erwachten wieder mit halbwegs vollem Magen, „kann ich mitkommen?“ Er sah mich prüfend an und meinte dann: „Warum nicht, wenn du Zeit hast und gegebenenfalls rennen kannst.“ Ich nickte versonnen, „das bestimmt“.

„Und was ist nun an dir so illegal und geheim?“, fragte er.

„Erst mal musst du mir sagen, wie du heißt“, gewann ich Zeit. Er druckste etwas herum und sagte dann: „Die anderen nennen mich Klärchen.“ Nun war es an mir zu grinsen und ich meinte: „Siehst gar nicht so aus.“

„Nee, weiß ich“, sagte Klärchen. „Das ist nur, weil ich Klarinette spiele, bin manchmal in so 'ner Klezmerband. Aber jetzt bist du dran.“ Ich schaute ihn lange und prüfend an, hielt ihn aber eigentlich für vertrauenswürdig.

„Ich wurde von irgendwelchen Spinnern eingesperrt und gefangen gehalten. So richtig bei Wasser und Brot und manchmal nicht mal das. Ich hatte mich nicht an die Gesetze und Regeln gehalten und musste dafür bestraft werden. Sie hielten mich ohnehin für so eine Tochter Satans wegen meiner Neigung zur Rebellion. Vor ein paar Tagen bin ich abgehauen, bevor ich abkratzte. Wahrscheinlich sind zwei meiner Freundinnen schon draufgegangen.“

„Echt? Ey, ich hab da in der Zeitung gelesen, dass sie zwei unbekannte junge Frauen gefunden haben. Keiner weiß, wer sie sind und wo sie herkommen.“

Mir stieg ein dicker Kloß in den Hals. „Das waren sie wohl. Amira und Emilia. Sie haben es also nicht geschafft.“ Mir liefen die Tränen über die Wangen.

„Und jetzt sind sie hinter dir her?“

„Ja, ich weiß zu viel. Wenn mich die Wächter erwischen, bin ich echt dran.“

„Die Wächter? Klingt wie ein Computerspiel.“

„Ist auch völlig irre. Aber Schluss damit. Ich muss halt aufpassen. Sie sind überall, ich hoffe nur nicht bei deinen Kumpeln.“

„Hab noch nie gehört, dass da einer bei irgendeiner Gruppe ist. Wir sind alle eingefleischte Eigenbrötler.“

Dann liefen wir die Kurfürstenstraße bis zum Park am Gleisdreieck. Wir standen zwischen den beiden Brücken der U1 und der U2. Klärchen wandte sich kurz nach links und bedeutete mir mitzukommen. Treffpunkt war das Café Eule, eine Holzhütte, in der tagsüber Kaffee ausgeschenkt wurde. Die drei Typen, die dort warteten, zogen die Augenbrauen hoch, als Klärchen mit mir ankam. Er versicherte ihnen aber, ich sei in Ordnung. Dann ging es einige Meter nach Süden, bis wir an der Tunnelmündung der S1 standen. Der Tunnel der S2 und S25 lag ein paar Meter daneben. Klärchen meinte: „Das wird jetzt nicht ganz ungefährlich. Wir wollen in den Tunnel, müssen aber aufpassen, dass uns keine Bahn überrascht. Die haben einen mächtigen Sog, wenn sie vorbeirauschen und du musst dich irgendwo festhalten können. Bleib am besten dicht bei mir.“

Ich nickte und wir kletterten die Notfalltreppe an der Tunnelmündung hinunter. Bevor die Jungs anfangen konnten, die Tunnelwände zu verschönern, erklang ein greller Pfiff. Das hieß, ein Zug kam von Süden. Wir stiegen über die Gleise der Gegenrichtung und drückten uns an die Wand, bis die S-Bahn vorbeigerauscht war. Nach etwa zwei Stunden und etlichem Hin- und Hergerenne wegen sich nähernder Bahnen verließen wir den Tunnel und kletterten wieder nach oben. Die Jungs verabschiedeten sich mit einem Abklatschritual und gingen in verschiedene Richtungen.

Ich sagte zögernd: „Klärchen, sag mal, kann ich vielleicht bei dir pennen? Ich hätt gerne mal ein Dach überm Kopf und nicht nur Berber neben mir.“ Er nickte und meinte: „Kein Problem. Komm mit.“ Wir liefen zum nächsten S-Bahnhof Yorckstraße, stiegen Friedrichstraße um und fuhren bis zum Bahnhof Wedding. Dort folgte ich Klärchen durch einige Straßen, bis wir vor einem Haus standen, das recht verwahrlost aussah. „Miete is eben billig. Wenn sie erstmal anfangen zu renovieren, ekeln sie dich gleich raus.“ Wir stiegen drei Treppen hoch und Klärchen öffnete mir die Tür. Wir standen in einem kleinen Flur, von dem Küche und Bad abgingen. Am Ende blickte man in ein Zimmer mit Hochbett. Darunter stand ein Sofa. „Kann man ausziehen. Da kannst du schlafen.“ Ich zog meinen Mantel aus. Klärchen prustete los: „Wie siehst du denn aus?“ „Hab ich in einem Hotel geklaut, wo ich duschen war. Meine alten Sachen hab ich weggeschmissen, war eh nur ein altes Nachthemd.“

„Okay, willst du noch was trinken?“ Ich nickte. „Ne Flasche Rotwein hab ich noch offen.“ Klärchen holte zwei Gläser und wir tranken die angebrochene Flasche leer. Er schmeckte wesentlich besser als der Dornfelder oder der Sangria von Aldi im Tunnel. Ich zögerte und sagte dann: „Aber du denkst jetzt nicht an ...“ Klärchen rubbelte mir die Haare und meinte nur: „Keine Sorgen.“

Ich zog mein Kleid aus, wickelte mich in die Gästedecke von Klärchen und versuchte den Tag zu vergessen, nicht den Abend. Als Klärchen über mir im Hochbett lag, sagte ich noch schläfrig nach oben: „Wie heißt du'n eigentlich wirklich?“ Seine Antwort hörte ich schon nicht mehr.

Als ich aufwachte und auf eine Uhr an der Wand schaute, war es drei Uhr nachmittags. Ich hatte volle 15 Stunden geschlafen. In der Küche fand ich einen Zettel: „Lauf nicht weg. Nimm, was du möchtest. Ich komm gegen Abend. Max.“ Ich ging erst noch einmal duschen. Wer weiß, wie lange ich den Komfort noch hatte. Zu kochen und herumzukramen hatte ich keine Lust. Ich zog mich wieder als Zimmermädchen an, schlüpfte in meinen Mantel, setzte Mütze und Sonnenbrille auf und ging auf die Straße. Einen Schlüssel hatte Klärchen mir hingelegt. Zwei Häuser weiter war ein türkischer Bäcker, der Kaffee anbot. Ich kaufte mir einen Pott Kaffee und zwei Hörnchen, die ich andächtig verzehrte. Die junge Türkin am Tresen schenkte mir noch ein Rosinenbrötchen, als sie merkte, dass ich nicht satt wurde. Ob es in der Nähe ein Kaufhaus oder einen Klamottenladen gebe, fragte ich sie. Sie erklärte mir den Weg zu einer C&A-Filiale. Dort versorgte ich mich mit Unterwäsche, Sweatshirts und Schal. Bei einem Friseur ließ ich mir die Haare kurz schneiden. Auf dem Rückweg kaufte ich mir eine Zeitung und eine große Flasche Mineralwasser. Im Lokalteil stand etwas über den letzten Fund eines toten Mädchens: „Immer noch keine Spur – wer war das tote Mädchen?“ Sie zeigten ein Bild der toten Emilia und eine Telefonnummer für „sachdienliche Hinweise“. Ich griff zum Telefon, legte den Hörer aber gleich wieder hin. „Viel zu gefährlich, warnte mich eine Stimme. Du weißt doch gar nicht, ob sie nicht Leute bei der Polizei haben.“ Das war sogar ziemlich wahrscheinlich. Sicher gab es frömmelnde Bullen, gerade weibliche. „Was für ein Quatsch!“, sagte eine andere Stimme. „Glaubst du, die verfolgen dein Gespräch zurück? Das ist doch keine Entführung! Und irgendwann musst du die Bullen anrufen. Die wissen doch gar nicht, dass da noch mehr Menschen eingesperrt sind und in Lebensgefahr schweben. Die wissen eigentlich überhaupt nichts.“ Am Nachmittag regte sich wieder der Hunger. Ich ging noch einmal los und kaufte eine Packung Spaghetti und ein Glas Tomatensauce mit Kräutern und einen Kopf Salat. In der Wohnung fing ich an zu kochen und vertilgte schon einmal eine mächtige Portion. Für Klärchen ließ ich etwas übrig. Als er am Abend kam, hatte ich mich längst umgezogen und sah fast aus wie eine normale Zwanzigjährige. Klärchen staunte Bauklötzer, als er mich sah. „Hey, bist du's wirklich, äh...wie heißt du eigentlich? Ich hab dich gestern noch gefragt, aber du hast schon gepennt.“

„Meinen richtigen, bürgerlichen Vornamen weiß ich gar nicht mehr. Wir Sektenkinder kriegen immer neue Namen. Ich wurde „Circea“ genannt.“ Max-Klärchen schüttelte den Kopf. „Das ist eine Pflanze: das gemeine Hexenkraut, circaea lutetiana. Kommt wohl von der griechischen Circe.“ „Woher hast du das, Klärchen?“ „Bio-Leistungskurs und Interesse für Kräuter. Was dagegen, wenn ich dich Zea nenne? So komm ich um Circe herum, und wie eine Verführerin wirkst du nicht gerade, obwohl man in deine grünen Augen echt reinstürzen kann.“ Ich musste lächeln, so ein Kompliment hatte ich noch nie gehört, und in meinem Bauch fing es an zu kribbeln. Dann wirtschaftete ich am Herd herum und präsentierte ihm einen Teller mit Nudeln und ein Schälchen Salat. „Bitte sehr, die Hexe hat gekocht!“ Er gab mir einen Kuss auf die Wange, was meinen Herzschlag auf einmal vervielfachte. Dann setzte er sich und mampfte. Zwischendrin sagte er: „Findest du nicht, du solltest bei den Bullen anrufen? Die wissen doch gar nicht, was da läuft.“

„Ich trau mich noch nicht. Vielleicht legen sie mich rein und liefern mich aus.“ „Wem denn? Erzähl doch mal!“

„Nee, lieber nicht, ich mag nicht daran denken, sonst steck ich wieder mitten in der Angst.“

Wir plauderten noch lange weiter. Klärchen erzählte von seinem Pharmaziestudium und dass er in einer Apotheke aushelfe. Irgendwann hielt er mir den Telefonhörer hin und sagte: „Los, nun probier's doch mal.“ Ich seufzte, schaute in die Zeitung nach der Nummer und wählte. Nach einigen Klingeltönen wurde abgenommen und eine etwas müde Frauenstimme sagte: „Landeskriminalamt Lehndorf, was kann ich für Sie tun?“

Der Gotteswagen

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